Überleben als Verpflichtung

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Das Theaterstück hat mich wieder nach Berlin gebracht. Dabei habe ich feststellen müssen, wie viel mich mit dieser Stadt verbindet, wie sehr ihre Atmosphäre meinem Wesen entspricht und daß das Berlinern die einzige Sprache ist, die ich wirklich beherrsche. Ich gebe aber zu, daß es in dieser Stadt Gegenden gibt, mit denen ich schlimme Erinnerungen verbinde und die ich meide. Bedeutender aber ist für mich die Bekanntschaft dieser jungen Generation, die sich so frei und offen gibt und die mir und meinem Anliegen so viel Sympathie entgegenbringt. Und dennoch: Nichts, gar nichts schien sich geändert zu haben, als Ende 1991 Rechtsradikale gegen Ausländer vorzugehen begannen. Es waren schlimme Bilder, die schon damals über den Bildschirm liefen und die mich unweigerlich zurückversetzten in jene Zeit, in der in Deutschland Mensch nicht gleich Mensch war. Wieder schlossen Deutsche ihre Fenster wie bei den Judenverfolgungen in den dreißiger Jahren, um nicht vom Brandgeruch oder den Schreien der Menschen belästigt zu werden, denen der Zufall eine dunkle Hautfarbe oder geschlitzte Augen beschert hat. Als in der Öffentlichkeit bekannt wurde, daß auch ich durch Schmähschriften belästigt und am Telefon durch antisemitische Hetzparolen beleidigt wurde, erhielt ich Hunderte von Briefen anderer Art, in denen Berliner ihr Entsetzen und ihre Scham darüber ausdrückten. Unter diesen Briefen waren auch Zuschriften von Kindern, die mich wissen ließen, daß sie zu mir stehen. „Wenn Sie mal Rat brauchen, dann kommen Sie zu uns“, schrieben Dreizehnjährige. „Wir helfen Ihnen, wenn Ihnen jemand etwas antun will.“ Diese Briefe und die Blumen, die Unbekannte vor meine Wohnungstür legten, ermutigten mich, gaben mir die Kraft, die ich brauche, um weiterhin vor jungen Menschen Zeugnis abzulegen über meine Vergangenheit und die ihres Landes, die für mich immer gegenwärtig bleibt.

Aber vor allem möchte ich der jungen Generation am Beispiel derjenigen, die ihren Kopf für uns riskierten, beweisen, daß es selbst im Nazi-Deutschland nicht nur schlechte Menschen gegeben hat. Nein, es gab jene, wenn auch viel zu wenige, die ganz sicher waren, daß jeder Mensch auf dieser Erde ein Recht auf Leben hat, gleich welcher Herkunft, gleich welcher Hautfarbe, gleich welcher Religion, und die trotz aller Gefahren für sie selbst entsprechend handelten.

Diese Menschen möchte ich der Öffentlichkeit nahebringen und sagen: Erkennen Sie diese Menschen als Helden an, ehren Sie sie, stellen Sie sie der Jugend als Vorbilder hin! Denn sie sind wahrhaftig ein Beispiel für Zivilcourage, eine Haltung, die die Lebensführung eines jeden von uns bestimmen sollte.

Verlorene Jugend
Jugend – was war das?

„Sechs Kinder will ich haben“, sagte ich zu dem verdutzten Gerd schon bei unserem ersten Zusammentreffen. Warum gerade sechs, konnte ich ihm auch nicht erklären. Es war ohnehin an der Zeit auszusteigen. Wir befanden uns in der S-Bahn. Gerd Kohbieter und ich besuchten die jüdische Mittelschule in der Großen Hamburger Straße 27. Wir waren beide 16 Jahre alt. Nach Schulschluß fuhren wir S-Bahn, der einzige Ort, der uns zum Händchenhalten und zu verliebten Gesprächen geblieben war.

