Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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(3) Poppers zweibändiges Buch über die „offene Gesellschaft“[162] ist ein Zwillingsprodukt seines Buches über den Historizismus. Beide sind nahezu zeitgleich entstanden. An ihnen wurde simultan gearbeitet. In seiner methodologischen Studie geht es Popper um den pseudo-wissenschaftlichen Charakter des Historizismus. In seiner Streitschrift für die offene Gesellschaft geht es ihm um die politischen Konsequenzen historizistischer Denkfehler. Hier wird die wissenschaftstheoretische Kritik des Historizismus durch eine gesellschaftspolitische Kritik ergänzt. Auch diese Ergänzung steht ganz im Zeichen des kritischen Rationalismus, d.h. einer Theorie sozialen Lernens.

Popper reagiert auf die totalitären Politikentwicklungen seiner Zeit mit einer Interpretation, die es ihm erlaubt, als Philosoph – d.h. als Methodologe: als Spezialist für Methodenreflexion – gegen den Totalitarismus dezidiert Stellung zu beziehen. Er interpretiert den Totalitarismus als eine Begleiterscheinung der Zivilisation, als (untauglichen) Versuch, sich der „Last der Zivilisation“[163] zu entledigen. Popper unterstellt dem Totalitarismus hehre Motive. Er sieht in ihm einen Ausdruck des politischen Willens, das Los der Mitmenschen zu verbessern – genauer: einen Ausdruck extremer Fehler, die einer durchaus wohlmeinenden Politik unterlaufen können. In diesem Sinne interpretiert Popper die Ergebnisse totalitärer Politik als nicht-intendierte Folgen intentionaler – soziale Verbesserungen intendierender – Handlungen. Für Popper besteht der Kardinalfehler totalitärer Politik darin, gesellschaftliche Lernprozesse abzuwürgen, durch zentrale Planung zum Stillstand zu bringen. Deshalb zielt sein demokratischer Gegenentwurf darauf ab, gesellschaftliche Lernprozesse institutionell zu unterstützen. Popper geht es um das Verfahren – d.h. die Methode – sozialer Reformen, und hier vertritt er die Auffassung, dass „die Demokratie – und sie allein – einen institutionellen Rahmen darstellt, innerhalb dessen eine Reform ohne Gewaltanwendung |112|und damit die Anwendung der Vernunft auf die Fragen der Politik möglich ist“[164]. Insofern ist Poppers Plädoyer für die offene Gesellschaft – genauer: für die demokratische Verfassung der offenen Gesellschaft – zugleich ein Plädoyer für gesellschaftliches Lernen, für sozialen Fortschritt durch Kritik, insbesondere durch kritische Diskussion, ein Plädoyer für soziale Verbesserungen durch schrittweise Reformen.

(4) Poppers Aufsatzsammlung mit dem Titel „Objektive Erkenntnis“[165] liegt – so der Untertitel – ein „evolutionärer Entwurf“ zugrunde. Dieser Entwurf mündet in die sog. ‚Drei-Welten-Theorie‘ und lässt sich in drei Schritten rekonstruieren.

Erstens bedient sich Popper zur Darstellung seiner Lerntheorie eines formalen Schemas[166] (Abb. 3). Demnach nimmt Lernen seinen Ausgang von Problemen (P1). Diese Probleme werden zu lösen versucht. Es entstehen alternative Lösungsvorschläge (VL1, …, n). Die Verbesserung dieser Lösungsvorschläge erfolgt durch Fehlerelimination (FE) und mündet in neue Problemstellungen auf höherem Niveau (P2).

