Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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|38|3. Resümee

Worin liegt der Beitrag, den das Werk James Buchanans zu den theoretischen Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik leistet? Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie man das Werk liest. Die hier vorgeschlagene Lesart, die dezidiert methodische Fragen des Theoriedesigns betont und Buchanans Bemühungen um Konzeptualisierungen, um kategoriale Umstellungen, um diskursive Strukturierungen, um konstruktive Argumentationsaufrisse hervorhebt, gelangt dabei zu folgender Antwort: Die nachhaltige Bedeutung des Werks James Buchanans liegt darin begründet, dass es einen Weg theoretisch aufzeigt und praktisch beschreitet, auf dem die Ökonomik für normative Fragestellungen so geöffnet werden kann, dass sich Normativität als hypothetische Normativität im eigentlichen Sinne des Wortes ‚wertfrei‘ prozessieren lässt. Die Erklärungskraft des ökonomischen Ansatzes kann damit umgesetzt werden in intellektuelle Orientierungsleistungen, die die Wahrnehmung politischer Konfliktlagen verändern.[51]

Beispielsweise liegt die eigentliche Pointe der Unterscheidung zwischen Rechtsschutzstaat und Leistungsstaat darin, dass diese Unterscheidung hinfällig wird, weil sich beide Arten staatlicher Tätigkeit im Kern auf dasselbe Argument stützen: In beiden Fällen handelt es sich um Einrichtungen kollektiver Tauschakte, die so ausgestaltet werden können, dass sie allen Bürgern nützlich sind. Mit dieser Idee ist libertären Minimalstaatsvorstellungen von vornherein jede konzeptionelle Grundlage entzogen. Sie hängen – bildlich gesprochen – in der Luft. Für nicht unbeträchtliche Teile einer ihrem Selbstverständnis nach liberalen Ökonomik bedeutet das, sich von der normativen Vorgabe verabschieden zu müssen, einseitig nach Wegen zur Eindämmung staatlicher Tätigkeiten zu suchen, wenn sie – um im Bilde zu bleiben – (wieder) Bodenhaftung gewinnen will. Hier steht nichts Geringeres auf dem Spiel als ihre Politikfähigkeit, d.h. ihre Fähigkeit, Reformvorschläge zu entwickeln, die den Anschluss an die realen Probleme realer Bürger und damit letztlich auch Gehör in der demokratischen Öffentlichkeit finden. Im Anschluss an Buchanan kann es nicht länger um ‚containment‘ und ‚roll-back‘ gehen, nicht darum, Dämme zu errichten. Stattdessen geht es um eine den Bürgerinteressen entsprechende institutionelle Kanalisierung eigeninteressierten Handelns in allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere in Wirtschaft und Politik. Die Frage nach mehr oder weniger Staat ist falsch gestellt. Sie verfehlt die relevanten Alternativen. Ins Zentrum der Betrachtung gehört nicht die Quantität, sondern die Qualität kollektiven Handelns.[52]

Mit solchen Konzeptualisierungen lässt sich die Ökonomik aus defensiven und zudem unfruchtbaren Frontstellungen befreien und schließlich in die Lage |39|versetzen, als wissenschaftliche Konzeption den Anforderungen des politischen Liberalismus zu genügen, d.h. keine eigenen ‚externen‘ Ideale zu vertreten, sondern nach Wegen zu suchen, wie die Bürger ihre eigenen ‚internen‘ Ideale besser verwirklichen können.[53] Damit definiert Ökonomik ihren Ort als Wissenschaft in der Gesellschaft und übernimmt Aufgaben demokratischer Politikberatung. Aus dem Versuch, diese Aufgaben zu erfüllen, erwachsen die Ideen konstitutioneller Ökonomik, dass ein Verfassungskonsens erforderlich ist, um mehr Pluralismus möglich werden zu lassen, und dass politisches Handeln – analog zu wirtschaftlichem Handeln – geeigneter sozialer Restriktionen bedarf, um Ergebnisse hervorzubringen, die im Interesse der Bürger liegen. Letztlich sind es in einer Demokratie (solche) Ideen, die Politik machen.