Gerd war sehr groß für sein Alter. Er hatte eine schlanke, sportliche Figur und überragte die meisten seiner Klassenkameraden. Seine Bewegungen wirkten wie die eines älteren Galans, freundlich, höflich, beschützend. Er hatte blonde Haare, glasklare blaue Augen, die neugierig in die Welt guckten.

Kurz, er war der Typ eines jungen Mannes, dem manches junge Mädchen sehnsuchtsvoll hinterherblickte. Kein Wunder, daß ich auf diese Eroberung – meinen ersten Freund – sehr stolz war.

Gerd und ich hatten uns auf dem Sportplatz Eichkamp kennengelernt. Einmal im Jahr veranstalteten die jüdischen Schulen Berlins dort ein Sportfest. Mannschaften der verschiedenen jüdischen Schulen kämpften um wertlose, aber begehrte Trophäen. In der Erinnerung sind diese Sportfeste die schönsten Tage meiner Schulzeit. Alles Bedrückende, das auf uns lastete, war dort wie weggeblasen. Wenn wir allerdings zur Rückfahrt in die Schule in die S-Bahn einstiegen, war diese gelöste Atmosphäre ebenso schnell wieder verflogen. Auch wenn wir nicht darüber sprachen, wir ahnten, daß wir von den anderen Fahrgästen als jüdische Kinder erkannt und angepöbelt werden konnten. Schließlich schürte das nationalsozialistische Regime, das seit 1933 im Amt war, Haß gegen Juden, nannte sie Verbrecher, Kriminelle, Insekten, die man zertreten müsse.

Seit diesem Sportfest fuhren Gerd und ich jeden Tag nach Schulschluß mit der S-Bahn zwischen Bahnhof Börse (heute Hackescher Markt) nahe unserer Schule und Savignyplatz, der meinem Zuhause am nächsten gelegenen Station, hin und her. Zwar war auch das begrenzt. Meine Mutter wußte genau, wann ich aus der Schule zu Hause sein müßte. Mit Ausnahme der Tage, an denen wir hitzefrei hatten, und die waren selten. Meine Mutter sah meine Beziehung zu Gerd nicht gern. Sie kannte ihn nicht und legte auch keinen Wert darauf, ihn kennenzulernen. Sie fand nur, daß man in solchen Zeiten, in denen Juden Freiwild für Verfolgungen und Diskriminierungen sind, am besten und am sichersten zu Hause aufgehoben war. Möglichkeiten „auszugehen“ waren Juden ohnehin verwehrt. Darunter fielen Besuche ins Theater, ins Kino, ins Konzert, ins Museum. An den meisten Cafés hingen Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“. Manchmal war die Sprache noch drastischer. Das Strandbad Wannsee war die erste Badeanstalt in Berlin, die uns den Eintritt untersagte. So blieb Gerd und mir nur die S-Bahn als einziger Treffpunkt, wo wohl aus der Situation heraus mehr Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden, als nach einer so kurzen Bekanntschaft üblich war.

Eines Tages hielt ich vergebens Ausschau nach Gerd. Ich hörte von einem Klassenkameraden, er sei ganz plötzlich nach Shanghai abgereist, einem der wenigen Orte in der Welt, in die Juden damals noch einreisen durften. Die meisten Länder hatten ihre Grenzen längst geschlossen oder setzten finanzielle Bedingungen für eine Einwanderung fest, die kein deutscher Jude mehr erfüllen konnte. Gerd habe seine Mutter beschworen, mit ihm zu gehen, so erzählte man mir. Der nichtjüdische Vater hatte die Mutter bis zu seinem Tode vor der Verfolgung als Jüdin beschützen können. Damit war es danach vorbei. Und trotzdem lehnte die Mutter es ab, Berlin zu verlassen.

So war der 16jährige allein in das unbekannte China gefahren. Er habe dort als Zauberer gearbeitet, ein Hobby seiner Kindheit.

In Nachtlokalen und Bars fand er Beschäftigung. So schrieb er mir fast fünfzig Jahre später aus Berlin nach Tel Aviv. Mein Buch „Ich trug den gelben Stern“ in der Auslage eines Buchladens in Berlin hatte ihm den Weg zu mir gewiesen.

