Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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|1|John Rawls (1921–2002)

„How is it possible that there may exist over time a stable and just society of free and equal citizens profoundly divided by reasonable though incompatible religious, philosophical, and moral doctrines?“ John Rawls (1993; S. XVIII)

John Rawls’ politischer Liberalismus

Von Robert Nozick stammt der Satz, wer heute politische Philosophie betreibe, müsse sich entweder in den von John Rawls vorgezeichneten Bahnen bewegen oder zumindest begründen, warum er dies nicht tue. Obwohl dieses Diktum die zentrale Bedeutung des Rawlsschen Ansatzes betont, enthält es doch eine glatte Untertreibung, denn diese Bedeutung beschränkt sich keineswegs auf die politische Philosophie. Das Problem stabiler und gerechter Gesellschaften – genauer: das Problem, wie demokratische Gesellschaften Stabilität durch Gerechtigkeit erzeugen können – ist auch für die Sozialwissenschaften von unabweisbarer Relevanz. In besonderem Maße gilt dies für die neuere Ökonomik, die den Anspruch ihrer angelsächsischen Gründungsväter: Gesellschaftstheorie zu betreiben, wieder aufnimmt und dadurch reaktualisiert, dass sie klassische Fragestellungen mit nunmehr neoklassischen Analyseinstrumenten angeht.[3] Das Aufeinanderfolgen der Nobelpreise für Ronald Coase, Gary Becker und Douglass North spricht hier eine deutliche Sprache. Auch ist nicht zu übersehen, dass die Ökonomik einen eigenen Gerechtigkeitsdiskurs ausgebildet hat, an dem sich insbesondere liberale Ökonomen beteiligt haben. Im Rekurs auf die Nobelpreisträger der Jahre 1974 |2|und 1986, Friedrich August von Hayek und James M. Buchanan, lassen sich die hier interessierenden Grundzüge dieses Diskurses wie folgt skizzieren.

1. Der ökonomische Gerechtigkeitsdiskurs

Der Begriff „Gerechtigkeit“ ist ein Fokus nahezu aller gesellschaftspolitischen Probleme: Die Differenz zwischen reich und arm unter dem Aspekt gesellschaftlicher Integration wurde immer schon als Gerechtigkeitsproblem – z.B. als Problem des gerechten Preises –, seit dem 19. Jahrhundert spezifischer als Problem „sozialer“ Gerechtigkeit, als Problem des gesellschaftlichen Institutionensystems diskutiert.[4] Neben dem Problem des gerechten Friedens werden auch neuere Probleme mit Hilfe dieses Leitbegriffs thematisiert: Probleme der Ökologie als Fragen intergenerationeller Gerechtigkeit etwa oder das Nord-Süd-Problem als Frage einer gerechten Weltwirtschaftsordnung. In demokratischen Gesellschaften mit institutionalisierten Öffentlichkeiten werden Politikprozesse weitgehend von solchen Gerechtigkeitsdiskursen gesteuert. Hier bilden sich jene Hintergrundvorstellungen, von denen es abhängt, wie die Bürger ihrer Gesellschaft gegenüberstehen: ob sie ihr innerlich frei zustimmen können, oder ob sie sie als ungerecht und illegitim empfinden – mit gravierenden Folgen für die Bestands- und Entwicklungsaussichten einer Gesellschaft sowie die Ausrichtung der in ihr ablaufenden Politikprozesse.

Diese Funktion des Gerechtigkeitsbegriffs bringt Vor- und Nachteile mit sich. Ein besonderer Vorteil liegt zweifellos darin, dass Gerechtigkeitsdiskurse in bezug auf langanhaltende Probleme eine eigene Tradition ausbilden, die sich kritisch selbst rationalisiert und mit der Zeit das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger prägt, also mehr unbewusst als bewusst absorbiert wird und schließlich in die Intentionen und Intuitionen eingeht. Ein weiterer Vorteil besteht sicherlich darin, dass sich auch neu auftretende Probleme in Gerechtigkeitsdiskursen thematisieren lassen, ihre Verarbeitung daher in (vor)strukturierte Bahnen gelenkt und mit Hilfe von Routinen prozessiert werden kann. Gerade in der Aufnahmefähigkeit und der daraus resultierenden Vielfalt der Gerechtigkeitsdiskurse ist die Möglichkeit zu Übertragungen und Vergleichen, ist die Möglichkeit zu gesellschaftlichen Lernprozessen und fortschreitender Rationalisierung angelegt.