Abbildung 3:

Poppers Lernschema

Zweitens interpretiert Popper dieses Lernschema als Evolutionsschema, d.h. er verlängert seine Lerntheorie, den kritischen Rationalismus, bis in die Biologie hinein. Die beiden mittleren Elemente des Schemas repräsentieren Mutation und Selektion. Popper betont, dass auch die biologische Evolution als aktiver Lernprozess aufgefasst werden kann: „Alles Leben ist Problemlösen“[167]. Diese Auffassung kulminiert in der Aussage, dass die Amöbe und Einstein letztlich die gleiche Lernmethode verwenden, nämlich die kritisch-rationale Methode von Versuch und Irrtum, des Lernens aus Fehlern.[168]

Drittens kann vor diesem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit die Frage neu gestellt werden, wodurch sich biologische und kulturelle Evolution unterscheiden. Poppers Antwort sieht den Unterschied im jeweiligen Selektionsobjekt: |113|Bei der Fehlerelimination im Rahmen kultureller Evolution sterben Ideen, nicht Menschen. Diese Antwort mündet unmittelbar in die begriffliche Trennung dreier unterschiedlicher Welten – Welt 1: Gegenstände und Organismen; Welt 2: subjektive Bewusstseinszustände; Welt 3: objektive Gedankeninhalte – und in zahlreiche theoretische Folgerungen dieser kategorialen Unterscheidung.[169]

Auf zwei dieser Folgerungen sei hier hingewiesen. Erstens kann Popper mit Hilfe der Drei-Welten-Unterscheidung seine erkenntnistheoretische Fragestellung präzisieren. Die vorpopperianische Erkenntnistheorie – so seine Selbsteinschätzung – war mit der Frage beschäftigt, wie sicheres Wissen möglich sei, und suchte demzufolge nach Objektivierungsmöglichkeiten subjektiven Wissens, z.B. mit Hilfe von Induktion. Auf diese Weise wurde der gesamte Komplex der Wissenschaft (fälschlicherweise) der Welt 2 zugeordnet, als Bereich gesicherten subjektiven Wissens. In dieser jahrhunderte-alten Tradition stehend, war die zeitgenössische Wissenschaftstheorie auf Welt 2 fokussiert, sie folgte einer primär erkenntnispsychologischen Orientierung. Für Popper liegt hier ein Kategorienfehler zugrunde, denn aus seiner Sicht ist die Wissenschaft nicht der Welt 2, sondern der Welt 3 zuzuordnen. ‚Biologisch‘ betrachtet, sind Theorien, Probleme, gelungene und gescheiterte Lösungsversuche, aber auch Heuristiken als exosomatische Produkte des Lebewesen ‚Mensch‘ ebenso real und ebenso autonom wie die exosomatischen Produkte anderer Lebewesen, z.B. „Spinnweben oder Wespennester, Ameisennester, Dachsbaue, Biberdämme oder Wildwechsel im Wald“[170]. Die Erforschung der objektiven Eigenschaften dieser – mit sprachlichen Mitteln – künstlich geschaffenen Welt 3 erklärt Popper zur Aufgabe seiner Erkenntnistheorie. Es geht ihm um die Produkte, nicht um die Produzenten, und in diesem Sinne gibt er als Motto aus: „Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt“[171]. Zweitens bleibt Popper nicht bei einer bloßen Unterscheidung der drei Welten stehen, sondern untersucht ihr Zusammenspiel im Evolutionsprozess. Dies führt ihn zu weiteren anti-psychologischen Folgerungen. So vertritt er etwa die These, dass das allgemeine Problem des Verstehens – angefangen von der Wissenschaftsgeschichte über die Sozialwissenschaften bis hin zur geisteswissenschaftlichen |114|Hermeneutik – als Problem falsch gestellt wird, wenn man es in Welt 2 und nicht in Welt 3 ansiedelt, wohingegen das Verstehen gefördert werde, indem man psycho-logisches Nachempfinden durch situations-logische Analysen ersetzt, die nicht den subjektiven Bewusstseinsprozessen der zu verstehenden Handlungen nachgehen, sondern ihre objektive Problemsituation zu rekonstruieren versuchen.[172]

Abbildung 4:

Poppers Werk im Überblick

(5) Abb. 4 vermittelt einen Überblick über die bisher entwickelte Lesart. Poppers Werk ist inspiriert von zwei Ereignissen, die in die Formulierung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie münden. Für diese Grundprobleme präsentiert Popper eine einheitliche Lösung: den kritischen Rationalismus als eine Theorie sozialen Lernens. Poppers Wissenschaftstheorie ist eine Anwendung des kritisch-rationalen Ansatzes, ebenso wie seine Methodologie der Sozialwissenschaften und sein Plädoyer für die demokratische Verfassung einer offenen Gesellschaft. Selbst seine Evolutionstheorie erweist sich im Kern als eine bis in die Biologie hinein verlängerte Lerntheorie.[173]

|115|5. Eine konstruktive Kritik des kritischen Rationalismus

(1) Bevor auf die Schwächen in Poppers Werk eingegangen wird, sei zunächst noch einmal eine besondere Stärke betont: die Systematizität, mit der Popper sein thematisches Spektrum erschließt, indem er den kritischen Rationalismus, (s)eine Theorie sozialen Lernens, auf scheinbar disparate Bereiche anwendet.

Popper arbeitet mit einer lerntheoretischen Analogisierung von Wissenschaft und Politik. In beiden Bereichen findet soziales Lernen statt. Beide Bereiche jedoch bleiben unter ihren Möglichkeiten, weil soziale Lernprozesse blockiert sind. Popper führt dies auf eine in beiden Bereichen verfehlte Fragestellung zurück, und er macht es sich zur Aufgabe, durch eine kategorial veränderte Fragestellung beiden Bereichen eine den sozialen Lernprozessen förderliche(re) Orientierung vorzugeben.

Für den Bereich Wissenschaft argumentiert Popper mit einer Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation. Gestützt auf diese Asymmetrie, propagiert er einen Perspektivwechsel weg vom Fundament vermeintlich sicheren Wissens hin zum dynamischen Prozess hypothetischer, fallibler Wissensfortschritte. Metaphorisch ausgedrückt, können beim Baum der Erkenntnis die Wurzeln ruhig im Dunkeln bleiben; von entscheidender Bedeutung sind die Früchte und von daher das Wachstum des Baumes.

Für den Bereich der Politik argumentiert Popper mit einer Asymmetrie zwischen Freude und Leid, zwischen der Verwirklichung von Glück und der Vermeidung von Unglück. Gestützt auf diese Asymmetrie, propagiert er einen Perspektivwechsel weg von abstrakter, utopischer Politik hin zu einer Bekämpfung konkreter Missstände. Ihm kommt es darauf an, dass Politik als ein Prozess aufgefasst wird, in dem kontinuierlich versucht wird, Irrtümer schrittweise zu revidieren. Hierfür ist eine Rückkopplung politischer Maßnahmen an die Bedürfnisse der Bürger erforderlich, wie sie in der von Popper befürworteten friedlichen Abwahlmöglichkeit der Regierung beschlossen liegt.

Poppers Auffassung zufolge lautet die dem Bereich der Wissenschaft angemessene Frage nicht: ‚Wer hat sicheres Wissen?‘, sondern: ‚Wie kann unser (stets unsicheres) Wissen vermehrt werden?‘. Analog lautet, Poppers Auffassung zufolge, die dem Bereich der Politik angemessene Frage nicht: ‚Wer soll herrschen?‘, sondern: ‚Wie können wir mit den (unvermeidlichen) Fehlern politischer Herrschaft möglichst vernünftig umgehen?‘. Das Gemeinsame dieser beiden Perspektivwechsel besteht in einer anti-autoritär gewendeten Lerntheorie, in einem kritischen Rationalismus, demzufolge weder nach autoritativen Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis noch nach autoritativen Quellen politischer Herrschaft zu fragen ist.[174] An die Stelle dieser Fragen, die für Fehlorientierungen verantwortlich gemacht werden, wird die Maxime gesetzt, aus Fehlern zu lernen. |116|Für die Wissenschaft bedeutet dies, hypothetische Deduktionen so vorzunehmen, dass die Logik als Organon der Kritik eingesetzt werden kann. Für die Politik bedeutet es, soziale Reformen als kontrollierte Experimente schrittweise vorzunehmen und ihre Erfolgskontrolle durch eine Rückkopplung per Wahlabstimmung sicherzustellen.

