Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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2. Gesellschaftstheorie: Das Problem der Stabilität kollektiven Handelns

Die ‚Logik‘ kollektiven Handelns fragt aus Sicht der Gruppenmitglieder nach den Problemen, die bei der Realisierung eines gemeinsamen Gruppeninteresses auftreten können, sie identifiziert mit Gruppengröße und Gruppenzusammensetzung wichtige Einflussfaktoren dieser Probleme, und sie zeigt auf, inwiefern – positive oder negative – selektive Anreize eine Problemlösung liefern können. Mit ihrer Anreiz-Perspektive eröffnet die ‚Logik‘ den Zugang zu einer ökonomischen Rekonstruktion beispielsweise der Gewerkschaftsbewegung. Sie lässt die – für eine Solidaritätsbewegung an sich befremdliche – Anwendung von Zwang und Gewalt, aber auch die Einrichtung von ‚closed shops‘ und anderen Formen einer Mitgliedschaftspflicht als Versuche zur Mobilisierung kollektiven Handelns verständlich werden.[67]

Solche Einsichten sind gesellschaftstheoretisch relevant, aber gewonnen werden sie nicht aus einer Gesellschaftstheorie, sondern aus einer Gruppentheorie. Erst in seinen späteren Schriften – hier interpretiert als Teil II des Gesamtwerks – hat Olson versucht, aufbauend auf seiner ‚Logik‘ eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Dabei ist gerade unter methodologischen Gesichtspunkten besonders interessant, dass diese Entwicklung auf einer Erweiterung, ja geradezu auf einer Umkehrung der gruppentheoretischen Fragestellung beruht. Hatte sich die (gruppentheoretische) ‚Logik‘ i.e.S. aus Sicht der Gruppenmitglieder mit den Schwierigkeiten bei der Organisation kollektiven Handelns beschäftigt, so rückt die nunmehr gesellschaftstheoretische ‚Logik‘ i.w.S. jene Schwierigkeiten ins Zentrum der Betrachtung, die sich – vor allem für Nicht-Mitglieder der Gruppe – ergeben, wenn es immer mehr Gruppen gelingt, die gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder wirksam zu verfolgen. Da diese Interessen unter Umständen auf Kosten Dritter verwirklicht werden, thematisiert die gesellschaftstheoretische ‚Logik‘ i.w.S. als paradigmatisches Problem – nicht die Instabilität, sondern gerade umgekehrt – die Stabilität kollektiven Handelns. Hierbei interessiert sich Olson insbesondere für die Frage, inwiefern Verteilungskoalitionen die Funktionsweise von Märkten beeinträchtigen. In gewisser Weise nimmt er dadurch das Thema der ökonomischen Klassiker teilweise wieder auf, vgl. Abbildung 5.[68]

|51|Olsons gesellschaftstheoretische Wendung der Gruppentheorie führt zu zahlreichen interessanten Überlegungen und Thesen. Seine Kernthese zum Niedergang von Nationen resultiert aus einer Kombination folgender Tendenzaussagen – vgl. Olson (1982, 1985; Kapitel 3, S. 46–98): (a) Die Organisation kollektiven Handelns braucht i.d.R. Zeit, und sie fällt (b) kleinen Gruppen systematisch leichter als großen. (c) Daher akkumulieren stabile Gesellschaften im Laufe der Zeit zwar immer mehr Organisationen, doch gibt es hinsichtlich der Interessenvertretung eine dauerhafte Asymmetrie zugunsten kleiner Gruppen. (d) Die Verteilungskoalitionen unter diesen Organisationen beeinträchtigen die statische und dynamische Effizienz der Gesellschaft; sie behindern die marktliche Allokation knapper Güter und Faktoren, und sie verringern die Anpassungsfähigkeit von Wirtschaft und Politik, zum Nachteil letztlich aller Bürger der Gesellschaft.

