Ketzer, Chemtrails und Corona

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Von alten Schlangen und Superverschwörern

Ein Produkt der Zeit Neros ist auch die neutestamentarische Offenbarung des Johannes - ein Text, auf den sich Verschwörungstheoretiker bis heute berufen. Darin wird der „große Drache, die alte Schlange, die den Namen Teufel und Satan trägt“, beschrieben. Ihm zur Seite stehen zwei weitere Geschöpfe, zum einen das Tier aus dem Meere, „das hatte zehn Hörner und sieben Köpfe und auf seinen Hörnern zehn Diademe und auf seinen Köpfen Namen voll Lästerung“ (Offb. 13,1). Dieses Tier wird häufig als Verkörperung der antichristlichen politischen Macht gedeutet. Zum anderen wird noch ein zweites Tier beschrieben, das die Menschen zur Anbetung des ersten verführt. Dieses Tier verkörpert die geistigen Kräfte, die dazu verführen wollen, dem Satan zu dienen. Zu erkennen ist das Tier an seiner Zahl, nämlich der 666.

Bis heute wird diese Zahl von christlich-fundamentalistischen Verschwörungstheoretikern als Zeichen der Macht des Antichrists gedeutet. Zwar erscheint es als Überinterpretation, die metaphorisch geprägte Offenbarung als Verschwörungstheorie zu deuten, in der Gott im Hintergrund als Superverschwörer fungiert. Doch zweifelsohne beeinflusst dieser Text bis heute das Denken von Verschwörungstheoretikern. Die Aufforderung, den Verstand zu nutzen, um die Zeichen des Bösen zu erkennen, nutzen christlich fundierte Verschwörungstheoretiker nach wie vor, um überall Zeichen für das beginnende Zeitalter des Antichrists zu suchen. Der bei Verschwörungstheoretikern ausgeprägte Zeichenwahn hat vermutlich hier seinen Ursprung.


Großer Drache mit dem Namen Satan: Auf die Bilderwelt der Offenbarung des Johannes berufen sich Verschwörungstheoretiker bis heute

Sodomie und Hostienfrevel? – Das Mittelalter

Im Mittelalter sehen Verschwörungstheoretiker hinter allem Übel das Wirken des Teufels. Ob Sodomie bei den Templern, Schadenzauber bei Hexen (und übrigens auch Hexern) oder jüdische Ritualmorde: Keine Unterstellung ist so abwegig, dass sie nicht von willigen Vollstreckern geglaubt würde.

Philipp IV., König von Frankreich, galt als frommer Mann. Seine Epoche, die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, war in dieser Hinsicht eine Zeit der klaren Verhältnisse: Gott und der Teufel rangen miteinander, Sünder und Gerechte kamen entweder in den Himmel oder aber ins Fegefeuer und die Hölle. Dämonen bevölkerten die Lüfte. Magier und Hexen ritten auf dem Teufel in Tiergestalt durch die Lüfte - ob in Wirklichkeit oder im vom Teufel inspirierten Traum, darüber stritten Volk und Gelehrte.

Die Religion beanspruchte den ersten Platz im Leben und Denken aller Menschen, Könige wie Bauern, Kleriker wie Bürger, Männer wie Frauen. Einfach schien es, bei Unheil im Leben der Menschen, sei es Krieg oder Missernte, Krankheit oder Hungersnot, die Schuldigen und Missetäter dingfest zu machen. Selbst da, wo nur mit der Einbildungskraft des mittelalterlichen Menschen ein Übel zu sehen war, erlaubten es Verschwörungstheorien, vermeintlich Schuldige beim Schopf zu greifen.


Auf dem Scheiterhaufen: „Hexen“ als Opfer des Verschwörungsdenkens

Anfänge der Templer

Bei mittelalterlichen Verschwörungstheorien hatte stets der Teufel seine Hand im Spiel. Einen Bund mit dem Teufel unterstellte Philipp IV. auch dem Orden der Templer, als er im Jahr 1307 einen Angriff gegen die Fratres militiae templi (lat. Ritterbrüder des Tempels) führte.