4. Nachtrag 2016

Man kann James Buchanan viele Verdienste zuschreiben:

 Mit seinen Schriften hat er wesentlich dazu beigetragen, das Anwendungsgebiet ökonomischer Analyse von der Wirtschaft auf die Politik auszudehnen.

 Gerade damit hat er der Finanzwissenschaft, der ökonomischen Analyse staatlicher Ein- und Ausgaben sowie staatlicher Aktivitäten, viele neue Impulse gegeben.

 Zudem hat Buchanan neue Brücken für eine interdisziplinäre Verständigung geschlagen, insbesondere zwischen Verfassungsökonomik und Verfassungsphilosophie sowie zwischen Institutionenökonomik und Institutionenethik.

 Aber auch der ökonomischen Theorie selbst hat Buchanan wertvolle Dienste geleistet. Diese betreffen sowohl die positive als auch die normative Analyse.

Buchanan hat mit seiner Distinktion von „choices within rules“ und „choices among rules“ die alte ordnungstheoretische Erkenntnis international re-aktiviert, derzufolge zwischen einem Ordnungsrahmen (= Spielregeln) und den Handlungen innerhalb des Ordnungsrahmens (= Spielzügen) zu unterscheiden ist, so dass man die positive Analyse grundsätzlich auf mindestens zwei Ebenen |40|ansetzen muss, um der institutionellen Verfasstheit menschlicher Interaktionen angemessen Rechnung zu tragen.

In normativer Hinsicht hat Buchanan darauf hingewirkt, das grundlegende Konzept zur wissenschaftlichen Herleitung wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Empfehlungen radikal umzustellen von Effizienz auf Konsens. In Buchanans „Constitutional Political Economy“ steht nicht die Optimierung individueller Spielzüge im Vordergrund, sondern die Einigung auf gemeinsame Spielregeln. Hierfür ist die Unterscheidung zwischen (konfligierenden) Handlungsinteressen und (konsensuellen) Regelinteressen von grundlegender Bedeutung – ein methodologischer Hobbesianismus, dessen Leistungsfähigkeit für eine demokratische Politikberatung leider immer noch vielfach verkannt wird. Aber auf genau diesem Gebiet liegt das wohl wichtigste wissenschaftliche Vermächtnis von James Buchanan: Mit diesem methodologischen Hobbesianismus und der damit ermöglichten Konsensorientierung macht er die Ökonomik kategorial anschlussfähig an die Diskurse der demokratischen Öffentlichkeit.

James Buchanan ist bis ins hohe Alter hinein ein produktiver Arbeiter geblieben, der seine Ideen in zahlreichen Veröffentlichungen niedergelegt hat. Das Spätwerk betrachtend, ist vor allem ein in Ko-Autorschaft verfasstes Buch zur Prinzipienorientierung liberaler Politik hervorzuheben.[54] Abschließend hinzuweisen ist auf die Gesamtausgabe seiner Schriften[55], auf ein informatives Buch über sein Leben und Werk[56], auf einen kurzen Aufsatz[57], der Buchanans politische Einstellung nachzeichnet, auf Buchanans autobiographische Auskunft als Nobelpreisträger[58] sowie auf ein ausführliches Interview[59], das Karen Horn mit ihm geführt hat.

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[Zum Inhalt]


|43|Mancur Olson (1932–1998)

„Fachleute versäumen ihre Pflicht, wenn sie einer Gesellschaft nicht helfen, sich über die Tragweite alternativer Entscheidungen Klarheit zu verschaffen.“ Mancur Olson (1968, 1991; S. 185)