Abbildung 5:

Die gesellschaftstheoretische Fragestellung

Diese Kernthese identifiziert einen Quasi-Automatismus zum Niedergang stabiler Gesellschaften. Deren Misserfolg ist um so größer, je erfolgreicher sich Verteilungskoalitionen zu kollektivem Handeln organisieren können.[69] Mit Hilfe dieser gesellschaftstheoretischen (positiven) These lassen sich zahlreiche gesellschaftspolitische (normative) Empfehlungen generieren. Olsons gesellschaftspolitische Kernaussagen lauten: (a) Gegenüber Interessengruppen ist eine Politik des Laisser-faire nicht opportun. Eine im Interesse aller Bürger auf Dauer erfolgreiche Gesellschaft bedarf daher (b) einer Anti-Kartellpolitik im Bereich der Wirtschaft und (c) einer analogen Politik in den übrigen ‚Bereichen‘ der Gesellschaft. (d) Ein (vorübergehend) wirksames Mittel, um den negativen Einfluss von Verteilungskoalitionen möglichst gering zu halten, ist die wirtschaftliche und/oder politische Integration. Sie erhöht die Gruppengröße, verschärft damit das Trittbrettfahrerproblem und erschwert so potentiellen Verteilungskoalitionen die Organisation kollektiven Handelns.

|52|Um die vorgeschlagene Lesart zu stützen, werden im folgenden drei Beispiele näher betrachtet. Das erste Beispiel illustriert Olsons gesellschaftstheoretische Wendung der Gruppentheorie. Das zweite Beispiel wendet die ‚Logik‘ i.w.S. auf entwickelte, das dritte auf unterentwickelte Gesellschaften an.

(1) Gäbe es in einer wettbewerblich verfassten Gesellschaft nur Spotmärkte, so wären Mengen und Preise unendlich flexibel. Beim Auftreten unerwarteter Schocks würden sie sofort auf ihre neuen Gleichgewichtswerte hin angepasst. Die in der Realität zu beobachtenden Reaktionsgeschwindigkeiten sind im allgemeinen deutlich geringer, und zudem lässt sich empirisch feststellen, dass auf vielen Märkten die Mengen schneller als die Preise reagieren. Die Theorie erklärt dies vor allem damit, dass die Interaktionspartner auf realweltlichen Märkten nicht nur vollständige Spotmarktverträge, sondern auch unvollständige – implizite und/oder relationale – Verträge wählen, um innerhalb solcher ‚Umrahmungen‘ wechselseitig vorteilhafte Tauschgeschäfte abzuschließen. Da es i.d.R. kostspielig ist, solche Verträge an unvorhergesehene Ereignisse anzupassen, erklären sich die verzögerten Preisreaktionen als nicht-intendiertes Resultat intentionaler Handlungen. Mancur Olson (1982, 1985; S. 266–269) ergänzt dieses Erklärungsmuster um folgende unorthodoxe Überlegung: Auf Märkten äußern sich Verteilungskoalitionen als Kartelle. Kartelle stehen vor der Wahl, die angestrebte Wettbewerbsbeschränkung entweder in Form einer Preisfestsetzung oder in Form einer Mengenfestsetzung vorzunehmen. Im ersten Fall muss für jedes Gruppenmitglied ein individuelles Kontingent vereinbart werden. Solche Vereinbarungen sind besonders konfliktträchtig, und zudem ist es schwer, ihre Einhaltung zu überwachen. Im zweiten Fall ist lediglich ein für alle Gruppenmitglieder einheitlicher Preis zu vereinbaren. Wie sich zu diesem Preis die Nachfrage auf die einzelnen Kartellmitglieder verteilt, kann man dem Markt, also einem anonymen ‚Mechanismus‘, überlassen. Da sich so Konflikt- und Kontrollkosten einsparen lassen, werden Kartelle – ceteris paribus – das Mittel der Preisfestsetzung präferieren.