Auf die möglichen Nachteile hat mit besonderem Nachdruck vor allem Friedrich August von Hayek (1976, 1981) aufmerksam gemacht. Zwar ist auch für ihn die Kategorie der Gerechtigkeit nicht nur zentral, sondern geradezu unaufgebbar – eine zivilisierte Gesellschaft könnte er sich ohne Gerechtigkeit, und das heißt für ihn: ohne das liberale Ideal einer Freiheit unter dem Gesetz, gar nicht vorstellen. Doch unterliegt für ihn ein diffuser Gerechtigkeitsbegriff stets auch der Tendenz, gerade jenes Zivilisationspotential der modernen Gesellschaft zu zerstören, das nur durch eine richtig verstandene Gerechtigkeit erhalten und weiterentwickelt werden kann. Gerade weil in der Demokratie die Gerechtigkeitsdiskurse so bedeutend sind, werden von ihnen ausgehende Fehlsteuerungen der |3|Politikprozesse so gefährlich. Um solchen Gefahren entgegenzusteuern, bemüht sich von Hayek um intellektuelle Klarheit, um Aufklärung. Zu diesem Zweck unterscheidet er zwei Varianten des Gerechtigkeitsbegriffs. Die erste ist für ihn mit den Grundsätzen einer zivilisierten Gesellschaft vereinbar, die zweite ist es nicht. Für zivilisationskompatibel hält er die Vorstellung einer Verfahrensgerechtigkeit, die in der Forderung zum Ausdruck kommt, Regeln ohne Ansehen der Person anzuwenden. Verfahrensgerechtigkeit erhöht die Erwartungssicherheit und ist so dezentraler Wissensverarbeitung förderlich. Für nicht kompatibel mit den Prinzipien einer zivilisierten Gesellschaft hingegen hält er die Vorstellung einer Ergebnisgerechtigkeit, die in der Forderung zum Ausdruck kommt, Ungleiches ungleich zu behandeln, um gleiche Ergebnisse herbeizuführen. Ergebnisgerechtigkeit schreibt dem sozialen Prozess ein ‚abstraktes‘, als von diesem Prozess unabhängig gedachtes, Verteilungsmuster vor. Aus von Hayeks Sicht verkennt die Kategorie der Ergebnisgerechtigkeit damit zum einen die Funktion individueller Ungleichheit im gesellschaftlichen Fortschrittsprozess, der in allen Bereichen des Lebens auf wettbewerbliche Innovationen konstitutiv angewiesen ist, für die es ohne Ungleichheiten keine Anreize gäbe, und zum anderen besteht für ihn die Gefahr, dass diese Kategorie unter der Bezeichnung ‚soziale Gerechtigkeit‘ von verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen dazu missbraucht wird, höchst partikuläre Interessen auf Kosten der Allgemeinheit zu verfolgen und dabei Maßnahmen durchzusetzen, die die Anreizkompatibilität und damit die einer ‚spontanen Ordnung‘ eigene Kapazität dezentraler Wissensverarbeitung letztlich zerstören können.

Ausgehend von dieser Problemexposition: einer kategorialen Unterscheidung zwischen Ergebnis- und Verfahrensgerechtigkeit, nehmen Geoffrey Brennan und James Buchanan (1985, 1993) eine Ortsbestimmung von Gerechtigkeit in der Demokratie vor. Diese Ortsbestimmung liegt auf der Linie der Hayekschen Argumentation und schreibt diese fort, indem sie eine radikale Konsequenz daraus zieht, dass es sich bei der Verfahrensgerechtigkeit um eine prozedurale, (Verfahrens)Regeln voraussetzende, Kategorie handelt: Wenn man normatives Sollen nicht mehr durch Berufung auf eine den Bürgern externe Instanz wie Gott, Kosmos, Natur, Geschichte, Evolution usw. begründen und legitimieren will, sondern statt dessen das Wollen der Menschen als einzige Quelle von Werten ansetzt – und nur einen solchen ‚normativen Individualismus‘ halten sie für einer modernen Gesellschaft angemessen –, dann kann Sollen immer nur intern, immer nur aus dem Wollen derer abgeleitet werden, die dem Sollen prinzipiell zugestimmt haben. Genau dies ist der Vollsinn von Demokratie, der in demokratisch verfassten Gesellschaften zur Geltung gebracht wird: Aus dem Wollen resultiert Sollen, indem Individuen sich auf konstitutionelle Regeln einigen, die zu befolgen verbindlich gemacht wird. Auf der Grundlage konstitutioneller Regeln werden subkonstitutionelle Regeln vereinbart, und nur in bezug auf diese subkonstitutionellen Regeln lässt sich – Brennan und Buchanan zufolge – sinnvoll von Verfahrensgerechtigkeit sprechen. Folglich ist für sie der systematische Ort der Verfahrensgerechtigkeit die subkonstitutionelle Regelhierarchie, denn nur hier ist es möglich, Gerechtigkeitsurteile nicht ‚abstrakt‘, nicht kontextunabhängig zu fällen, sondern aus dem bestehenden System institutioneller Arrangements regelinhärent abzuleiten.