Mancur Olsons Logik kollektiven Handelns

Mancur Olson gehört zu den prominentesten und prononciertesten Verfechtern einer theoretischen Integration der Sozialwissenschaften. Theoretische Integration zielt auf eine Analyseperspektive, die unterschiedliche soziale Phänomene nicht unverbunden nebeneinander stehen lässt, sondern systematisch miteinander in Verbindung bringt, um vergleichende Lernprozesse zu ermöglichen. Olson ist ein vehementer Befürworter theoretischer Integration sowohl innerhalb seiner eigenen Disziplin, der Ökonomik, als auch zwischen traditionell unterschiedenen Disziplinen, insbesondere zwischen Ökonomik, Soziologie und Politikwissenschaft. Zum einen bemüht er sich, die traditionelle Trennung von Mikroökonomik und Makroökonomik zu überwinden, und zum anderen ist er bestrebt, die Analyse wirtschaftlicher, sozialer und politischer Phänomene zu vereinheitlichen. In beiden Fällen ist die Argumentationsfigur, auf die sich sein Bemühen um theoretische Integration stützt, jeweils dieselbe: Im Kern geht es um die – teilweise nicht-intendierten – Wirkungen intentionaler Handlungen. So führt Olson makroökonomische Phänomene wie Stagflation und Arbeitslosigkeit im Wege einer mikroökonomischen Anreizanalyse auf die Einflussfaktoren individueller Kosten-Nutzen-Kalküle zurück, und analog sind es die Einflussfaktoren individueller Kosten-Nutzen-Kalküle, aus deren Analyse sich Olson ein systematischer Zugang für die Untersuchung von Organisationen und politischen |44|Regimes erschließt. Sowohl in intra- als auch in inter-disziplinärer Hinsicht also strebt Olson theoretische Integration an, indem er eine konsequente Anwendung mikroökonomischer Kategorien dazu benutzt, neue Fragen aufzuwerfen bzw. alte Fragen neu zu stellen, d.h. in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.

Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der folgenden Ausführungen, die Spezifika des Olsonschen Ansatzes, seine Problemstellung, herauszuarbeiten. Es geht um eine konstruktive Lesart für das Gesamtwerk: Worin liegen die positiven – gesellschaftstheoretischen – und normativen – gesellschaftspolitischen – Beiträge, die sich mit diesem Werk verbinden? Zu welchen Erkenntnissen führt Olsons Bemühen um theoretische Integration, und welche forschungsstrategischen Konsequenzen lassen sich daraus ableiten? Um diese Fragen zu beantworten, erweist es sich als zweckmäßig, das Werk chronologisch in drei Teile zu untergliedern, die sich durch eine jeweils eigenständige und eigentümliche Problemstellung auszeichnen: in die „Logik des kollektiven Handelns“[60], in „Aufstieg und Niedergang von Nationen“[61] und in die neueren Schriften[62], die im Wege einer komparativen Analyse politischer Regimes Autokratie und Demokratie miteinander vergleichen. In Bezug auf diese drei Teile, die nicht nur zeitlich aufeinanderfolgen, sondern auch inhaltlich aufeinander aufbauen, lässt sich eine Entwicklungslogik nachzeichnen, die deutlich werden lässt, welchen Beitrag Mancur Olson zu den theoretischen Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik leistet. Die im folgenden zu entwickelnde These lautet, dass sich Olson sowohl theoretische Integration als auch demokratische Aufklärung von einer konsequent ökonomisch instruierten, auf Anreizwirkungen abstellenden, Kategorienbildung verspricht.

1. Gruppentheorie: Das Problem der Instabilität kollektiven Handelns

(1) Die ökonomischen Klassiker, allen voran Adam Smith, beschäftigten sich mit der Funktionsweise von Märkten. Ihnen ging es um die Frage, wie wirtschaftliche Akteure durch Wettbewerb dazu veranlasst werden können, ihre individuellen Handlungen via Tausch in den Dienst anderer Akteure zu stellen. Ihr Thema war, wie eine dezentrale Fremdversorgung mit privaten Gütern zustandekommen kann. Dass dies überhaupt möglich sein könnte, war eine gesellschaftstheoretische Entdeckung ersten Ranges. Sie dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Ökonomik sich zu einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin hat entwickeln können, zu einer Disziplin, die ihre Eigenständigkeit nicht vordergründig von einem bestimmten Gegenstandsbereich her bezieht, sondern letztlich methodisch: als Anreizanalyse, indem sie vor allem die nicht-intendierten Wirkungen intentionalen Handelns ins Zentrum der Betrachtung rückt. Diese Anreizanalyse setzt ein mit einer Irritation des Alltagsverstandes: Das Theorem der Unsichtbaren Hand ist, bis heute, kontra-intuitiv. Dass die wettbewerbliche Koordination individueller Handlungen am Markt zu sozial erwünschten Ergebnissen |45|führen kann, ist eine Einsicht, die sich dem Beobachter nicht von selbst aufdrängt und daher wohl auch weiterhin einer theoretischen Vermittlung bedarf, die den Blick hierfür schult.