Eine weitere Überlegung kommt hinzu: Ein rationaler Monopolist müsste auf positive und negative Schocks symmetrisch reagieren, um jeweils seinen Gewinn zu maximieren. Bei rationalen Kartellmitgliedern hingegen sagt die ‚Logik‘ voraus, dass sie asymmetrisch reagieren werden, und zwar aufgrund von Entscheidungskosten, die bei einem Monopolisten nicht anfallen. Bei Auftreten eines negativen Schocks müsste ein Anbieterkartell erst neue Verhandlungen aufnehmen, um den im gemeinsamen Gruppeninteresse liegenden niedrigeren – im Fall eines Nachfragerkartells: höheren – Kartellpreis zu vereinbaren. Bei Auftreten eines positiven Schocks jedoch kann jedes Mitglied einen höheren – im Fall eines Nachfragerkartells: niedrigeren – Preis wählen, ohne die anderen Gruppenmitglieder dadurch zu schädigen. Mit Hilfe der plausiblen Zusatzannahme, dass es in einer Wirtschaft üblicherweise mehr Anbieter- als Nachfragerkartelle gibt, liefert Olson mit seiner ‚Logik‘ nicht nur einen Erklärungsbeitrag, warum Preise im Vergleich zu Mengen generell inflexibel sind, sondern er erklärt auch, warum generell inflexible Preise eher aufwärts als abwärts flexibel sind. Hieraus lässt sich die geldpolitische Implikation ableiten, dass Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung „stetig und allmählich durchgeführt werden sollten“ – Olson (1982, 1985; S. 304) –, um den Kartellen Zeit für die Anpassung ihrer Preissetzungsentscheidungen |53|zu lassen. Der Glaubwürdigkeit und Transparenz der Geldpolitik kommt aus dieser Perspektive ein hoher Stellenwert zu, weil sie die (antizipative) Reaktion von Kartellen beschleunigt.

(2) Aus der ‚Logik‘ i.w.S. entwickelt Olson eine Erklärung von Massenarbeitslosigkeit und Stagflation, mit der er sich in der Theoriedebatte wie folgt positioniert: Als Argumentationsaufriss wählt er eine Gegenüberstellung von Keynesianern einerseits und neuklassischen Monetaristen andererseits, derzufolge erstere zwar unfreiwillige Arbeitslosigkeit, nicht jedoch das gleichzeitige Auftreten von Stagnation und Inflation erklären können, während letztere zwar Stagflation, nicht jedoch unfreiwillige Arbeitslosigkeit erklären können. Zwischen beiden makroökonomischen ‚Lagern‘ nimmt Olson im Wege einer mikroökonomischen Fundierung vermittelnd Stellung.[70]

Zur Erklärung unfreiwilliger Arbeitslosigkeit stellt Olson die – von der traditionellen Makroökonomik vernachlässigte – Frage, inwiefern sich Arbeitslosigkeit, d.h. das Nicht-Zustandekommen wechselseitig vorteilhafter Tauschverträge zwischen den Anbietern und Nachfragern von Arbeit, als nicht-intendiertes Resultat intentionaler Handlungen erklären lässt. Wohlgemerkt: Olson fragt nicht – wie für Verschwörungstheorien typisch –, wer ein Interesse an Arbeitslosigkeit haben könnte, sondern er fragt, wer – angesichts bestimmter Anreize – ein Interesse haben könnte, sich so zu verhalten, dass dabei Arbeitslosigkeit als unbeabsichtigtes Nebenprodukt entsteht. Mit dieser forschungsleitenden Frage wird die Perspektive auf Kartelle der Arbeitsanbieter fokussiert. In dem Maße, wie sich beschäftigte Arbeitnehmer durch kollektives Handeln mit überhöhten Löhnen versorgen können, werden sie zu einer Verteilungskoalition zu Lasten derer, die zu diesen überhöhten Löhnen keine Beschäftigung mehr finden. Das gleiche Argument gilt auch für übermäßige Regulierungen wie beispielsweise einen übertriebenen Kündigungsschutz, aufgrund dessen Unternehmer vor Neueinstellungen zurückschrecken.[71]

 

