Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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5. Nachtrag 2016

John Rawls eröffnet seine Gerechtigkeitstheorie mit einem ethischen Paukenschlag, indem er Gerechtigkeit als erste Tugend des Institutionensystems kennzeichnet. In der Tat: Was für eine Metapher! Nach traditionellem Verständnis ist Gerechtigkeit zwar durchaus eine Tugend, aber als solche auf Handlungen bezogen, auf Handlungsdispositionen, auf den Charakter einer handelnden Person und schließlich auf die ganze Person selbst. Tugend ist ein individualethisches Konzept. Daher fällt es zunächst einmal schwer, sich vorstellen zu können, dass neben Personen auch Institutionen, also Regelarrangements, Tugenden aufweisen können. Aber genau darum geht es Rawls: Er lenkt den Tugendbegriff von Handlungen und Handlungsgesinnungen auf die institutionellen Handlungsbedingungen der Gesellschaftsordnung – mit folgender Pointe: „Die Art und Weise, wie wir über Fairness im Alltag denken, ist eine schlechte Vorbereitung für den großen Perspektivenwechsel, der erforderlich ist, wenn die Gerechtigkeit der [institutionellen; I.P.] Grundstruktur selbst betrachtet werden soll.“[21] Das bedeutet: Als Bürger eines demokratisch verfassten Gemeinwesens benötigen wir eine theoretisch fundierte Orientierungshilfe, wenn wir den Ebenenwechsel vollziehen wollen, der darin besteht, den öffentlichen Gerechtigkeitsdiskurs von Personen auf Institutionen umzulenken. Die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie ist der Versuch, eine solche Orientierungshilfe anzubieten – und zugleich die Zweckmäßigkeitskriterien auszuweisen, an denen gemessen diese Orientierungshilfe extrem leistungsfähig zu sein beansprucht. Rawls geht es um nichts Geringeres als darum, mit seiner Theorie einen wissenschaftlichen Beitrag zur Befriedung gesellschaftlicher Konflikte zu leisten, indem er eine Verständigungsbasis verfügbar macht, die den Verfassungskonsens der modernen Gesellschaft zu stabilisieren hilft. Deshalb bemüht er sich um eine größtmögliche Transparenz seiner Theoriebildungsentscheidungen: Für seine Leser soll nachvollziehbar und einsichtig sein, warum er bestimmte Annahmen so und nicht anders trifft. Die Transparenz der Theoriebildungsentscheidungen ist so gesehen ein konstitutiver Bestandteil des von Rawls intendierten Aufklärungsbeitrags.

Besonders interessant daran ist nun der Umstand, dass Rawls in seinen Schriften zum politischen Liberalismus seiner Gerechtigkeitstheorie eine weitere Annahme hinzufügt, die so folgenreich ist, dass er sich gezwungen sieht, sein gesamtes Theoriegebäude daraufhin umzubauen. Um dem Faktum des vernünftigen Pluralismus angemessen Rechnung zu tragen, ist zusätzlich zum Ebenenwechsel auch noch ein Kategorienwechsel erforderlich. Hierfür steht die programmatische Überschrift seines Aufsatzes „Political, not Metaphysical“ von 1985. Was ist damit gemeint?