(2) Mancur Olson wählt sich als Ausgangspunkt ein anderes Problem. Im Vordergrund seines Interesses steht zunächst nicht der Markt, sondern die Organisation. Ihn beschäftigt nicht so sehr die individuelle Fremdversorgung mit privaten Gütern als vielmehr die kollektive Selbstversorgung mit öffentlichen Gütern. Im Wege einer – rudimentären, aber wegweisenden – ökonomischen Anreizanalyse bestimmt Olson kollektives Handeln als individuelles Handeln in einer Gruppe. Er fragt nach den Bedingungen, unter denen rationale Akteure bereit sein werden, Gruppenbeiträge zu leisten. Da in einer Gruppe das Verhalten des einen Mitglieds vom Verhalten der anderen i.d.R. nicht unabhängig sein dürfte, verlangt die Behandlung dieses Problems einen Ansatz, der die Interdependenzen zwischen Gruppenmitgliedern explizit berücksichtigt. Olson verfügt jedoch nicht über das hierfür erforderliche spieltheoretische Instrumentarium. Seine Analyse erfolgt reaktionstheoretisch, nicht interaktionstheoretisch.[63] Sie bildet nur besondere Spezialfälle ab, und überdies arbeitet sie mit extrem vereinfachenden – und zudem oft nur impliziten – Annahmen.[64] Deshalb handelt es sich bei Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ allenfalls im metaphorischen Sinn um eine wirkliche Logik. Am besten liest man seine ‚Logik‘ daher als eine Sammlung von Tendenzaussagen, deren Gültigkeit strikt situationsabhängig ist und somit im jeweiligen Problemkontext allererst überprüft werden muss. Nicht als Logik also, wohl aber als Sammlung von Tendenzaussagen ist Olsons ‚Logik‘ kollektiven Handelns von hohem heuristischem Wert

Die wichtigsten dieser Tendenzaussagen beziehen sich auf die Größe und Zusammensetzung von Gruppen. Generell macht Olson in seiner ‚Logik‘ geltend, dass kollektives Handeln keineswegs automatisch zu einer optimalen Bereitstellung öffentlicher Güter führt. Hinsichtlich der Gruppengröße führt er aus, dass solche Ineffizienzen kollektiver Selbstversorgung um so größer sind, je mehr Mitglieder zur Gruppe gehören. Hinsichtlich der Gruppenzusammensetzung führt er aus, dass es in Gruppen mit heterogenen Mitgliedern zu einer vergleichsweise sehr ungleichen Verteilung der Beitragslasten kommen kann, und zwar insbesondere dann, wenn es sich nicht für jedes Mitglied, mindestens aber für ein Mitglied der Gruppe lohnt, allein zur Bereitstellung des öffentlichen Gutes beizutragen. Die Abbildungen 1 und 2 enthalten jeweils eine extrem vereinfachte Illustration dieser Tendenzaussagen.

In Abbildung 1 ist eine additive Produktionsfunktion für das öffentliche Gut Y unterstellt, d.h. das Bereitstellungsniveau für die Gruppe wird durch die Summe der individuellen Beiträge yi zum öffentlichen Gut bestimmt.[65]

|46|Abbildung 1:

Suboptimale Gruppenversorgung

Die Gerade I gibt die individuelle marginale Zahlungsbereitschaft eines repräsentativen Gruppenmitglieds für das öffentliche Gut wieder. Die marginale Zahlungsbereitschaft der Gruppe ergibt sich rechnerisch durch eine Addition – graphisch: durch eine Vertikaladdition – der individuellen marginalen Zahlungsbereitschaften. Es werden identische Mitglieder mit identischen marginalen Zahlungsbereitschaften unterstellt. Je mehr Mitglieder n die Gruppe umfasst, desto steiler verläuft die Gerade Sn, die angibt, wieviel die gesamte Gruppe zu zahlen bereit wäre, um sich mit einer zusätzlichen Einheit des öffentlichen Gutes zu versorgen. Abgebildet sind die marginalen Zahlungsbereitschaften für zwei, drei und vier Gruppenmitglieder. Wird für die Gruppenmitglieder Nash-Verhalten unterstellt, so vergleichen sie bei ihren individuellen Entscheidungen über das von ihnen präferierte Bereitstellungsniveau des öffentlichen Gutes die Grenzkosten GK mit ihrer jeweils individuellen marginalen Zahlungsbereitschaft, nicht jedoch mit der marginalen Zahlungsbereitschaft der Gruppe. Sie vernachlässigen also gewissermaßen den positiven externen Effekt, der von ihrem Beitrag auf die anderen Gruppenmitglieder ausgeht. Unter diesen Annahmen ergibt sich: Die individuell rationale Entscheidung fällt nur dann mit der gruppenoptimalen Entscheidung zusammen – y1 = Y1 –, wenn die Gruppe nur ein einziges Mitglied |47|umfasst, also keine Gruppe im üblichen Verständnis ist. Für wirkliche Gruppen mit mindestens zwei Mitgliedern belaufen sich die – gemäß der Annahme eines Pareto-Gleichgewichts – gruppenoptimalen Bereitstellungsniveaus auf Y2, Y3 bzw. Y4, die individuellen Beiträge jedoch nur auf jeweils Y1/2, Y1/3 bzw. Y1/4: Je mehr Mitglieder die Gruppe hat, desto größer ist der vernachlässigte positive externe Effekt und desto gravierender ist folglich die Ineffizienz, d.h. die pareto-suboptimale (Unter-)Versorgung mit dem öffentlichen Gut.

 

Abbildung 2:

Privilegierte Gruppe

In Abbildung 2 sind zwei heterogene Gruppenmitglieder unterstellt, deren individuelle marginale Zahlungsbereitschaften I1 und I2 sich unterscheiden. So ist das erste Individuum bereit, für eine Erhöhung des Bereitstellungsniveaus YP um eine weitere Einheit des öffentlichen Gutes den Preis c1 zu bezahlen, während das zweite Individuum den höheren Preis c2 zu zahlen bereit ist. Gemäß Olsons Terminologie sind die beiden Individuen entsprechend ihrer jeweiligen marginalen Zahlungsbereitschaft als kleines bzw. großes Gruppenmitglied einzustufen. Betragen die Grenzkosten beispielsweise GKP, so wird das kleine Gruppenmitglied von sich aus keinen Beitrag leisten, das öffentliche Gut bereitzustellen. Da es jedoch für das große Gruppenmitglied individuell rational ist, jenes Bereitstellungsniveau zu wählen, bei dem seine individuelle marginale Zahlungsbereitschaft genau den Grenzkosten entspricht, wird es auf eigene Kosten YP Einheiten des öffentlichen Gutes bereitstellen, die dem kleinen Gruppenmitglied zugutekommen, ohne dass es hierfür bezahlt. Olson spricht in diesem Fall – mit Blick auf den oder die Trittbrettfahrer – von einer „privilegierten Gruppe“, und er bezeichnet das für solche Gruppen charakteristische Opportunismusphänomen als „‚Ausbeutung‘ der Großen durch die Kleinen“.[66]

|48|Abbildung 3:

Latente Gruppe

Eine dritte Tendenzaussage lässt sich anhand von Abbildung 3 illustrieren. Betragen die Grenzkosten GKL, so überschreiten sie den Betrag cmax, den das größte Gruppenmitglied maximal zu zahlen bereit ist, um eine Einheit des öffentlichen Gutes zu erhalten. In diesem Fall ist die Gruppe nicht mehr privilegiert. Zwar ist das gruppenoptimale Versorgungsniveau auch weiterhin positiv – es beträgt YG –, doch bricht die kollektive Selbstversorgung zusammen. Eine Bereitstellung des öffentlichen Gutes unterbleibt. Hier kommt kollektives Handeln gar nicht erst zustande. Die Gruppe bleibt latent. Die virtuellen Gruppenmitglieder können ihr gemeinsames Interesse nicht verwirklichen. Typische Beispiele hierfür sind die weitgehend unorganisierten Gruppen der Steuerzahler und Konsumenten, also jene „vergessenen Gruppen“ – so Olson (1965, 1985; S. 163, im Original hervorgehoben) –, „die schweigend leiden“.