Mit diesem Argument lassen sich Thesen über die Struktur von Arbeitslosigkeit generieren. Die ‚Logik‘ sagt voraus, dass sich die Arbeitsanbieter nicht in allen Sektoren gleich gut zu kollektivem Handeln organisieren können, mit entsprechenden Folgen für Lohnhöhe, Lohnflexibilität und Regulierungsdichte. Ferner folgt aus der ‚Logik‘, dass hoch qualifizierte Arbeitslose durch die Inkaufnahme von Lohneinbußen wieder in den Arbeitsmarkt eintreten können, während niedrig qualifizierten Arbeitslosen diese Option i.d.R. nicht offensteht, sei es, weil sie sich durch gesetzliche oder tarifliche Mindestlöhne an einer Reintegration gehindert sehen, sei es, weil die – etwa aufgrund von Überregulierung – erforderlichen Einstiegslöhne unterhalb legaler oder illegaler Alternativeinkommen liegen. Dies erklärt, warum insbesondere schlecht qualifizierte Arbeitnehmer von dauerhafter Arbeitslosigkeit betroffen sind.

|54|Während Olson in dieser mikroökonomisch fundierten Erklärung eine Ergänzung der monetaristischen Position sieht, deren makroökonomische Theorie dem Phänomen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit verständnislos gegenüberstand, weil nicht gesehen wurde, wie eine ökonomische Erklärung unter Beibehaltung der Rationalitätsannahme zu leisten wäre, sieht Olson in seiner Analyse von Verteilungskoalitionen einen Erklärungsbeitrag zum Phänomen der Stagflation, der die keynesianische Position bereichert. Auch diese Bereicherung nimmt die Form einer mikroökonomischen Fundierung an: Wo die keynesianische Makroökonomik Ad-hoc-Annahmen über starre Löhne und Preise trifft, bietet Olsons ‚Logik‘ i.w.S. eine Erklärung mittels Anreizen an, eine Erklärung, die auf die Zunahme kollektiven Handelns durch Verteilungskoalitionen abstellt, auf Arbeitnehmerkartelle hinsichtlich der Löhne und auf Unternehmenskartelle hinsichtlich der Preise für Güter und Dienstleistungen. Die Folge ist nicht nur, dass das gleichzeitige Auftreten von Arbeitslosigkeit und Inflation, für das in den Kategorien der traditionellen keynesianischen Theorie kein Platz vorgesehen war, nun im Rekurs auf die ‚Logik‘ verständlich wird, sondern auch, dass nun Thesen über die Struktur von Stagflationsphänomenen systematisch generiert werden können.[72]

Diese mikroökonomisch integrative Sicht führt zu mehreren Politikvorschlägen, die institutionellen Reformen ein besonderes – und für makroökonomische Theorien unüblich großes – Gewicht beimessen.[73] Hier sei nur einer dieser Vorschläge herausgegriffen, und zwar deshalb, weil er aufgrund der Aktualität des Arbeitslosigkeitsproblems von besonderem Interesse ist.[74] Olson (1982, 1985; S. 305) schlägt vor, auf die Anreize der Tarifparteien im Lohnfindungsprozess wie folgt Einfluss zu nehmen:

„Wenn die natürliche Rate der Arbeitslosigkeit unnatürlich hoch ist, kann sie durch Sondersteuern auf jene Unternehmen etwas verringert werden, die die Löhne um einen größeren Prozentsatz erhöhen, als er, sagen wir, der erwarteten Produktivitätserhöhung in der Wirtschaft insgesamt entspricht. Falls sie politisch besser durchsetzbar ist, bestünde eine Alternative darin, den Unternehmen eine Subvention zu geben, die sich jedoch verringert, wenn sie eine derartige Lohnerhöhung gewähren. Das wird der Firma einen Anreiz geben, eine geringere Lohnerhöhung auszuhandeln, und wenn sie das erreicht hat, einen Anreiz, mehr Arbeiter als geplant einzustellen, wodurch sie die Arbeitslosigkeit verringert.“