|4|Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive ist nun interessant, dass eine solche Verfahrensgerechtigkeit sich primär auf Handlungen und allenfalls sekundär auf den institutionellen Handlungsrahmen bezieht. Die Kategorie der Verfahrensgerechtigkeit kann das Thema sozialer Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit des gesellschaftlichen Institutionensystems, nur insofern abdecken, als es Handlungen gibt, die das Institutionensystem gestalten, und zugleich Regeln für diese Handlungen, in bezug auf die Gerechtigkeitsurteile gefällt werden können. In diesem Sinne lassen sich etwa die Handlungen des Gesetzgebers daraufhin überprüfen, ob sie die Verfassung einhalten, oder Rechtsverordnungen daraufhin überprüfen, ob sie die Gesetze einhalten, oder Organisationsverhalten daraufhin überprüfen, ob es Rechtsverordnungen einhält usw. Für Brennan und Buchanan lässt sich die Kategorie der Verfahrensgerechtigkeit zwar auf subkonstitutionelle Ebenen, nicht jedoch auf die konstitutionelle Ebene selbst anwenden, denn hier fehlt es an jenen vorgängigen Regeln, die ein prozedurales Gerechtigkeitsurteil überhaupt erst ermöglichen. Für sie werden konstitutionelle Regeln nicht an Gerechtigkeitsüberlegungen gemessen, sondern am Wollen der Bürger. Nicht Gerechtigkeit, sondern Demokratie bestimmt demnach die Verfassungsentscheidung. In diesem Sinn handelt es sich in der Tat um eine Ortsbestimmung von ‚Gerechtigkeit in der Demokratie‘: Gerechtigkeit ist dieser Auffassung zufolge nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein wichtiges Hilfskonstrukt, mit dessen Hilfe sich Handeln, auch reformerisches, Institutionen gestaltendes Handeln auf Regelbefolgung: auf den Schutz legitimer Erwartungen und so daraufhin untersuchen lässt, inwiefern dieses Handeln zur Stabilität demokratisch verfasster Gesellschaften beiträgt.

 

An dieser Stelle lässt sich nun exakt jener Punkt markieren, an dem sich der Rawlssche Ansatz vom ökonomischen Gerechtigkeitsdiskurs unterscheidet: Rawls will eine Konzeption von Gerechtigkeit vorstellen, die sich nicht auf Handlungen, sondern auf den institutionellen Rahmen der Handlungen bezieht, nicht auf die subkonstitutionellen Regelebenen, sondern auf die konstitutionelle und suprakonstitutionelle Ebene: auf die (geschriebene) Verfassung und auf die (ungeschriebenen) Prinzipien, die der Verfassung einer modernen Gesellschaft zugrundeliegen. Pointiert zugespitzt könnte man sagen, Rawls geht es nicht um Gerechtigkeit in der Demokratie, sondern um Gerechtigkeit für die Demokratie. Ihm geht es darum, Gerechtigkeit als eine Heuristik für die demokratische Verfassungsgebung vorzustellen. Deshalb verzichtet er darauf, soziale Gerechtigkeit als eine Ausweitung von Handlungsgerechtigkeit zu konzeptualisieren. Stattdessen wählt er einen anderen Ansatz, einen Ansatz, der zudem weniger defensiv als vielmehr offensiv ausgerichtet ist, weniger die möglichen Nachteile der gesellschaftlich vorfindlichen Gerechtigkeitsdiskurse eindämmen als vielmehr die möglichen Vorteile der nachweislichen Gerechtigkeitsorientierung demokratischer Politikprozesse aneignen und für die Bürger nutzbar will.