 

(2) Poppers Arbeiten zu Wissenschaft und Politik sind Anwendungen des kritischen Rationalismus. Sofern der kritische Rationalismus als eine Theorie sozialen Lernens ein Defizit aufweist, muss sich dieses Defizit – bei systematischer Anwendung des kritisch-rationalen Ansatzes – in beiden Bereichen niederschlagen. Weisen die Arbeiten zu Wissenschaft und Politik strukturanaloge Schwächen auf, so kann man von diesen Schwächen folglich auf ein Defizit der kritisch-rationalen Hintergrundkonzeption zurückschließen. Es ist also gerade Poppers Stärke, seine Systematizität, von der eine kritische Rezeption seines Werkes Gebrauch machen kann.

Bei der Suche nach strukturanalogen Schwächen in Poppers Werk fällt auf, dass weder seine Arbeiten zur Wissenschaft noch seine Arbeiten zur Politik ohne Appelle auskommen. Popper arbeitet mit Appellen zur Wahrheit und mit Appellen zur Freiheit. Seiner Auffassung zufolge soll sich die Wissenschaft auf die Suche nach Wahrheit begeben, und die politische Suche nach einer besseren Welt soll sich am Wert individueller Freiheit orientieren.[175]

Nun markieren Appelle aber stets einen Abbruch – wenn nicht der Diskussion, so doch – der Argumentation. Metaphorisch ausgedrückt, antworten sie auf berechtigte Fragen des Diskussionspartners nicht mit einem Argument, sondern mit einem Ausrufezeichen. Sie geben nicht Auskunft, sie geben Anweisung. Appelle indizieren einen Mangel an Diskursivität und sind insofern ein Ausdruck von – je nachdem – Verweigerung oder auch nur Verlegenheit auf der einen Seite und als solcher zugleich eine Zumutung für die andere Seite. Auf diese Weise untergraben Appelle die Rationalität der Diskussion.[176]

Im Hintergrundkonzept des kritischen Rationalismus hat Popper diesem Sachverhalt offensichtlich keinen systematischen Stellenwert eingeräumt. Will man dies ändern, so muss man die Kernbotschaft des kritischen Rationalismus reformulieren. Dass wir aus Fehlern lernen, ist zwar richtig, jedoch zu unspezifisch, |117|wenn man das Potential einer Theorie sozialen Lernens voll ausschöpfen will. Das gleiche gilt auch noch für die Aussage, dass wir aus Kritik lernen. Die sozialen Voraussetzungen argumentationsgestützter Lernprozesse werden hier nicht stark genug betont. Als These zugespitzt: Für einen reformulierten kritischen Rationalismus entfaltet sich Rationalität durch Diskursivität, durch einen Diskussionsprozess, der als Wettbewerb um das bessere Argument organisiert ist und gerade dadurch eine diskursive Überbietungsrationalität freisetzt. Argumentationsgestützte Lernprozesse beruhen auf ‚konstruktiver‘ Kritik. Dies setzt eine gemeinsame Basis voraus, die u.U. allererst geschaffen werden muss und die schaffen zu helfen eine wichtige Aufgabe theoretischer Orientierungsleistungen darstellt.

Vor diesem Hintergrund stellen sich nun zwei Fragen, auf die im Folgenden eine Antwort zu geben versucht wird: Inwiefern handelt es sich bei dieser Reformulierung um eine konstruktive Kritik Poppers; inwiefern ist sie mit seinem Werk zu vereinbaren? Und inwiefern handelt es sich um eine konstruktive Kritik Poppers; welche Veränderungen zieht die Revision des Hintergrundkonzepts nach sich?