(3) Olson legt großen Wert auf die allgemeine Anwendbarkeit seiner ‚Logik‘ i.w.S. So diskutiert er zahlreiche Beispiele nicht nur im zeitlichen Längsschnitt, sondern auch im sozialen Querschnitt verschiedener Gesellschaften.[75] Über die |55|spezifischen Probleme von Entwicklungsländern leitet Olson folgende Tendenzaussagen ab.[76]

Erstens ist in diesen Ländern hinsichtlich der Stabilität kollektiven Handelns mit einer Asymmetrie zwischen Stadt und Land zu rechnen. Hohe Transport- und Kommunikationskosten machen es der Landbevölkerung wesentlich schwerer, ihre Interessenvertretung zu organisieren, während dies den Bewohnern der Städte vergleichsweise leichter fällt. Schon aufgrund ihrer räumlichen Nähe zur Regierung können diese sehr viel leichter politischen Druck ausüben. So entstehen Verteilungskoalitionen, die sich mit Privilegien versorgen, zumeist auf Kosten der Landbevölkerung. Ein typisches Beispiel hierfür sind Höchstpreise für Agrarprodukte, mit denen die Lebenshaltung in der Stadt subventioniert wird. Aus dieser Perspektive erscheint das für viele Entwicklungsländer typische Phänomen massenhafter Landflucht als ein letztlich politisch induziertes Problem regionalen ‚Rent-Seekings‘.

Zweitens ist in Entwicklungsländern hinsichtlich der politischen Einflussmöglichkeiten auch mit einer Asymmetrie zwischen Reich und Arm zu rechnen. Reichen Gruppen fällt es vergleichsweise leichter, sich Privilegien zu verschaffen. Diese Perspektive wirft neues Licht auf die insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren weit verbreitete und teilweise noch heute praktizierte Politik der Importsubstitution. Sie schützt eine relativ kapitalintensive Inlandsproduktion, deren Rendite künstlich erhöht wird. Die Kosten einer solchen Politik bestehen in einer Verteuerung der Exporte. Da solche Exporte i.d.R. auf den komparativen Vorteilen einer arbeitsintensiven Produktion beruhen, sind es vornehmlich Arbeiter und Bauern, d.h. die großen Gruppen der Armen, die die Kosten einer die wenigen Reichen begünstigenden Protektion tragen.

Beide Aussagen sind insofern gesellschaftstheoretisch gewendete Anwendungsfälle der gruppentheoretischen ‚Logik‘ i.e.S., als sie auf der These beruhen, dass kleine Gruppen sich leichter organisieren können als große Gruppen. Von daher führt die ‚Logik‘ zu einem zusätzlichen Argument zugunsten von Freihandel sowie wirtschaftlicher und/oder politischer Integration: Solche Maßnahmen erhöhen die potentielle Gruppengröße. Sie erschweren die Organisation von Verteilungskoalitionen. Sie erhöhen also nicht nur – durch größere Spezialisierungsvorteile – die Tauschmöglichkeiten, sondern sie erhöhen auch – durch die Erschwerung kollektiven Handelns – die Wahrscheinlichkeit, dass Tauschpartner ‚gains from trade‘ tatsächlich aneignen können.

Eine weitere Pointe dieser Perspektive besteht darin, dass sie das Zustandekommen historischer Integrationsprozesse vornehmlich als nicht-intendierte Konsequenz intentionalen Handelns rekonstruiert, und zwar gerade aufgrund des immensen Vorteilspotentials, das sich den Bürgern durch Integration eröffnet und dem der Charakter eines öffentlichen Gutes zukommt.[77]

|56|3. Staatstheorie: Das Problem eines mehr oder weniger umfassenden Interesses

In der Sekundärliteratur ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der von Olson gewählte Titel „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ insofern irreführend ist, als Olson hier vornehmlich mit dem durch Verteilungskoalitionen hervorgerufenen Niedergang von Nationen befasst ist.[78] Mit dem Aufstieg von Gesellschaften hat sich Olson eigentlich erst in seinen jüngsten Schriften intensiv beschäftigt, die hier als Teil III seines Gesamtwerks interpretiert werden. In diesen Schriften nimmt Olson eine komparative Analyse politischer Regimes vor. Er vergleicht autokratische und demokratische Arrangements, und zu diesem Zweck entwickelt er eine Stufentheorie staatlicher Herrschaft.