Neben dieser programmatischen Relevanz sind es vor allem drei Merkmale, die die Rawlssche Philosophie für die Sozialwissenschaften und insbesondere für die Ökonomik interessant machen: der gesellschaftstheoretische Kern des Ansatzes; die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Gerechtigkeitstheorie, und zwar in ihrer inhaltlichen und methodischen Dimension; sowie neuerdings eine Zeitdiagnose, die das Rawlssche Forschungsprogramm heuristisch anleitet.

|5|2. Gerechtigkeit als Fairness: der gesellschaftstheoretische Kern

Für John Rawls (1971, 1979; S. 20) ist die Gesellschaft „ein Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils“. Gesellschaft wird hier ausdrücklich nicht im Nullsummenparadigma gedacht, sondern im Positivsummenparadigma. Dies ist eine folgenreiche Theoriebildungsentscheidung. Sie macht es, erstens, unmöglich, über Verteilungsfragen ‚abstrakt‘ zu reden, d.h. losgelöst von der Frage, wie der zu verteilende Kuchen, das Sozialprodukt, zustandegekommen ist bzw. in Zukunft zustandekommen soll. In Nullsummenspielen hat die Verteilung keinen Einfluss auf die Produktion. Hier gewinnt der eine, was der andere verliert. In Positivsummenspielen jedoch werden mit der Verteilung zugleich die Produktionsanreize gesetzt: Allokation und Distribution sind interdependent. Über sie kann nicht getrennt, sondern immer nur simultan entschieden (und angemessen diskutiert) werden, denn der zu verteilende Kuchen hat keine konstante Größe, sondern wächst oder schrumpft je nachdem, wie verteilt wird. Das aber bedeutet, dass es einen Spielraum gibt, in dem alle Spieler einer Ungleichverteilung zustimmen können, weil auch noch die relativ schlechter Gestellten von absolut größeren Anteilen profitieren. Durch die Wahl dieser Perspektive stellt Rawls sicher, dass sein Ansatz einen wichtigen Standard sozialwissenschaftlicher Seriosität nicht schon von vornherein philosophisch unterschreitet. Knappheit und soziale Knappheitsbewältigung, kanalisiert durch Institutionen, werden hier für die Philosophie konstitutiv, und nicht zuletzt darin liegt jenes Niveau gesellschaftstheoretischer Kompetenz begründet, das den Rawlsschen Ansatz für sozialwissenschaftliche Diskurse in besonderer Weise interessant und anschlussfähig macht.

Wichtig ist aber auch, zweitens, dass die von Rawls gewählte Perspektive in seinem Ansatz einen besonderen methodischen Status erhält: Sie fungiert als Referenzmaßstab selbst für zentrale philosophische Kategorien. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel angeführt.[5] Was eine moralische Person ist, wird nicht ‚abstrakt‘ bestimmt, sondern orientiert sich an den Erfordernissen fairer Kooperation. Auf diese Weise eröffnet das Positivsummenparadigma einen gesellschaftstheoretischen Zugang zur philosophischen Anthropologie: Rawls verwendet einen Begriff, demzufolge Personen frei und gleich und in der Lage sind, mit ihresgleichen zusammenzuarbeiten. Dieser Begriff moralischer Personalität stellt auf zwei Vermögen ab: auf die Fähigkeit, sich Gerechtigkeitsgrundsätze aktiv zu eigen zu machen, und auf die Fähigkeit, eine Konzeption des Guten auszubilden. Beides hängt eng zusammen. Für Rawls ist eine Konzeption des Guten ein geordnetes System letzter Ziele, das Individuen ihrem Handeln zugrundelegen. In eine solche Konzeption geht ein, inwiefern diese Ziele im sozialen Zusammenhang verwirklicht werden können. Genau darüber aber geben die Gerechtigkeitsgrundsätze Auskunft. Sie bilden so einen Prüfstein für soziale Kompatibilität und bewahren damit die Konzeption(en) des Guten vor privatistischer, sektiererischer Isolation. Eine Konzeption des Guten kann für Rawls nicht unabhängig von den Gerechtigkeitsgrundsätzen formuliert werden, und sie ist an diese anzupassen, sobald Widersprüche auftreten. Mit dieser Begriffsbildung werden Lernprozesse |6|konstitutiv: Kennzeichen einer moralischen Person ist das Interesse, Gerechtigkeitsgrundsätze zu erkennen – besser: anzuerkennen – und nach ihnen zu handeln sowie das Interesse, eine Konzeption des Guten auszubilden und in rationaler Weise zu verfolgen. Letztere ist also nichts Fertiges, sondern ein Projekt, das es zu verwirklichen gilt – und zwar unter gesellschaftlichen Bedingungen. Darauf macht Rawls (1992; S. 131) selbst ausdrücklich aufmerksam: Für ihn ist die Bildung des Personbegriffs in einem in mancher Hinsicht kantischen Theorieaufriss angesiedelt, unterscheidet sich von Kants Personbegriff allerdings durch einen ausgesprochenen „Vorrang des Sozialen“. Es handelt sich folglich um einen philosophischen – und hierin dezidiert normativen – Personbegriff, der mit sozialwissenschaftlichen Modellen positiver Analyse nicht verwechselt werden sollte, obwohl er in besonderer Weise durch solche Analyseergebnisse und die mit ihnen verbundenen sozialwissenschaftlichen Einsichten informiert ist.