|20|Rawls gibt hierzu die Auskunft, dass sich sein Selbstverständnis des eigenen Theorieprogramms geändert habe, und zwar insofern, als er mit seiner Gerechtigkeitstheorie nicht länger Moralphilosophie, sondern politische Philosophie betreiben wolle. Der Sache nach geht es Rawls darum, eine grundlegende Distinktion zwischen Individualethik und Institutionenethik zu markieren: In einer liberalen Gesellschaft kann ich im Rahmen der geltenden Gesetze mein Leben so leben, wie ich es will – (a) ohne die von mir gewählte Konzeption des Guten, den von mir eingeschlagenen Lebensweg und die hierbei erworbenen Tugenden für alle anderen Bürger einsichtig und zustimmungsfähig machen zu müssen, aber (b) auch ohne die Hoffnung, dies für alle anderen einsichtig und zustimmungsfähig machen zu können. Deshalb haben individualethische Argumente für oder gegen einen bestimmten moralischen Lebensentwurf eine völlig andere Qualität – sie sind auch völlig anderen Anforderungen unterworfen – als institutionenethische Argumente, die in einem politischen Diskurs vorgebracht werden, um Regeln oder Prinzipien für Regeln vorzuschlagen, die nicht nur für mich, sondern auch für alle anderen Verbindlichkeit beanspruchen. Institutionenethische Argumente unterliegen einer wesentlich größeren Rechtfertigungspflicht, aber auch einer wesentlich größeren Rechtfertigungsfähigkeit. Man kann es auch so ausdrücken: Während ein moralischer Konsens (im Sinne einer Einigung auf eine für alle verbindliche Konzeption des Guten) angesichts des Pluralismusfaktums unmöglich und damit letztlich auch verzichtbar geworden ist, ist es durchaus möglich – und unverzichtbar nötig! –, einen politischen Konsens zu erzielen und zu stabilisieren (im Sinne einer Einigung auf eine für alle verbindliche Institutionenstruktur, die alternative Konzeptionen des Guten friedlich koexistieren lässt). Regeln sind kollektiv verbindlich – Konzeptionen des Guten sind es nicht. Deshalb gelten für institutionenethische Argumente andere – d.h. strengere! – diskursive Anforderungen als für individualethische Argumente. Für letztere reicht es aus, dass sie eine – unter Umständen sehr kleine – Teilgruppe der Gesellschaft überzeugen; für erstere hingegen ist es nötig, dass sie einen Konsens aller Bürger herstellen. Deshalb reduziert Rawls den moralischen (= individualethischen) Gehalt seiner Gerechtigkeitstheorie auf ein Minimum und stärkt stattdessen ihren politischen (= institutionenethischen) Gehalt, indem er mit seiner Wende zum politischen Liberalismus die Gerechtigkeitstheorie auf Regeln und Prinzipien fokussiert, die für die Anhänger unterschiedlicher Konzeptionen des Guten gleichermaßen zustimmungsfähig sind.

Diese Rawls-Interpretation wird auch durch seine späteren Schriften bestätigt. Hinzuweisen ist auf mehrere wichtige Bücher:

(1) Rawls war sich sehr darüber im Klaren, dass seine Gerechtigkeitstheorie vornehmlich auf die USA als einen demokratisch verfassten Rechtsstaat mit einer ganz bestimmten Verfassungskultur zugeschrieben war. Um seine Theorie – und ihre Theorieleistungen – von der Ebene des Nationalstaats auf die globale Ebene des Völkerrechts anzuheben, sind deshalb theoretische Modifikationen erforderlich.[22]

|21|(2) Rawls hat seine Überlegungen zur Gerechtigkeitstheorie über viele Jahrzehnte hinweg kontinuierlich weiterentwickelt. Für die hier vorgelegte Interpretation seiner Schriften ist die finale Fassung eine aufschlussreiche Bestätigung.[23]

(3) Von besonderer Bedeutung für ein vertieftes Verständnis des Rawlsschen Ansatzes sind seine Vorlesungen zur Geschichte der Moralphilosophie und zur Geschichte der politischen Philosophie, in denen er sich als meisterhafter Interpret alternativer Theoriearchitekturen erweist.[24] Besonders zu empfehlen sind seine Ausführungen zu Immanuel Kant und zu Thomas Hobbes.

Aus der mittlerweile Bibliotheken füllenden Sekundärliteratur zu Rawls sei hier nur verwiesen auf die exzellenten Kommentarbände von Freeman[25] sowie von Mandle und Reidy[26].

Literatur

Brennan, Geoffrey und James M. Buchanan (1985, 1993): Die Begründung von Regeln, Tübingen.

Eucken, Walter (1952, 1990): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen.

Freeman, Samuel (Hrsg.) (2003): The Cambridge Companion to Rawls, Cambridge u.a.O.

Hayek, Friedrich A. von (1976, 1981): Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, aus dem Amerikanischen übertragen von Martin Suhr, Landsberg am Lech.

Homann, Karl und Ingo Pies (1993): Liberalismus: Kollektive Entwicklung individueller Freiheit – Zu Programm und Methode einer liberalen Gesellschaftstheorie, in: Homo Oeconomicus X(3/4), S. 297–347.

Mandle, Jon und David A. Reidy (2013): A Companion to Rawls, Chichester.

Pies, Ingo (1993): Normative Institutionenökonomik. Zur Rationalisierung des politischen Liberalismus, Tübingen.

Rawls, John (1971, 1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit, übersetzt von Hermann Vetter, Frankfurt a.M.

Rawls, John (1992): Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt a.M.

Rawls, John (1993): Political Liberalism, New York.

Rawls, John (1999): The Law of Peoples, Cambridge, Mass. und London.

Rawls, John (2000): Lectures on the History of Moral Philosophy, edited by Barbara Herman, Cambridge, Mass. und London.