(1) Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass sowohl wirtschaftliche als auch politische Leistungen von Anreizen abhängen, und dass diese Anreize durch Eigentumsrechte gesetzt werden. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Olson drei politische Regimes: die Anarchie, die Autokratie und die Demokratie. (a) Kennzeichen der Anarchie ist eine ruinöse (politische) Konkurrenz, illustriert am Beispiel marodierender Räuberbanden im China der 1920er Jahre. Olson (1993a; S. 568) spricht von „uncoordinated competitive theft by ‚roving bandits‘“. Solche Räuberbanden, die davon leben, Bauern und Händler zu enteignen, (zer-)stören deren Eigentumsrechte und damit die wirtschaftlichen Anreize zu gesellschaftlicher Produktivität. (b) Kennzeichen der Autokratie ist ein (politisches) Monopol, illustriert am Beispiel sesshafter Räuber, deren territoriale Herrschaft die ruinöse Konkurrenz abschafft und durch verlässliche, erwartungssichere Ausbeutungsverhältnisse ersetzt. Olson (1993a; S. 567) sieht im Autokraten einen „‚stationary bandit‘ who monopolizes and rationalizes theft in the form of taxes“. Autokraten leben davon, die Bevölkerung dauerhaft auszubeuten. Deshalb ist der Übergang von Anarchie zu Autokratie damit verbunden, maximale Ausbeutung durch optimale Ausbeutung zu ersetzen. Bildlich gesprochen, füttert der Autokrat die Kuh, bevor er sie melkt.[79] (c) Kennzeichen der Demokratie ist, dass die Regierungsgewalt an mehrheitliche Bürgerzustimmung gekoppelt ist. In einem solchen System sind der Ausbeutung noch wesentlich engere Grenzen gesetzt als in der Autokratie. Selbst wenn auch hier durchgängig eigeninteressierte Akteure unterstellt werden, müssen die Kandidaten oder Parteien um die Zustimmung der Wähler werben und können daher ihr eigenes Wohl nur dadurch fördern, dass sie das Wohl der Bevölkerung zumindest teilweise mitberücksichtigen.

Für Olson ist der entscheidende Unterschied zwischen den drei Regimes institutioneller Natur. Er besteht in der Qualität politischer Eigentumsrechte. (a) In der Anarchie haben Herrscher ungesicherte Eigentumsrechte. Von einer solchen Konstellation gehen starke Konsum-, nicht jedoch Investitionsanreize aus. Solche Herrscher haben kein umfassendes Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft, weil sie sich die Erträge von Investitionen in dieses Wohlergehen |57|nur unzulänglich aneignen können. Würde sich einer bei der Ausbeutung der Bevölkerung zurückhalten, so käme dies einem positiven externen Effekt gleich, von dem vor allem seine Konkurrenten profitierten, die um so größere Beute machen könnten. Die Folge ist politisches Trittbrettfahren. (b) In dem Maße, wie es einem Autokraten gelingt, politische Konkurrenz auszuschalten, herrschen sichere Eigentumsrechte. Im Vergleich zur Anarchie sind also in der Autokratie positive externe Effekte internalisiert. Der Autokrat kann sich die Erträge aus Investitionen in die Produktivität der Gesellschaft aneignen, weil diese Gesellschaft ihm quasi gehört. Als Monopolist hat er ein wesentlich umfassenderes Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft. Er nimmt nicht nur, er gibt auch; allerdings gibt er nur, um letztlich mehr nehmen zu können. Aber immerhin: Ein Autokrat sorgt mit seinem Gewaltmonopol für öffentliche Ordnung, und darüber hinaus stellt er weitere öffentliche Güter bereit, und zwar so lange, bis aus seiner individuellen Sicht Grenznutzen und Grenzkosten zum Ausgleich gebracht sind. (c) Im Gegensatz zur Autokratie ist die Erwerbung und Ausübung politischer Herrschaft in der Demokratie Regeln unterworfen. Hier sind die Eigentumsrechte der Regierung durch verfassungsmäßige Schranken begrenzt. Zudem ist die Regierung stark an den Willen des Volkes gebunden. Da allerdings i.d.R. die Mehrheit ausreicht, um Regierungsgewalt zu erlangen, fällt das Interesse einer demokratischen Regierung zwar nicht mit dem umfassenden Interesse aller Bürger zusammen, aber es ist doch signifikant umfassender als das Interesse des Autokraten am Wohlergehen der Gesellschaft.