Wir trafen einander wieder, im Berlin der neunziger Jahre. Seine Haare waren schlohweiß geworden. Ein kleiner Spitzbart in der gleichen Farbe sollte wohl den Künstler, als den er sich empfand, unterstreichen. Seine blauen Augen strahlten nicht mehr. Mit seiner Körperfülle paßte er gerade noch in mein kleines Auto. Mich betrachtend, sagte er nur, er sei wirklich stolz darauf, daß er mit 16 Jahren schon einen so guten Geschmack bewiesen habe.

Die Lebensbedingungen in Nazi-Deutschland brachten es mit sich, daß ich Gerd bald vergaß. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939 nahmen die Nazis keine Rücksicht mehr auf die Reaktionen des Auslands auf ihre Politik. Sie verfolgten, diskriminierten, quälten jüdische Menschen fast täglich mit neuen Verboten, Anordnungen, Gesetzen. Sie erklärten Juden zum Abschaum der Menschheit, schuldig an allen Unbilden, die der Welt widerfahren waren.

Es war der 19. September 1941, an dem wir das erste Mal gezwungen waren, einen „Judenstern“ zu tragen. Ich fürchtete mich vor der Reaktion der Berliner. Aber sie blieb aus. Ich hatte allerdings mein eigenes kleines Problem. Monatelang war ich jeden Morgen an der U-Bahn Station Bayerischer Platz in den gleichen Zug und in das gleiche Coupé gestiegen. Das hatte auch ein junger Mann getan. Ich hatte keine Ahnung, wer er war. Wir hatten kein Wort miteinander gewechselt. Wir hatten uns bloß angesehen. Es war da offenbar eine gegenseitige Sympathie entstanden, wie unsere Blicke es deutlich machten. Ich ahnte, daß er kein Jude war. Ich gebe zu, daß ich mich vor seiner Reaktion fürchtete, wenn er an mir den „Judenstern“ entdeckte. Seine Blicke bewiesen mir an jenem Tag, daß meine Sorge unbegründet war. Doch nach jenem ersten Tag des Sterntragens habe ich ihn nie wiedergesehen. Das mag Zufall gewesen sein, vielleicht auch Angst seinerseits, Kontakt zu Juden wurde im Reich der Nazis streng geahndet.

Meine Mutter sprach ihre Überraschung aus, als ich ihr meine Bereitschaft, ja sogar meinen Wunsch mitteilte, zur Kartenstelle gehen zu wollen. Dort erhielten Juden jeden Monat ihre Lebensmittelkarten, die nichtjüdischen Bürgern ins Haus geliefert wurden. Die Rationen, die uns auf diesen Karten mit dem aufgedruckten gelben „J“ zustanden, waren wesentlich geringer als die der Nichtjuden. Man konnte früh oder spät zur Kartenstelle kommen, stets wartete dort eine lange Schlange Menschen vor dem Gebäude darauf, eingelassen zu werden. Man ließ uns warten, manchmal stundenlang. Ganz gleich, ob es regnete oder ob es schneite oder ob es brütend heiß war. Um sich die Zeit zu vertreiben, unterhielten sich die Leute, flüsternd versteht sich, um den Beamten keinen Vorwand für eine Bestrafung zu liefern.

Einmal entdeckte ich in der Masse der Menschen einen jungen Mann, der mir bekannt vorkam. Und tatsächlich, er bestätigte mir, daß wir die gleiche Schule besucht hatten. Ich weiß nur noch, daß er Erich hieß, groß gewachsen war, aber stark hinkte. Wenn jemand mit ihm sprach, beugte er sich ein wenig vor und verstärkte damit den Eindruck großer Bescheidenheit. Wenn jemand ihm seinen Platz in der Schlange wegnehmen wollte, ließ er es geschehen, wohl um Streit unbedingt zu vermeiden. Er lächelte stets freundlich und, meiner Erinnerung nach, verschwand dieses Lächeln nie von seinem Gesicht. Auch er gab seiner Freude Ausdruck über unser Treffen. Ich fühlte, daß dies keine Floskel war.