Rawls, John (2001): Justice as Fairness. A Restatement, Cambridge, Mass. und London.

Rawls, John (2002a): Das Recht der Völker, übersetzt von Wilfried Hinsch, Berlin.

Rawls, John (2002b): Geschichte der Moralphilosophie. Hume, Leibniz, Kant, Hegel, hrsg. von Barbara Herman, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a.M.

Rawls, John (2006): Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, hrsg. von Erin Kelly, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a.M.

|22|Rawls, John (2007): Lectures on the History of Political Philosophy, hrsg. von Samuel Freeman, Cambridge, Mass. und London.

Rawls, John (2008): Die Geschichte der Politischen Philosophie, hrsg. von Samuel Freeman, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a.M.

Suchanek, Andreas (1994): Ökonomischer Ansatz und theoretische Integration, Tübingen.

[Zum Inhalt]


|23|James Buchanan (1919–2013)

„Propositions advanced by political economists must always be considered as tentative hypotheses offered as solutions to social problems. … [T]he political economist’s task is completed when he has shown the parties concerned that there exist mutual gains ‚from trade‘.“ James M. Buchanan (1959; S. 128f.)

 

James Buchanans konstitutionelle Ökonomik

Wie nur wenige Ökonomen des 20. Jahrhunderts tritt James Buchanan mit dem Anspruch auf, das (Selbst-)Verständnis des Fachs zu ändern: Die Ökonomik soll die mit der Neoklassik zunächst verloren gegangene gesellschaftstheoretische Ausrichtung wiedergewinnen, sie soll an die Traditionslinie der ‚political economy‘ wieder anknüpfen.[27]

Durch eine solche Neuorientierung will Buchanan die Ökonomik in die Lage versetzen, wichtige gesellschaftliche Aufgaben übernehmen zu können. Sie soll sich für die Bürger als nützlich erweisen, indem sie ihnen eine intellektuelle Hilfestellung bei der Lösung politischer Probleme bietet. Buchanan geht es darum, eine Perspektive aufzuzeigen, aus der man – analog zum wirtschaftlichen Prozess – den politischen Prozess anders – und vor allem: konstruktiver – wahrnehmen kann, als dies mit einem ökonomisch ungeschulten Blick möglich ist. Üblicherweise wird die Wirtschaft – und analog: die Politik – als eine chaotische Sphäre wahrgenommen, in der konfligierende Interessen aufeinanderprallen, so |24|dass der eine verliert, was der andere gewinnt. Angesichts einer solchen Wahrnehmung, die sich wie von selbst aufdrängt, bedarf es einer Konzeptualisierung, die den phänomenologischen Eindruck theoretisch korrigiert, damit Marktwirtschaft und Parlamentarismus in einer Demokratie dauerhaft möglich werden. Buchanans Botschaft lautet: Das, was wie ein Nullsummenspiel aussieht, ist in Wirklichkeit – zumindest potentiell – ein Positivsummenspiel, in dem es gemeinsame Interessen aller Bürger gibt. Von diesem Punkt aus muss Gesellschaft gedacht werden. Sie erscheint dann im Kern als ein kooperatives Unternehmen, ein Projekt der wechselseitigen Zusammenarbeit. In diese Zusammenarbeit eingelassen sind Sphären der Konkurrenz – in der Wirtschaft: zwischen Unternehmen und zwischen Konsumenten; in der Politik: zwischen Interessengruppen, von denen einige als Parteien organisiert sind. Damit stellt Buchanan eine Perspektive vor, die dem phänomenologisch dominanten Wettbewerb eine zwar wichtige, im Kern jedoch sekundäre Rolle zuweist: als Instrument gesellschaftlicher Kooperation. Konkurrenz ist kein Selbstzweck, kein genuines Ziel, sondern vielmehr ein Mittel, dessen man sich bedienen kann, um bestimmte Ergebnismuster hervorzubringen, die letztlich gesellschaftlicher Kooperation förderlich sind. Eine erfolgreiche Handhabung dieses Mittels setzt ein Verständnis seiner Funktionsweise voraus. Hierzu bedarf es theoretischer Erklärungen – genauer: ökonomischer Erklärungen, und für diese ist es konstitutiv, zwischen den Handlungen der Akteure und den institutionellen Bestimmungsgründen dieser Handlungen zu unterscheiden – in der Sprache des Sports: zwischen Spielzügen und Spielregeln. Damit will Buchanan das, was ihm für die Wirtschaft einigermaßen gelungen zu sein scheint, für die Politik nachholen: Die Erklärung gesellschaftlicher Prozesse soll in Aufklärung übersetzt werden.[28] Von einer ökonomischen Rekonstruktion regelgeleiteter Interaktionsprozesse in Wirtschaft und Politik verspricht sich Buchanan ein besseres Verständnis der Funktionsweise von Gesellschaft und folglich ein Orientierungswissen, das dazu eingesetzt werden kann, das gesellschaftliche Institutionensystem so zu gestalten, dass Ergebnisse wahrscheinlich(er) werden, denen die Bürger zustimmen können. Formelhaft zugespitzt bedeutet das: Letztlich machen Ideen Politik, und deshalb wächst der Ökonomik als Ideenlieferant eine eminent politische Aufgabe in der Demokratie zu. Zentral geht es um Fragen diskursiver Kompetenz: Mit Buchanan wird die Ökonomik zur Argumentationsgrammatik politischer Diskurse.[29] Damit sie diese |25|Aufgabe als Wissenschaft – und das heißt: unter strikter Wahrung einschlägiger Seriositätsstandards – erfüllen kann, sind kategoriale Umstellungen erforderlich. Von daher erklärt sich der stark methodologische Grundzug im Werk James Buchanans.