Die Tempelritter wurden 1120 von dem französischen Jerusalempilger Hugo von Payens gegründet. Aus einer losen Bruderschaft europäischer Ritter entstand ein geistlicher Orden, der das Ziel hatte, die Pilger im Heiligen Land zu beschützen und damit die bereits dort ansässigen Johanniter, die durch Seelsorge und Krankenpflege das Leben in Jerusalem erträglicher machten – Ritter wurden sie erst später – zu entlasten. Templer nannten sie sich, weil sie ihr Hauptquartier auf dem Tempelberg in Jerusalem in der Nähe des einstigen Tempels des Salomo bezogen. Als erste verbanden sie das Ideal des Mönchs mit dem des Ritters. Wie andere Ordensleute auch legten sie das Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam ab. Zugleich waren sie aber auch bereit, um der Sache Christi Willen Blut zu vergießen – damit erweiterten sie das ursprünglich der Friedfertigkeit verpflichtete Ideal der Mönche beträchtlich.

Das Siegel der Templer klärt darüber auf, wie sie sich verstanden: Es zeigt zwei Ritter, die gemeinsam auf einem Pferd reiten – damit signalisieren sie Armut und Gemeinschaft. „Schmucklos und kahl“, so formuliert es der Historiker Arno Borst, „war ihre Unterkunft“. Die Templer trugen „einen weißen leinenen Mantel mit achteckigem blutroten Kreuz, dem ausdrucksvollen Symbol des Märtyrertums, und einen weißen leinenen Gürtel, das Zeichen der Reinheit des Herzens“, wie es ein Historiker der vorvergangenen Jahrhundertwende beschreibt.

Die Regel des Ordens stammte von Bernhard, einem einflussreichen Zisterzienser und Abt im von ihm selbst gegründeten Kloster von Clairvaux. Im Laufe der beiden Jahrhunderte seines Bestehens sammelte der zunächst Armut und Entsagung verpflichtete Orden immer mehr Besitz an. So wurden die Templer offenbar von immer mehr Menschen als überheblicher Ritterorden betrachtet, der die Askese gegen gutlaufende Geschäfte getauscht hatte. Zu seinen besten Zeiten zählte der Orden etwa 7.000 Angehörige. Zu seinem Besitz gehörten wohl 870 Burgen und andere Eigentümer. Einen schlechten Ruf erarbeiteten sich die Templer nicht zuletzt dadurch, dass sie in ihr Ordensleben manche suspekt scheinenden Einflüsse des Orients aufgenommen hatten. Verlorene Schlachten im Heiligen Land führten schließlich zu einer Schwächung des Ordens und zu Ansehensverlust.

Machtbewusst und erfindungsreich: Philipp IV. von Frankreich

In Frankreich nun waren die Templer den dortigen Königen unbequem. Die Curia in compotis, die Rechnungskammer des Königs, tagte im Pariser Temple. Der Schatz des Königs befand sich also unter dem Schutz, aber eben auch unter der Verwaltung der Tempelritter. Die nur dem Papst unterstehenden und gleichsam als Staat im Staate agierenden Templer waren Philipp ein Dorn im Auge.

Obwohl sich der König streng religiös zeigte, hatte er sich auch in der Vergangenheit schon mit kirchlichen Institutionen angelegt. Unter anderem hatte Philipp den Machtkampf mit Papst Bonifatius VIII. gesucht, um Steuern auf kirchliche Güter erheben zu können. Seine Getreuen scheuten sich nicht, einen Anschlag auf den Papst zu verüben: An den Folgen des sogenannten Attentats von Anagni verstarb der greise Bonifatius VIII. Seine notorisch leeren Kassen hatte Philipp bereits 1306 versucht zu füllen, indem er die französischen Juden enteignen und vertreiben ließ. Ähnlich ging er in den Jahren 1301 und 1309 bei den finanzstarken Lombarden vor. Nicht zuletzt war dem König daran gelegen, seine Machtbasis zu vergrößern. Doch die bis heute aufsehenerregendste Tat Philipps bestand freilich im Angriff auf den Templerorden, den er mit der „Blitzartigkeit eines Tigersprungs“ durchführte, um es mit den Worten der Historikerin Barbara Tuchman auszudrücken.