(3) In bezug auf die erste Frage ist auf zwei Sachverhalte aufmerksam zu machen. Erstens hat Popper zwischen 1934 und 1944 sein Abgrenzungskriterium weiterentwickelt. Das ursprüngliche Kriterium, die Falsifizierbarkeit, erscheint ihm seitdem als ein Spezialfall des allgemeineren Abgrenzungskriteriums der Kritisierbarkeit.[177] Demzufolge unterscheidet sich echte Wissenschaft von bloßer Pseudo-Wissenschaft nicht unbedingt dadurch, dass ihre Aussagen empirisch getestet werden können. Vielmehr reicht es bereits aus, dass ihre Aussagen systematisch verbessert werden können. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass Lernfortschritte nicht unbedingt durch eine Konfrontation von Theorie und Realität zustande kommen müssen, sondern auch durch eine Konfrontation alternativer Theorien erzielt werden können. Faktisch kommt dies einer diskursiven Wende des kritischen Rationalismus gleich.[178] Diese Wende wird lediglich konsequent zu Ende gedacht, wenn man sich den von Popper selbst initiierten Kriterienwechsel von der Falsifizierbarkeit zur Kritisierbarkeit zu eigen macht und dann darauf aufbauend das diskursive Prinzip konstruktiver Kritik als Leitidee einer reformulierten Theorie sozialen Lernens ausweist. In dieser Hinsicht kann also recht weitgehend Kontinuität zu Popper reklamiert werden.[179]

|118|Zweitens geht es Popper in seinen Anwendungen des kritischen Rationalismus nicht nur um Kritik, sondern dezidiert um konstruktive Kritik. In seinen Arbeiten zur Wissenschaft und zur Politik bemüht er sich – zwar nicht in allen Details, wohl aber vom Grundsatz her – um die Generierung von Zweckmäßigkeitsargumenten.[180] Insbesondere seine Versuche, die jeweilige Fragestellung zu ändern, können als ein sicheres Indiz für diskursives Problembewusstsein gewertet werden: Popper versucht, Denkblockaden aufzubrechen, indem er die zugrunde liegenden Denkkategorien als verfehlt kritisiert. Popper setzt hier deutlich auf konstruktive Kritik. Er versucht, seine Gegner mit besseren Argumenten diskursiv zu überbieten. Diese diskursive Ausrichtung seiner Wissenschaftstheorie wird in folgendem Zitat besonders deutlich:

„Nach der hier vertretenen Auffassung können also die ‚erkenntnistheoretischen Probleme‘ in zwei Gruppen eingeteilt werden: Die erste Gruppe enthält die methodologischen Fragen; die zweite Gruppe die spekulativ-philosophischen, die in den meisten Fällen als Missdeutungen der methodologischen Fragen dargestellt werden können. … Wenn diese Auffassung berechtigt ist, so erweist sich die Fruchtbarkeit der erkenntnistheoretischen Methode und einer glücklichen erkenntnistheoretischen Fragestellung darin, dass es gelingt, den Fragen der zweiten Gruppe solche der ersten Gruppe zu substituieren; anders ausgedrückt: die erkenntnistheoretischen Missdeutungen nicht einfach als Scheinfragen abzutun, sondern die ihnen zugrunde liegenden echten, konkreten methodologischen Fragen aufzuzeigen und zu beantworten.“[181]

Aber auch Poppers Plädoyer für die offene Gesellschaft folgt einer diskursiven Ausrichtung. Um dies zu erkennen, muss man sich nur die Problemsituation vergegenwärtigen, die er zu bearbeiten versucht. Darauf anspielend, dass Hitler 1933 legal an die Macht gekommen ist, heißt es bei Popper (1945, 1992a; S. 148):

„Was tun wir, wenn es der Wille des Volkes ist, nicht selbst zu regieren, sondern statt dessen einen Tyrannen regieren zu lassen? … Diese Möglichkeit ist nicht an den Haaren herbeigezogen; Fälle dieser Art sind oft genug eingetreten. Und immer, wenn sie sich ereigneten, kamen alle jene Demokraten in eine hoffnungslose intellektuelle Situation, die das Prinzip der Herrschaft der Mehrheit oder eine ähnliche Form des Prinzips der Souveränität als die Grundlage ihres politischen Glaubensbekenntnisses akzeptieren. Einerseits verlangt das von ihnen akzeptierte Prinzip, sich jeder Herrschaft zu widersetzen außer der Herrschaft der Majorität, also auch der Herrschaft des neuen Tyrannen; andererseits fordert dasselbe Prinzip von ihnen die Anerkennung jeder Entscheidung der Majorität und damit auch die Anerkennung der Herrschaft des neuen Tyrannen. Es ist natürlich, dass der Widerspruch in ihrer Theorie ihre Handlungen lähmen muss. Diejenigen unter uns Demokraten, die die institutionelle |119|Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten fordern und die insbesondere auf dem Recht bestehen, die Regierung aufgrund eines Majoritätsvotums zum Rücktritt zu veranlassen, müssen daher für diese ihre Forderungen eine bessere Begründung suchen als eine widerspruchsvolle Theorie der Souveränität.“