Die kategorialen Umstellungen betreffen vor allem die Vermittlung positiver und normativer Forschung. Es geht um Theoriebildung: Die Ökonomik muss als ökonomische Theorie des Marktes neu konzeptualisiert werden, bevor eine ökonomische Theorie der Politik per Analogiebildung möglich wird. Bei Buchanan ist ökonomischer Imperialismus die Ausweitung des Anwendungsbereichs – nicht einer kategorial vorgegebenen, sondern – einer kategorial veränderten Ökonomik. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der folgenden Ausführungen, für das Werk James Buchanans eine konstruktive Lesart vorzustellen, die zentrale Weichenstellungen seines Forschungsprogramms als methodisch zweckmäßig verständlich macht.[30]

1. Der rote Faden im Werk James Buchanans

Das Werk James Buchanans deckt ein breites Spektrum ab, von der Finanzwissenschaft über ökonomische Analysen der Politik und Streifzüge in die politische Philosophie bis hin zur Verfassungsökonomik. Das macht es nicht leicht, den roten Faden in seinem Werk zu erkennen, und doch gibt es einen solchen roten Faden, einen grundlegenden Basisgedanken, dem Buchanan über Jahrzehnte hinweg treu geblieben ist.

Die Rekonstruktion dieses roten Fadens setzt am einfachsten biographisch ein, denn dem eigentlichen Werk sind zwei intellektuelle ‚Erweckungs‘-Erlebnisse vorgelagert, die Buchanan selbst mehrfach beschrieben hat. Mehr oder weniger zufällig sind beide Erlebnisse mit dem Ort Chicago verbunden. Erstens: Sechs Wochen Unterricht bei seinem akademischen Lehrer Frank Knight reichten aus, um den Sozialisten Buchanan konvertieren zu lassen und ihn zu jenem überzeugten Verfechter marktwirtschaftlicher Prinzipien zu machen, als der er die liberale Tradition der ökonomischen Klassiker wieder aufnimmt und fortführt. Zweitens: Unmittelbar nach seiner Promotion in Chicago fällt ihm in den Kellern der Harper Library ein Exemplar der 1896 erschienenen Finanztheoretischen Untersuchungen Knut Wicksells in die Hände, dessen Einstimmigkeitskriterium |26|für Buchanan als liberales und zugleich demokratisches Legitimationsprinzip wegweisend wird.[31]

Beide Erlebnisse gehören eng zusammen: Die Konvertierung, der politische Perspektivwechsel, am eigenen Leibe erfahren, macht Buchanan zu einem vehementen Vertreter intellektueller Aufklärung, wobei solche (normative) Auf-Klärung zunächst einmal auf der (positiven) Er-Klärung basiert, wie ein Markt funktioniert. In einem nächsten Schritt lässt sich eine solche Erklärung ausweiten: Der Rückgriff auf Wicksell erlaubt es, den Gedanken freiwilliger Tauschakte von der Wirtschaft auf die Politik zu übertragen. Die wünschenswerten Eigenschaften freiwilliger Tauschakte sind der Basisgedanke, das Paradigma, des Buchananschen Werks, das sich im Rückgriff auf diesen roten Faden in drei Stufen rekonstruieren lässt. Es handelt sich um einen – nicht unbedingt historischen, wohl aber – logischen Dreischritt, in Bezug auf den eine inhärente, problemgesteuerte Entwicklungslogik des Werks sichtbar wird.