Seit November 1305 war Clemens V. im Amt – ein Papst, der seinen Sitz 1309 auf Druck Philipps nicht in Rom, sondern in Avignon nehmen musste, das im Einflussbereich der französischen Könige lag. Der Zeitpunkt für einen Schlag gegen den Orden schien günstig. Zwielichtige (manche Historiker meinen: gekaufte) Zeugen hatten bereits Anfang 1305 schwere Vorwürfe gegen die Templer vorgebracht. Die Zeugen behaupteten, bei Aufnahme in den Orden müsse Christus dreimal verleugnet werden. Dreimal müssten die Novizen auf das Kreuz speien. Auch gebe es beim Aufnahmeritual sodomitische Praktiken – Ordensangehörige küssten angeblich den untersten Rückenwirbel, den Mund oder Nabel eines Mitbruders, sie beschworen Dämonen und beteten das Kopfidol Baphomet an – eine angesichts der Tätigkeit des Ordens im Heiligen Land plausibel scheinende Unterstellung, denn bei Baphomet handelt es sich um eine Verballhornung des Namens Mohammed. Ein weiterer schwerer Vorwurf bestand darin, dass die Templer angeblich die Heilige Messe schändeten, indem sie sie mit ungeweihten Hostien feierten. Kurz, die angeblichen Zeugen führten eine ganze Reihe von Unterstellungen an. Einige davon stammten aus dem üblichen Arsenal, das gegen mögliche Ketzer aufgeboten wurde, andere waren auf das Wirken des Ordens im Heiligen Land zurückzuführen. In jedem Fall war es eine finstere Verschwörung mit dem Teufel, die König Philipp IV. den Templern unterstellte.

Das Ende eines Ordens – und der Anfang seiner Geschichte

In aller Heimlichkeit ließ Philipp den Schlag gegen die Templer vorbereiten. Am 13. Oktober 1307 wurden – in einem klaren Verstoß gegen die Privilegien des Ordens – die französischen Ritter verhaftet. In Paris betraf das 138 Ordensbrüder, von denen 134 unter Folter die Verfehlungen gestanden, die ihnen zur Last gelegt wurden. Gegen den Widerstand anderer europäischer Monarchen und des Papstes ließ der König den Ordensangehörigen den Prozess machen. Der Widerstand des ebenfalls verhafteten Großmeisters der Templer, Jacques de Molay, konnte die Vernichtung des Ordens nicht verhindern. Eine Verhandlung nutzte der Großmeister zwar gemeinsam mit 40 anderen Brüdern, um dem Volk seine Foltermale zu zeigen und auf das abgepresste Geständnis hinzuweisen – doch trotzdem nahmen die Dinge ihren Lauf. Brüder, die den Orden verteidigten oder ihre Geständnisse widerriefen, wurden als sogenannte relapsi (lat. Zurückgefallene) behandelt und zum Tode verurteilt.

 

Unter dem Druck des Königs hob der Papst den Orden schließlich am 22. März 1312 auf. Jacques de Molay, der eine weitere Versammlung, bei der er auf der Schandleiter vor der Kathedrale von Notre-Dame öffentlich seine Sünden bekennen sollte, dazu nutzte, die Folterspuren zu zeigen und sein Geständnis zu widerrufen, wurde am 18. März 1314 verbrannt. Angeblich soll Jacques noch auf dem Scheiterhaufen König und Papst verflucht haben – tatsächlich starben binnen eines Jahres König und Papst, jener unter mysteriösen Umständen auf der Jagd. Damit beginnen die fortwirkenden Legenden rund um den Orden.