3. Gerechtigkeit als Fairness: die gesellschaftspolitische Ausrichtung

Die Hayeksche Polemik gegen „soziale Gerechtigkeit“, die nicht den zugrundeliegenden Intentionen, sondern dem Missbrauch solcher Intentionen galt, ist einer verständnisvollen Rezeption seines Arguments nicht immer förderlich gewesen. Vor diesem Hintergrund ist es ein ausgesprochener Vorzug der Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption, dass sie eine solche Polemik nicht mitmacht und dennoch der Kategorie der Verfahrensgerechtigkeit eine absolut dominierende Stellung einräumt: Das Programm der Theorie der Gerechtigkeit besteht darin, zwischen der philosophischen Diskurstradition und den Gerechtigkeitsintuitionen der Bürger in bezug auf die grundlegenden Institutionen ihrer Gesellschaft mit Hilfe eines Verfahrens so zu vermitteln, dass über alle Differenzen hinweg ein gemeinsamer Nenner sichtbar wird, der als Basis fungieren kann, um anfallende Politikprobleme in der modernen Demokratie konstruktiv anzugehen. Es handelt sich um das Verfahren einer situativen Übereinkunft, bei der die Fairness der Situation auf das Produkt der Übereinkunft übertragen wird: Die grundlegenden Gerechtigkeitsgrundsätze erscheinen als gerecht, weil und insofern sie unter gerechten Bedingungen, d.h. durch ein gerechtes Verfahren zustandekommen.[6]

Trotz des weitgehenden Verzichts auf Polemik ist auch der Rawlssche Ansatz zum Gegenstand zahlreicher und z.T. weitverbreiteter Missverständnisse |7|geworden. Eine wichtige Quelle solcher Missverständnisse – auch dies ist für Sozialwissenschaftler interessant, wenn auch nicht überraschend – dürfte darin zu finden sein, dass Rawls das Programm seiner Theorie der Gerechtigkeit mit Hilfe von Modellen bearbeitet, die zwar nicht formal, wohl aber begrifflich präzise gefasst sind: Je nachdem, in welchem Modellkontext sie steht, erhält eine Aussage einen völligen anderen Stellenwert, so dass sie missverständlich wird, wenn man diesen Modellkontext nicht angemessen berücksichtigt. Zu den Modellen, die für ein Verständnis der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie besonders wichtig sind, gehören neben dem Begriff einer moralischen Person die Vorstellung einer wohlgeordneten Gesellschaft und die Konstruktion des Urzustands. Beide Modelle haben einen methodisch präzisen, aber unterschiedlichen Status.

(1) Die wohlgeordnete Gesellschaft fungiert als Ideal im normativen Sinn. Sie markiert den Fluchtpunkt, auf den das Programm der Gerechtigkeitstheorie angelegt ist: Eine wohlgeordnete Gesellschaft erfüllt drei Öffentlichkeitsbedingungen (Rawls, 1992; S. 110f. und 1993; S. 66f.). Erstens wird ihre institutionelle Grundstruktur – also nicht unbedingt jedes einzelne Gesetz oder gar jeder Verwaltungsakt, sondern vielmehr die Verfassung und sogar nur die Grundzüge der Verfassung: die Prinzipien der Wirtschafts- und Rechtsordnung – durch öffentliche, d.h. allgemein bekannte und konsentierte Gerechtigkeitsgrundsätze wirksam reguliert: Gerät die Entwicklung des Institutionengefüges in Widerspruch zu den Gerechtigkeitsgrundsätzen, so wird sie an diese angepasst. Zweitens ist in einer wohlgeordneten Gesellschaft das zur Beurteilung und Anerkennung der öffentlichen Gerechtigkeitsgrundsätze erforderliche Wissen selbst öffentlich: Alle Bürger teilen die hierzu nötigen Erkenntnisse über die Natur des Menschen und die Funktionsweise der Institutionen. Darüber hinaus ist in einer wohlgeordneten Gesellschaft, drittens, die Rechtfertigung der Gerechtigkeitsgrundsätze öffentlich, und zwar in dem (eingeschränkten) Sinn öffentlich, dass sie zwar nicht allgemein bekannt, wohl aber allgemein zugänglich sein muss: als inhärenter und zugleich reflektierter Bestandteil der öffentlichen Kultur, als gelebtes Selbstverständnis. Das bedeutet, dass jeder Bürger das begründete Vertrauen haben kann, im Bedarfsfall auf ein theoretisches Verständnis des gesellschaftlichen Institutionensystems zurückgreifen zu können, das ihm den sozialen Sinn der dieses System regulierenden Gerechtigkeitsgrundsätze dechiffriert.