(1) Am Anfang des Werks steht ein Ansatz normativer Finanzwissenschaft: Konfrontiert mit einer Orthodoxie, die die Einnahmen- und Ausgabenseite staatlicher Budgets getrennt voneinander behandelt, versucht Buchanan (1949) den Gedanken zu lancieren, dass beide Seiten konstitutiv zueinander gehören: als Leistung und Gegenleistung. Aus seiner Perspektive handelt es sich bei staatlichen Aktivitäten um komplexe Tauschakte, für deren Beurteilung im wesentlichen die gleichen Kriterien angelegt werden können wie für die einfachen Tauschakte in der Wirtschaft. Buchanans normative Finanzwissenschaft beruht auf der Analogisierung von ‚private choice‘ und ‚collective choice‘: Private Tauschhandlungen auf Märkten setzen eine konsensuelle Übereinkunft voraus. Sie kommen freiwillig nur dann zustande, wenn ihnen ausnahmslos alle Tauschpartner zustimmen. Analog – so Buchanans normatives Argument – sollten kollektive Tauschhandlungen im staatlichen Sektor so beschaffen sein, dass ihnen alle Bürger zustimmen können.[32]

(2) Dieser finanzwissenschaftliche Ansatz, der den Gemeinwohlgedanken dadurch operationalisiert, dass er ein normatives Beurteilungskriterium von ‚market decision-making‘ auf ‚non-market decision-making‘ überträgt, dient in erster Linie intellektueller Orientierung: Mit seiner Hilfe lassen sich Referenzvorstellungen entwickeln, denen staatliche Aktivitäten genügen sollten. Intendiert als eine Richtschnur für politisches Handeln in der Demokratie, waren die Erfahrungen mit diesem normativen Ansatz jedoch eher ernüchternd: Die Theorie liefert den Politikern Ratschläge, die diese systematisch nicht befolgen. Mit diesem Befund konfrontiert, steht Buchanan vor der Wahl, entweder das normative oder das positive Element seines Forschungsprogramms zu verstärken. Die erste Möglichkeit bestünde darin, mit verstärkten Forderungen zu reagieren, die Politiker sollten sich am Gemeinwohl orientieren. Buchanan jedoch entscheidet sich für die zweite Möglichkeit. Er nimmt den Problembefund so ernst, dass es den Versuch nicht |27|lohnt, ihn einfach normativ zu überspielen. Stattdessen analysiert er die Faktoren, durch die sich Politiker daran gehindert sehen, Ergebnisse herbeizuführen, denen alle Bürger im Prinzip (leichter) zustimmen können. Das normative Problem mangelhafter Realisationschancen politischer Ratschläge wird also positiv abgearbeitet – durch verstärkte Erklärungsanstrengungen für das Verhalten von Politikern: Aus ‚non-market decision-making‘ wird ‚public choice‘.[33]

Die zunächst normative Analogisierung von ‚private choice‘ und ‚collective choice‘ wird nun weiterentwickelt zu einer positiven Analogisierung von Wirtschaftsakteuren und politischen Akteuren: Beide verfolgen eigene Interessen. Damit lässt sich nicht nur wirtschaftliches, sondern auch politisches Verhalten als rational rekonstruieren. Das aber bedeutet, dass man nun erklären kann, warum sich Politiker so verhalten, wie sie es tun: warum sie gegen Äquivalenzkriterien verstoßen, Steuerdiskriminierung nicht abbauen und Steuergesetze nicht vereinfachen; warum sie Pakete schnüren, die nicht Transparenz, sondern Intransparenz fördern; warum sie diskretionäre Handlungsspielräume einer strikten Regelbindung (etwa in der Geldpolitik) vorziehen, ‚logrolling‘ betreiben, Handlungskompetenzen zentralisieren, Staatsverschuldung einem ausgeglichenen Haushaltsbudget vorziehen, Subventionen verteilen usw. Zugleich kann man erklären, warum bloße Appelle an die Politiker in der Regel nicht fruchten: weil sie den Politikern zumuten, gegen ihre eigenen (situationsbedingten) Interessen handeln zu sollen.