Nachwirkend? Der letzte Großmeister der Templer verfluchte König und Papst

In anderen europäischen Ländern wurden die Templer weitaus milder behandelt als in Frankreich. Auf der iberischen Halbinsel etwa gingen sie in neu geschaffenen Ritterorden auf, die fortan den dortigen Monarchen dienstbar waren. Der Besitz des Ordens ging nach der Auflösung im Wesentlichen auf die Johanniter über, aber auch der französische König sicherte sich seinen Anteil.

Eine Verschwörungstheorie diente also als Vorwand für die Zerschlagung des Templerordens. In Verschwörungstheorien jedoch lebt er auch weiter. So gibt es etwa die – von Umberto Eco in seinem Roman Das Foucaultsche Pendel ironisch verarbeitete – Vorstellung, der Orden oder jedenfalls sein Wissen existiere im Geheimen bis heute. In Teilen bezog sich auch die Freimaurerei des 18. Jahrhunderts auf angebliches Geheimwissen der Templer, das über die Rosenkreuzer an sie weitergegeben worden sei. Symbole und Rituale des Ordens wurden von einzelnen Logen verwendet. Auch aus diesem Grunde sah der Abbé Barruel, der um 1800 die Französische Revolution auf einer Verschwörung der Freimaurer und Illuminaten zurückführte, hier die Templer mit im Spiel.

Wanderprediger und andere Influencer

Verschwörungstheorien verbreiteten sich zu allen Zeiten mit Hilfe unterschiedlicher Medien. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Art der für die Verschwörungspropaganda genutzten Mittel keinen Effekt auf deren Verbreitung hätte. In der Antike herrschte -auch wenn es schriftliche Verbreitungsmöglichkeiten gab - die Mündlichkeit vor: Die Geschicklichkeit des Redners machte den Erfolg der Verschwörungstheorie aus.

Im Mittelalter waren es vor allem Mönche, die Verschwörungstheorien unters Volk brachten. Die Idee von den jüdischen Brunnenvergiftern verbreitete sich mit Hilfe von Wanderpredigern in Europa. Aber auch Bildlichkeit ist ein wichtiger Aspekt: Darstellungen etwa von Hostienfrevel begehenden Juden, die sich in Kirchen finden, hielten die judenfeindlichen Ideen wach - bis in die Gegenwart.

Mit der Entstehung des Buchdrucks wurde dieses neue Medium auch für verschwörungstheoretische Zwecke genutzt. Der Hexenhammer etwa diente dazu, die Idee unters Volk zu bringen, Hexer und vor allem Hexen hätten sich mit dem Teufel gegen die Christenmenschen verschworen. Über Jahrhunderte wurden Verschwörungstheorien mit Hilfe von Büchern, Flugblättern und später auch Zeitungen verbreitet. Alte Medien wie etwa die Predigt blieben natürlich weiterhin wirksam.

Im 20. Jahrhundert können als bevorzugte Propagandamittel das Plakat und dann auch der Rundfunk gelten. Wie die sowjetischen Kommunisten nutzten die Nationalsozialisten auch das Kino für die Verbreitung von Verschwörungstheorien, etwa in Filmen wie Jud Süß. Auch Ausstellungen und Kunst wurden in diesem Sinne in den totalitären Systemen zu Propagandainstrumenten.

Heute ist das Verbreitungsmittel der Wahl vor allem das Internet. Ohne redaktionelle Hindernisse kann jeder seine Denkweisen unter die Leute bringen. Die Echokammern des Netzes verstärken den Effekt einstmals völlig abseitiger Verschwörungstheorien. Waren sie in den demokratischen Gesellschaften des Westens in den 1960er bis 1990er Jahren vielleicht als Geraune bei Stehpartys präsent, erobern sich Verschwörungstheorien mit Hilfe von für das Smartphone optimierten Videos heutzutage einen großen Wirkungskreis.