Mit diesen drei Bedingungen gewährt eine wohlgeordnete Gesellschaft ihren Bürgern Autonomie im emphatischen Sinn – Rawls (1992; S. 88) spricht von „vollständiger Autonomie“: Voll autonome Bürger sind in mehrerlei Hinsicht frei. Zum einen hängt ihre Identität nicht an einer besonderen Konzeption des Guten. Sie bleiben sie selbst, auch wenn sie am System ihrer letzten Ziele Revisionen vornehmen. Der Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft ist frei zu lernen und in diesem Sinn unabhängig von den einzelnen besonderen Anschauungen, die er sich im Laufe solcher Lernprozesse jeweils zu eigen macht. Zum anderen sind die Bürger berechtigt, Anforderungen an das gesellschaftliche Institutionensystem zu stellen. Sie dürfen fordern, dieses solle sich an ihren Interessen orientieren, und dieser Anspruch kommt ihnen als Person, d.h. als kooperationsfähiger Bürger, zu. Es ist ihr Recht, institutionelle Strukturen – bzw. Reformen dieser Strukturen – einzufordern, die ihrem Gerechtigkeitssinn entsprechen und die sozialen Bedingungen, d.h. die Mittel bereitstellen, die sie in |8|die Lage versetzen, ihre Konzeption des Guten, d.h. ihr System letzter Ziele, zu verwirklichen.[7] Zusammengenommen findet die Freiheit vollautonomer Bürger somit darin ihre Realisation, dass diese dem gesellschaftlichen Institutionensystem im Bewusstsein ihrer Personalität innerlich zustimmen können. Bei diesem Gerechtigkeitskonzept handelt es sich folglich um eine Reformulierung des insbesondere von Friedrich August von Hayek reaktualisierten liberalen Ideals der Freiheit unter dem Gesetz, bei dem Institutionen nicht als Einschränkung, sondern als Ermöglichung und Erweiterung von Freiheit gedacht werden. In der neueren Terminologie von John Rawls lässt sich dieser zentrale Gedanke auch so formulieren: In einer wohlgeordneten Gesellschaft können die Bürger das Vernünftige rational einlösen.[8] Ihre Anreize sind institutionell so gesetzt, dass sie (der Selbstverständlichkeit) sozialer Kooperation und damit individueller Freiheit – nicht von, sondern – in der Gesellschaft förderlich sind.[9]

 

(2) Im Urzustand werden die beiden Kategorien des Vernünftigen und des Rationalen systematisch unterschieden und erst auf der Basis dieser Unterscheidung systematisch zusammengeführt: Das Rationale wird in den Parteien verortet, die als künstliche Akteure der Homo-oeconomicus-Konstruktion nicht unähnlich sind; das Vernünftige geht in den Urzustand ein in Form jener – mit Hilfe der Figur eines Schleiers operationalisierten – Bedingungen, die Fairness gewährleisten sollen und hierin in gewisser Weise den Restriktionen eines ökonomischen Modells entsprechen, indem sie den Akt rationaler Entscheidungsfindung in eine bestimmte Bahn lenken. Ganz in diesem Sinne formuliert Rawls (1992; S. 100) mit Blick auf den Urzustand: „Das Vernünftige ist dem Rationalen übergeordnet, |9|denn seine Grundsätze begrenzen … die letzten Ziele, die verfolgt werden können.“[10]