(3) Indem er Politiker als rationale Akteure ernst nimmt, füllt der Public-Choice-Ansatz die normative Lücke des ursprünglich eng finanzwissenschaftlichen Ansatzes durch positive Erklärungen auf: Wenn Politiker sich nicht so verhalten, wie die Bürger – oder im Wege einer vikarischen, die Bürgerinteressen in Ansatz bringenden Analyse: die Wissenschaftler – es gerne sähen, dann gibt es hierfür Gründe, die nicht appellativ zu überspielen, d.h. zu ignorieren, sondern angemessen in Rechnung zu stellen sind. Damit aber stellt sich die Frage, ob – und gegebenenfalls: wie – die ursprünglich normative Stoßrichtung der Analyse aufrechterhalten werden kann. Die Antwort auf diese Frage besteht in einer Analogisierung von Wirtschaftsordnung und politischer Ordnung: Aus ‚public choice‘ wird ‚constitutional economics‘.

Indem die Ökonomik erklärt, warum Politiker sich so verhalten, wie sie es tun, macht sie zugleich darauf aufmerksam, unter welchen Bedingungen sich Politiker |28|gemeinwohlorientiert verhalten und unter welchen Bedingungen sie gerade dies nicht tun (können). Indem sie rationales Handeln als restriktionsgeleitet rekonstruiert, kann die Ökonomik zeigen, wie Spielzüge durch Spielregeln kanalisiert werden, und damit rücken Institutionen ins Zentrum der theoretischen Betrachtung. Von ihnen hängt es ab, mit welchen Anreizen sich die Akteure konfrontiert sehen. Ob in der Wirtschaft eigeninteressierte Unternehmer zum Konsumentenwohl beitragen, hängt vom Charakter des jeweiligen Konkurrenzspiels ab, und dieser wird im wesentlichen durch die Regeln der Wettbewerbsordnung bestimmt, die die Eigentumsrechte und damit die Verhaltensanreize so festlegen, dass das Verhältnis der Marktgegenseiten – also das Verhältnis zwischen Produzent und Konsument – letztlich gesteuert wird über die Verhältnisse auf den Marktnebenseiten – also über den Wettbewerb zwischen den Produzenten und zwischen den Konsumenten. Damit wird es zur Aufgabe der Rahmenordnung, Konkurrenz in den Dienst der Kooperation (zwischen Tauschpartnern) treten zu lassen. Aus der Perspektive konstitutioneller Ökonomik verhält es sich in der Politik strikt analog. Ob eigeninteressierte Politiker zum Gemeinwohl beitragen, hängt vom Charakter des parlamentarischen Konkurrenzspiels ab, und dieser wird im wesentlichen durch die Regeln der politischen Wettbewerbsordnung bestimmt. Aufgabe der Verfassung ist es, die einzelnen Handlungskompetenzen und Handlungsanreize so festzulegen, dass auch in der Politik das Verhältnis der ‚Markt‘-Gegenseiten – also das Verhältnis zwischen Bürger und Politiker – letztlich über die Verhältnisse auf den ‚Markt‘-Nebenseiten gesteuert wird – also über die öffentliche Konkurrenz zwischen Interessengruppen und insbesondere über die parlamentarische Konkurrenz zwischen Politikern. Damit wird es für Buchanan zur Aufgabe der Verfassungsökonomik, den Bürgern bei der Einrichtung und Ausgestaltung der Verfassung Hilfestellung zu leisten. Sie soll positiv erklären, welche Regeln zu welchen Ergebnismustern führen, und auf der Basis einer solchen Erklärung dann normative Hypothesen darüber ableiten, wie die Regeln aussehen müssten, wenn man ‚bessere‘ – das heißt: zustimmungsfähigere, pareto-superiore – Ergebnismuster erzielen will.

 

Mit dieser Aufgabenbestimmung ist ein Adressatenwechsel ökonomischer Politikberatung verbunden: Konstitutionelle Ökonomik wendet sich nicht in erster Linie an die Akteure im politischen System, sondern an die demokratische Öffentlichkeit. Sie betreibt primär nicht Politiker-Beratung, sondern stattdessen Politik-Beratung. Ihr geht es um eine intellektuelle Aufklärung der Bürger – genauer: um eine intellektuelle (Selbst-)Aufklärung und schließlich (Selbst-)Gestaltung der demokratischen Gesellschaft. Buchanans konstitutionelle Ökonomik will als Theorie praktisch werden, indem sie als politische Institutionenökonomik, als ‚political constitutional economy‘ der Wahrnehmung des politischen Prozesses konstruktive Perspektiven aufzeigt und über diese intellektuelle Orientierungsleistung schließlich integrativer Bestandteil der politischen Kultur demokratischer Gesellschaften wird.[34]