Für Olson wird damit der – ursprünglich gesellschaftstheoretische – Begriff des mehr oder weniger „umfassenden Interesses“ zum terminus technicus, der den staatstheoretisch entscheidenden Parameter bezeichnet, von dem die Leistung politischer Regimes abhängt. Interpretiert man Anarchie als das Resultat einer Gruppe konkurrierender Herrschaftsanwärter, die sich nicht zu kollektivem Handeln organisieren können (Quadrant II), Autokratie als eine Herrschaftselite, die sich als kleine Gruppe – metaphorisch: als Autokrat – organisiert (Quadrant III), und Demokratie als das Resultat einer Mehrheitskoalition (Quadrant IV), so lässt sich die grundlegende Fragestellung der Olsonschen Staatstheorie mit Hilfe von Abbildung 6 illustrieren. Sie fragt nach dem umfassenden Interesse unterschiedlicher Herrschaftskoalitionen.

Abbildung 6:

Die staatstheoretische Fragestellung

|58|Aus dieser staatstheoretisch gewendeten ‚Logik‘ folgen zwei grundlegende Tendenzaussagen: Die erste besagt, dass es der Bevölkerung um so besser geht, je umfassender das Interesse der Regierung ist. Die zweite besagt, dass dieses Interesse in der Autokratie umfassender ausfällt als in der Anarchie und dass es in der Demokratie noch umfassender ausfällt als in der Autokratie.

 

Diese Tendenzaussagen stützen sich im Kern auf folgende Überlegungen – vgl. Abbildung 7 in Anlehnung an Olson (1991c): Ein rationaler, eigeninteressierter Autokrat betreibt Steuermaximierung. Er wählt den Maximalpunkt B der Laffer-Kurve LA. Die Lage dieser Kurve hängt teilweise von der Verwendung des Steueraufkommens ab, also davon, wieviel Geld der Autokrat für die Aufrechterhaltung seines Regimes oder für öffentliche Güter oder für eigene Konsumzwecke ausgibt. Da öffentliche Güter die Produktivität des Marktsektors – und mithin die Bemessungsgrundlage der Besteuerung – erhöhen, wird ein Autokrat diese Güter so weit bereitstellen, wie dies in seinem eigenen Interesse liegt. Er wird also jenes Bereitstellungsniveau wählen, bei dem die Grenzausgaben seinen steuerlichen Grenzeinnahmen gerade entsprechen.

Abbildung 7:

Autokratie versus Demokratie

Im Unterschied zur Autokratie erfolgt in einer Demokratie die staatliche Umverteilung nicht zugunsten einer kleinen Gruppe – im metaphorischen Extremfall: zugunsten eines einzelnen –, sondern zugunsten einer großen Gruppe, der Mehrheitskoalition. Dieser für Olsons staatstheoretische ‚Logik‘ zentrale Unterschied macht sich in zweierlei Weise bemerkbar: zum einen in einer Verlagerung der Lafferkurve nach links oben (LD), zum anderen in der Wahl eines Optimalpunkts links vom Maximum in Punkt C. Der zwingende Grund hierfür liegt darin, dass die Mehrheit der Bürger – im Gegensatz zu einem Autokraten – ihr Einkommen nicht nur aus Steuereinnahmen bezieht, d.h. nicht nur als Umverteilungseinkommen, sondern zum Teil auch als Markteinkommen. Deshalb fallen die Wahlentscheidungen der Mehrheit systematisch anders aus als die des Autokraten, der schlicht seine Steuereinnahmen maximiert.