Feinde Christi von Anfang an?

Verschwörungstheorien wurden im Mittelalter immer in irgendeiner Art und Weise religiös begründet – der Teufel hatte als Bündnispartner der Verschwörer seine Hand im Spiel. So verhält es sich auch bei den Unterstellungen gegen die Juden, die ebenfalls erstmals im Kontext der Kreuzzüge historisch wirksam wurden. Kein Blatt sei, so schreibt die große Historikerin und Dichterin Ricarda Huch, „in der Geschichte der Menschheit so tragisch und geheimnisvoll wie die Geschichte der Juden“. So sind auch keine Verschwörungsunterstellungen – sei es im Mittelalter, in der Neuzeit oder unserer Gegenwart – so schmierig und gehässig wie eben die, die sich gegen die Juden richteten und richten.

Ihre Wurzel haben judenfeindliche Verschwörungstheorien wohl in einigen Aussagen des Neuen Testaments. Im Zentrum der Unterstellungen steht dabei der Vorwurf des Gottesmordes, für den Pontius Pilatus, römischer Statthalter von Galiläa, die Verantwortung erfolgreich auf die Juden abwälzte, wenn wir der Bibel glauben dürfen. Ein Wort Jesu, in dem er den Juden oder vielmehr seinen Mitmenschen vorwarf, den „Teufel zum Vater“ zu haben, wurde ebenfalls lange Zeit als argumentative Grundlage des Judenhasses genutzt.

Bereits noch zu Zeiten, in denen sowohl Christen als auch Juden Minderheitsreligionen im Römischen Reich waren, entwickelte sich ein starkes Konkurrenzverhältnis der monotheistischen Religionen. Führende Theoretiker des Christentums nahmen für sich in Anspruch, das alleinige Auslegungsrecht für das Alte Testament zu besitzen. Als das Christentum im 4. Jahrhundert Staatsreligion wurde, verschlechterte sich die Lage der Juden zusehends, auch wenn es mitunter Gegenbewegungen gab.

Papst Gregor, der in diesem Sinne seinen Beinamen „der Große“ zurecht trägt, garantierte den Juden die ungestörte Ausübung ihrer Religion und schützte sie vor Nachstellungen. Ähnlich hatte auch schon der Ostgotenkönig Theoderich gehandelt, der es abgelehnt hatte, Juden zwangsweise zum Christentum zu missionieren, da er den freien Willen als Grundlage des Glaubensbekenntnisses ansah.

Vorwürfe gegen die Juden kamen, wie gesagt, vor allem im Kontext der Kreuzzüge auf, deren Fanatismus sich nicht nur gegen die „Ungläubigen“ im Heiligen Land, sondern auch gegen die im eigenen Land richtete. Als potenziell stete Verbündete des Teufels wurden den Juden zahlreiche Verschwörungen gegen die Christenheit unterstellt. Nachhaltig wirksam waren etwa die in Predigten oder auf Bildern – den Massenmedien der damaligen Zeit – verbreiteten und tausendfach rezipierten Vorstellungen, die Juden würden zu rituellen Zwecken christliche Kinder töten und Hostienfrevel begehen. Dieser besteht im Denken der damaligen Zeit darin, dass die Juden geweihte Hostien – die im katholischen Verständnis lebendiger Leib des Herrn sind – durchbohrten, um Jesus ein weiteres Mal zu töten.