Für ein angemessenes Verständnis des Urzustands und seiner Konstruktion ist es unabdingbar, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich hier im Gegensatz zum Modell einer wohlgeordneten Gesellschaft nicht um ein Ideal, sondern um ein Darstellungsmittel handelt. Als solches hat es eine klar umrissene Aufgabe: Es dient dazu, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Begriff einer moralischen Person und den Gerechtigkeitsgrundsätzen, und zwar so herzustellen, dass diese Verbindung den Bürgern einer wohlgeordneten Gesellschaft – also einem fiktiven Publikum! – als guter Grund zur Rechtfertigung der Gerechtigkeitsgrundsätze erscheinen kann. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen im Urzustand angemessen repräsentiert sein: erstens die beiden Vermögen, die das Kennzeichen moralischer Personalität sind; zweitens die Öffentlichkeitsbedingungen einer wohlgeordneten Gesellschaft, die den Bürgern vollständige Autonomie verbürgen; und schließlich drittens jene Fairness, die sicherstellt, dass mit Hilfe der Verfahrensgerechtigkeit gerechte Grundsätze abgeleitet werden.

Erstens: Die beiden Vermögen moralischer Personalität sind im Urzustand rein formal repräsentiert (Rawls, 1992; S. 124f.): Der Gerechtigkeitssinn der Parteien ist inhaltlich unbestimmt. Sie kennen die Gerechtigkeitsgrundsätze noch nicht, auf die sie sich im Verlauf des Verfahrens ja erst noch einigen müssen. Auch ist den Parteien unbekannt, welche Konzeption des Guten sie jeweils verfolgen. Sie kennen nicht ihre letzten Ziele. Diese sind für sie hinter dem Schleier des Nichtwissens verborgen, so dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als allgemein über jene Mittel nachzudenken, die zweckmäßigerweise jedem Gesellschaftsmitglied eingeräumt werden sollten, damit es seine (ihm noch unbekannten) letzten Ziele trotzdem möglichst wirksam verfolgen kann.

Zweitens: Von den drei Öffentlichkeitsbedingungen, die eine wohlgeordnete Gesellschaft kennzeichnen, sind naturgemäß nur die ersten beiden im Urzustand repräsentiert (Rawls, 1993; S. 70f.): Von den Parteien wird verlangt, dass sie sich (nur) auf solche Gerechtigkeitsgrundsätze einigen, die das Institutionensystem wirksam regulieren können und sich mit Hilfe allgemein geteilter Überzeugungen überprüfen lassen. In den Worten von Rawls (1992; S. 114): „Grundsätze, die recht gut funktionieren könnten, vorausgesetzt, sie würden nicht öffentlich anerkannt (wie auf der ersten Stufe definiert), oder vorausgesetzt, die allgemeinen Überzeugungen, auf die sie gegründet sind, würden nicht öffentlich verstanden oder als fehlerhaft angesehen (wie auf der zweiten Stufe definiert), müssen zurückgewiesen werden.“ – Auch die drei Freiheitsmomente vollständiger Autonomie finden sich im Urzustand repräsentiert: Zum einen gibt es für die Parteien keinerlei externe Maßstäbe, keinerlei Vorgaben, sondern nur den einen internen Maßstab, dass sie selbst es sind, die die Regeln ihres Zusammenlebens und die zugrundeliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen festlegen. Ihre Bindungen sind Selbst-Bindungen. Rawls (1992; S. 125) fasst diesen Umstand |10|begrifflich als „rationale Autonomie“[11]. Sie repräsentiert Freiheit als Quelle von Ansprüchen. Freiheit als Unabhängigkeit kommt im Urzustand darin zum Ausdruck – so Rawls (1992; S. 126) –, „wie die Parteien dazu bewegt werden, der Sicherung der sozialen Bedingungen zur Verwirklichung ihrer höchstrangigen Interessen einen Vorrang einzuräumen, und dadurch, dass sie, trotz der strengen Informationsbeschränkungen, die der Schleier der Unwissenheit mit sich bringt, Gründe haben übereinzustimmen“. Eine solche Übereinstimmung bezieht sich auf jene Mittel, die eine gerechte Gesellschaft jedem Bürger zur Verfügung stellen sollte, und sie wird von den Parteien mit Hilfe eines Verzeichnisses der für die Konzeptionen des Guten benötigten Grundgüter herbeigeführt. Grundgüter sind die operationalisierbaren Mittel für die Verwirklichung der Systeme letzter Ziele. Dass man sich auf Mittel einigen kann, ohne die Ziele zu kennen, die für die Parteien hinter dem Schleier des Nichtwissens verborgen sind, zeigt die Unabhängigkeit von der jeweiligen Konzeption des Guten und ist hierin Ausdruck von Freiheit. Das dritte Element bürgerlicher Autonomie, Freiheit als Verantwortung, ist im Urzustand dadurch repräsentiert, dass dem Vernünftigen ein Vorrang vor dem Rationalen eingeräumt wird: Die mit Hilfe des Schleiers spezifizierten vernünftigen Bedingungen geben der individuell rationalen Entscheidung einen Rahmen vor, der die Parteien von vornherein nur solche Konzeptionen des Guten in Betracht ziehen lässt, die mit Gerechtigkeitsgrundsätzen vereinbar sind. Diese Verpflichtung des Rationalen auf das Vernünftige spiegelt jene Verantwortung wider, in der sich für Rawls die Freiheit moralischer Personalität ausdrückt: die Verantwortung, dass die individuellen Ziele den sozial verfügbaren Mitteln angemessen sind.