(3) Nimmt man diese drei Tendenzaussagen zusammen, so führt – ähnlich wie die Theorie der ökonomischen Klassiker – auch Olsons ‚Logik‘ kollektiven Handelns zu durchaus kontra-intuitiven Einsichten. Die hier besonders interessierenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ansätze lassen sich am besten mit Hilfe von Abbildung 4 veranschaulichen, in der die Fälle einer Stabilität bzw. Instabilität kollektiven Handelns mit den Fällen sozial erwünschter bzw. unerwünschter Ergebnisse zu einem Vier-Quadranten-Schema kombiniert sind.

Der Fall, mit dem sich die Klassiker vornehmlich beschäftigt haben, ist im ersten Quadranten anzusiedeln. Ihrer Marktanalyse zufolge ist es gerade die Abwesenheit kollektiven Handelns – etwa in Form von Anbieterkartellen –, die auf Märkten sozial erwünschte Ergebnisse ermöglicht. Demgegenüber ist das Problem, |49|mit dem sich Olsons ‚Logik‘ vornehmlich beschäftigt, den Quadranten II und IV zuzuordnen. Hier wäre kollektives Handeln wünschenswert, kommt aber nicht – oder nicht im erwünschten Ausmaß – zustande.

Abbildung 4:

Die gruppentheoretische Fragestellung

Angesichts der offensichtlichen thematischen Unterschiede sollte jedoch eine wichtige Gemeinsamkeit hinsichtlich der Argumentationsstruktur nicht übersehen werden. Olsons Argument ist nämlich in gewisser Weise genau spiegelbildlich angesetzt: Für die ökonomischen Klassiker hängt das tatsächliche Verhalten der Menschen von ihren Handlungsanreizen ab. Diese können so beschaffen – genauer: im Wege institutioneller Arrangements so ausgestaltet – sein, dass individuelle Rationalität ausreicht, um wechselseitige Tauschpotentiale zu realisieren. Wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt, stellen sich die sozial erwünschten Ergebnisse – etwa niedrige Wettbewerbspreise bei hoher Versorgungsquantität und -qualität – als vornehmlich nicht-intendierte Ergebnisse intentionalen, auf Gewinn ausgerichteten, Verhaltens ein. Diese dem Alltagsverstand scheinbar geradewegs zuwiderlaufende Pointe wird von Olson nahezu strukturgleich dupliziert: Wenn kollektives Handeln zustandekommt, d.h. wenn Gruppen sich in der Realität wirksam mit öffentlichen Gütern versorgen können (Quadrant IV), so ist dies für ihn ein Resultat, das prinzipiell im Rekurs auf individuelle Anreize zu erklären ist, angesichts der ‚Logik‘ kollektiven Handelns jedoch nicht als intendiertes Ergebnis, sondern vielmehr primär als nicht-intendiertes Ergebnis rekonstruiert werden muss. Ausschlaggebend für kollektives Handeln ist Olson zufolge nicht der Wille, unmittelbar zu einem öffentlichen Gut beizutragen, sondern vielmehr der Anreiz, dies mittelbar zu tun. Damit wird es zu einer Frage institutioneller Arrangements, ob Gruppenmitglieder sich – durch selektive Anreize – veranlasst sehen, im gemeinsamen Gruppeninteresse zu handeln. Am Beispiel: Olsons ‚Logik‘ zufolge wird man nicht Mitglied des ADAC, um eine Autofahrerlobby zu unterstützen, sondern man zahlt Beiträge, um in den Genuss privater Güter – etwa der Pannenhilfe oder anderer Serviceleistungen (Beratungen, Zeitschriften, Versicherungen) – zu kommen, die Nicht-Mitgliedern vorenthalten bzw. nicht kostenlos zugänglich gemacht werden, und man nimmt als Mitglied dann mehr oder weniger billigend in Kauf, dass ein Teil der Beiträge für Lobby-Tätigkeiten verwendet wird. Insofern ist Olsons gruppentheoretisches |50|Paradoxon, dass rationale Akteure gerade aufgrund ihrer individuellen Rationalität ein gemeinsames Gruppeninteresse nur mit Hilfe der Anreizwirkungen institutioneller Arrangements in sozial erwünschter Weise verfolgen können, das direkte Analogon zum klassischen Theorem der Unsichtbaren Hand.