|59|Dies betrifft zum einen die Verwendung der Steuern: Anders als ein Autokrat, profitiert die Mehrheit von der Bereitstellung öffentlicher Güter nicht nur indirekt, in Form höherer Steuereinnahmen, die das Umverteilungseinkommen steigen lassen, sondern auch direkt, in Form einer höheren Produktivität ihrer Marktaktivitäten. Dieser Effekt ist für die Verlagerung der Laffer-Kurve auf LD verantwortlich.[80] Zum anderen betrifft der Unterschied die Wahl des Steuersatzes. Gerade weil die Mehrheit nicht nur Umverteilungseinkommen erzielt, sondern auch Markteinkommen, liegt es in ihrem Interesse, das Gesamteinkommen zu maximieren. Ausgehend von Punkt C auf der Laffer-Kurve LD profitiert die Mehrheit, wenn niedrigere Steuersätze gewählt werden, weil den sinkenden Steuereinnahmen zunächst größere Markteinkommen aufgrund geringerer Fehlanreize gegenüberstehen. Die zentrale Tendenzaussage, die aus diesen Überlegungen resultiert, lautet in Olsons (1993a; S. 570) eigenen Worten:

„Though both the majority and the autocrat have an encompassing interest in the society because they control tax collections, the majority in addition earns a significant share of the market income of the society, and this gives it a more encompassing interest in the productivity of the society. The majority’s interest in its market earnings induces it to redistribute less to itself than an autocrat redistributes to himself.“[81]

(2) Aus diesen staatstheoretischen Überlegungen lassen sich nicht nur komparative Erkenntnisse, sondern auch verfassungspolitische Schlussfolgerungen ableiten. Zu den komparativen Erkenntnissen gehört, dass der Zeithorizont einer Regierung für ihr tatsächliches Verhalten von entscheidender Bedeutung ist. So besteht eine zentrale Schwäche autokratischer Regimes in dem notorisch ungelösten Problem der Nachfolgeregelung, dessen Lösung hingegen erforderlich ist, um den Zeithorizont eines Autokraten über seine eigene Lebenserwartung hinaus zu verlängern. In Demokratien ist dieses Problem sogar noch akuter, weil hier die Regierungszeit auf Legislaturperioden künstlich begrenzt wird. Demokratien verfügen jedoch über einen institutionellen Problemlösungsmodus, der diesen vermeintlichen Nachteil überkompensieren kann. Hier übernehmen politische Parteien nicht nur die Auswahl der Politiker, sondern auch die Kontrollfunktion innerhalb der Wahlperiode. Als Organisationen orientieren sie sich dabei an ihrem eigenen langfristigen Interesse. Die Analogien zum Unterschied |60|zwischen einer Personalunternehmung (Autokratie) und einem Gesellschaftsunternehmen (Parteiendemokratie) sind augenfällig und erklären die überlegene Funktionsweise demokratischer Regimes.

Eine verfassungspolitische Schlussfolgerung der staatstheoretischen ‚Logik‘ wird von Olson selbst explizit gezogen – vgl. etwa Olson (1995; S. 25): Wenn die Bürger um so besser gestellt sind, je umfassender das Interesse ihrer Regierung am Wohlergehen der gesamten Gesellschaft ist, dann lässt sich ein Vorteil des Mehrheitswahlrechts gegenüber dem Verhältniswahlrecht ableiten. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt die Herausbildung zweier großer Parteien und ermöglicht damit eine Regierungsbildung ohne Koalitionen, d.h. ohne die Beteiligung kleinerer Parteien, die unter Umständen nur der Organisation sehr kleiner Verteilungskoalitionen dienen und folglich auf Kosten der Allgemeinheit höchst partikuläre Sonderinteressen vertreten.