Drittens: Das Konstitutionsprinzip reiner Verfahrensgerechtigkeit besteht darin, die Gerechtigkeit materieller Normen ausschließlich aus der Gerechtigkeit des Normfindungsverfahrens resultieren zu lassen.[12] Der Rawlssche Ansatz fasst Gerechtigkeit als Fairness. Deshalb kommt es darauf an, die Situation eines fairen Urzustands so zu definieren, dass sich die Fairness auf jene Grundsätze übertragen lässt, auf die sich die Parteien in dieser Situation einigen. Dabei ist – so Rawls (1992; S. 128) – im Auge zu behalten, dass sich die Kategorie der Gerechtigkeit nicht auf alle Institutionen, sondern (zunächst) nur auf die institutionelle Grundstruktur der Gesellschaft bezieht; dass es nicht auf die Festlegung |11|sämtlicher, sondern nur auf die Festlegung der obersten Grundsätze für diese Grundstruktur ankommt; und schließlich dass für eine solche Festlegung nicht sämtliche Eigenschaften der Menschen relevant sind, sondern es ausreicht, den dauerhaft kooperierenden Gesellschaftsmitgliedern zu unterstellen, sie verfügten über ein Mindestmaß an den beiden Vermögen moralischer Personalität und seien darin gleich. Nimmt man zu diesen Voraussetzungen hinzu, dass nicht nur die Freiheit, sondern durch die symmetrische Stellung der Parteien zueinander auch die Gleichheit der Personen repräsentiert ist, so ist für Rawls (1992; S. 128f.) garantiert, „dass der Urzustand fair ist zwischen gleichen moralischen Personen, und er daher richtig darstellt, wie die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft einander sehen“. Diese Selbstsicht freier und gleicher Bürger kommt in den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen zum Ausdruck, auf die sich die Parteien im Urzustand einigen.

Damit sind die einzelnen im Urzustand repräsentierten Elemente aufgezählt und jenen Vorstellungen – dem Ideal einer moralischen Person und dem Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft – zugeordnet, zwischen denen vermittelt werden soll: Die (fiktiven!) Bürger sollen sich in den im Urzustand ermittelten Gerechtigkeitsgrundsätzen als Person wiederfinden können. – Für ein angemessenes Verständnis des Urzustands reicht es jedoch nicht aus, nur die Elemente zu kennen. Es ist nötig, darüber hinaus auch zu verstehen, wie das Modell die einzelnen Elemente arrangiert, wie es mit ihnen umgeht. Dies wiederum wird von der Aufgabenstellung gesteuert, und im Rahmen des Rawlsschen Ansatzes lautet die Aufgabe, die minimalen Voraussetzungen zu formulieren, unter denen ein Konsens über die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze gerade noch möglich erscheint. Hierfür soll nicht mehr als unbedingt erforderlich in Anspruch genommen werden, und um dies zu erreichen, gehört zum Modell des Urzustands ein elaboriertes Management des zulässigen Wissens und Nichtwissens. Dieses Informationsmanagement erfolgt im Modell des Urzustands mit Hilfe der gedanklichen Figur eines Schleiers, der für die Parteien weitgehend undurchsichtig ist und nicht mehr als ausschließlich jene Informationen durchlässt, die die Parteien für eine rationale Übereinkunft benötigen. Der Sinn dieser minimalistischen Verfahrensweise besteht für Rawls (1992; S. 128) darin, „eine klare Repräsentation des für eine kantische Sichtweise charakteristischen Begriffs der Freiheit zu haben“.