Notgeld mit Lügenbildern: Noch im 20. Jahrhundert glaubten Menschen an jüdischen „Hostienfrevel“

Gefälschte Anschuldigungen und echte Lynchmorde

Besonders abstoßend erscheint der Vorwurf, Juden töteten zu rituellen Zwecken christliche Kinder. Dieser tauchte erstmals 1144 in England auf. Der Benediktinermönch Thomas von Monmouth, der diese Legende verbreitete, führte als Beweis für den Ritualmord an William von Norwich einen Traum der Mutter des Jungen an. Einen besonders bekannten Fall bietet der 1475 gestorbene Simon von Trient, der am Ostersonntag tot unter dem Haus des jüdischen Gemeindevorstehers aufgefunden wurde. Gegen den Willen der Kurie – die Päpste verwiesen Ritualmord und Hostienfrevel ins Reich der Legende – wurden die jüdischen Männer des Ortes festgenommen. Bereits 1236 war eine von Kaiser Friedrich II. eingesetzte theologische Kommission zu dem Schluss gekommen, dass Ritualmorde mit der besonderen Rolle des Blutes im Judentum nicht vereinbar sind. Als Teil einer fanatischen Volksfrömmigkeit bestand der Glaube daran dennoch weiter.

Vierzehn der festgenommenen jüdischen Männer wurden 1476 zum Tode verurteilt und starben auf dem Scheiterhaufen. Um Simon von Trient entwickelte sich ein regelrechter Wallfahrtskult – so kurbelte der angebliche Ritualmord den Fremdenverkehr an und wurde zum Wirtschaftsfaktor. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hob der Heilige Stuhl 1965 den Kult um Simon als gegenstandslos auf.

Immer wieder kam es infolge der Verschwörungsvorwürfe zu Morden und Massenmorden an den europäischen und vor allem an den deutschen Juden. Für vermeintliche und tatsächliche Unglücke wurde der „ewige Fremde“ als Sündenbock ausgemacht. In Folge der Großen Pest wurden Vorwürfe laut, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Erste Lynchmorde gab es 1348, im selben Jahr verbot Papst Clemens VI. in einer Bulle Gewalt gegen Juden ohne Gerichtsverfahren. Auch städtische Behörden versuchten zunächst, die Juden vor Nachstellungen zu schützen, beugten sich jedoch meist rasch dem nach Vergeltung lechzenden Volkswillen. Hinzu kam, dass auch die Städte selbst vom Raub jüdischen Eigentums profitierten. In Savoyen fand 1348 ein Prozess statt, bei dem den Juden unterstellt wurde, Gift für die Brunnenvergiftung aus dem Ausland erhalten zu haben. Unter Folter abgepresste Geständnisse brachten das erwünschte Ergebnis, und die Gerüchte über die Juden verbreiteten sich wie ein Steppenbrand durch ganz Europa. Anfang 1349 gab es Ausschreitungen gegen die Baseler Juden, von denen viele auf der Rheininsel verbrannt wurden. Selbst Juden, die sich zunächst durch die Taufe gerettet hatten, drohte dann erneut Unheil, als die Pest im weiteren Verlauf des Jahres 1349 tatsächlich Basel erreichte.

Das antijüdische Verschwörungsdenken wurde aufgrund dieser religiös bedingten Vorbehalte zu einer regelrechten internationalen Verschwörung. Der Soziologe Werner Bergmann beschreibt es so: „[Die Juden] avancieren vom Helfer des Antichrists zu selbstverantwortlich Handelnden, die auch nicht mehr endzeitlich überwunden werden können, sondern die Christen ihrer Herrschaft dauerhaft unterwerfen werden.“ Ungehört verhallte die Argumentation des Papstes, der darauf hinwies, dass zum einen auch Juden von der Pest betroffen seien und diese zum anderen auch in Gebieten wüte, in denen es überhaupt keine Juden gebe. Obwohl auch manche Landesherren die Juden schützten, wurde das europäische Judentum infolge der Brunnenvergiftungspogrome stark dezimiert. Sein Fortleben fand fortan unter schwereren Bedingungen statt. Offenkundig hatten die über Jahrhunderte zugestandenen Rechte keine Wirkung mehr. Ende des Jahrhunderts und dann erneut im 15. Jahrhundert kam es zu weiteren Übergriffen und Vertreibungen.