Poppers Problemsituation ist die auf eine Denkblockade zurückgeführte Handlungsblockade zahlreicher Demokraten angesichts der Machtergreifung durch Hitler. Zur Auflösung dieser Blockaden unternimmt er nichts Geringeres, als das übliche Verständnis von Demokratie grundlegend zu verändern. Er orientiert sich an der Asymmetrie zwischen Freude und Leid und legt sein alternatives Verständnis von Demokratie darauf fest, das mit einer Tyrannei verbundene Leid zu vermeiden. Aus dieser Perspektive sind demokratische Wahlen für ihn dann ein Mittel zum Zweck. Mit dieser kategorialen Umstellung weist er einen Ausweg aus der ansonsten seines Erachtens hoffnungslosen intellektuellen Situation der Jahre 1933ff.:

„Wer das Prinzip der Demokratie in diesem Sinne annimmt, ist also nicht gezwungen, das Resultat einer demokratischen Abstimmung als einen autoritativen Ausdruck dessen anzusehen, was Recht ist. Er wird die Entscheidung der Majorität annehmen, um den demokratischen Institutionen die Arbeit zu ermöglichen. Es steht ihm aber frei, diese Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen und auf ihre Revision hinzuarbeiten.“ [182]

(4) In bezug auf die zweite Frage können hier zunächst einige Hinweise gegeben werden, bevor die nächsten Abschnitte ausführlicher zur Diskussion stellen, dass sich die Anwendungen eines reformulierten kritischen Rationalismus recht deutlich von Poppers eigenen Anwendungen unterscheiden.

Erstens hat Popper den von ihm selbst initiierten Kriterienwechsel von der Falsifizierbarkeit zur Kritisierbarkeit nicht konsequent vollzogen, mit der durchaus bemerkenswerten Folge, dass er praktisch sein gesamtes Werk – angefangen von der Wissenschaftstheorie über die Methodologie der Sozialwissenschaften bis hin zu seinem Plädoyer für die offene Gesellschaft – als nicht-wissenschaftlich einstuft, weil es nicht in empirischen Tests nachprüfbar ist.[183] Allenfalls der späte Popper scheint zu der Auffassung gelangt zu sein, dass sogar Interpretationen in den Bereich der Wissenschaft fallen, sofern sie kritisierbar, insbesondere konstruktiv kritisierbar, sind.[184]

|120|Zweitens, und dies hat nicht einmal der späte Popper erkannt, hat die Reformulierung des kritischen Rationalismus gravierende Konsequenzen für mindestens eins der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie: Sobald man das Prinzip der (konstruktiven) Kritik zur Leitidee einer Theorie sozialen Lernens macht, erübrigt sich die Frage nach dem Abgrenzungskriterium. Poppers Versuch, den ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ als Pseudo-Wissenschaft überführen zu können, zielt auf eine Diskreditierung des Gegners, auf einen Abbruch der Diskussion. Eine solche Abgrenzung bewirkt eine diskursive Ausgrenzung, nicht aber eine diskursive Überbietung durch bessere Argumente. Dies lässt erwarten, dass die in deutlicher Kontinuität zu Popper erfolgte Reformulierung des kritischen Rationalismus werkimmanent eine gewisse Sprengkraft entfalten könnte. Der Bestätigung dieser Erwartung dienen die nächsten drei Abschnitte. Sie diskutieren für jede Ebene des thematischen Spektrums anhand eines Anwendungsbeispiels, inwiefern die vorgeschlagene Re-Formulierung zu einer Re-Aktualisierung des kritischen Rationalismus beitragen kann.