 

Die vielen Stunden, die man uns warten ließ, gaben uns viel Zeit für Gespräche. Sie drehten sich meist um das Schicksal ehemaliger Schulkameraden. Einige hatten in fernen Ländern Asyl gefunden. Natürlich waren wir neidisch; oft nur des Abenteuers wegen. Wir bedauerten jene, die, nur um aus Deutschland herauszukommen, nach Aleppo in Syrien geflohen waren, eine Stadt, in der man noch ohne Visum aufgenommen wurde. Sie war durch die ansteckende Aleppo-Beule bekannt geworden. Da es uns verboten war, Zeitungen zu kaufen, man uns das Radio weggenommen hatte und wir zu kulturellen Veranstaltungen nicht zugelassen waren, waren die Themen unserer Gespräche begrenzt. Bücher standen uns nicht zur Verfügung. Die meisten hätten uns auch nicht interessiert. Es war meist Literatur, die nazistische Gedanken propagierte. Andere Bücher jüdischer oder ausländischer Autoren waren in Deutschland nicht mehr zum Verkauf oder Vertrieb zugelassen.

Und doch redeten wir unentwegt und ungeniert. Ich spürte deutlich, daß den Menschen um uns herum unsere Freude aneinander nicht entging. Wir sprachen darüber, wie wir uns die Welt ohne Krieg und Terror vorstellten und was wir in dieser Welt einmal tun wollten. Ich wollte damals noch Lehrerin werden, also meinem Vater nacheifern. Er wollte Ingenieur werden, Autos bauen, die gerade dabei waren, die Straßen zu erobern. Wir taten so, als ob das Leben wie selbstverständlich noch vor uns läge. Das war natürlich mit dem Ende des Naziregimes verbunden. Abitur machen, studieren, was jüdischen Jugendlichen verboten war – das waren die Grundlagen für unsere Ziele.

„Also bis zum nächsten Monat“, so pflegten wir uns zu verabschieden und winkten einander nach. Als ich am für die Ausgabe der Lebensmittelkarten festgesetzten Tag im folgenden Monat nach ihm suchte, fand ich ihn nicht. Ich fürchtete, ihn verpaßt zu haben, und fragte Umstehende, ob sie einen jungen Mann, der stark hinkte, gesehen hätten. Er muß wohl zu den ersten gehört haben, die deportiert worden waren. Auswanderungen waren seit Oktober 1941 verboten. Fast zur gleichen Zeit hatten die Deportationen jüdischer Menschen „nach dem Osten“, wie wir in Unkenntnis des wahren Zieles zu sagen pflegten, begonnen. Erich blieb für immer verschwunden.

Jedes Mal, wenn Hans mich berührte, zuckte ich zusammen und rückte von ihm ab. Hans Rosenthal war mein erster Freund, den ich zu lieben glaubte. Er war 39 Jahre alt – also 19 Jahre älter als ich –, unverheiratet und lebte mit seiner Mutter zusammen. Ich hatte ihn 1942 in der Blindenwerkstatt Otto Weidt, Rosenthaler Straße 39, kennengelernt, wo ich während der Jahre 1941 bis 1943 arbeitete. Otto Weidt war einer der wenigen Arbeitgeber in Berlin, von dem insgeheim bekannt war, daß er Juden gut behandelte und ihnen half, wo und wie er nur konnte. Er haßte die Nazis. Hans, den er als Materialverwalter der Jüdischen Gemeinde kannte, belieferte er mit Besen und Bürsten. Sie waren für die verschiedenen Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde bestimmt.

„Wenn alles vorbei ist, dann heiraten wir doch“, so pflegte ich Hans zu vertrösten, „und wandern nach Amerika aus“, fügte er hinzu. Sicher könne er dort wieder als Ingenieur arbeiten wie vor 1933 in der Glühbirnenfabrik Osram im Berliner Wedding.

Hans insistierte nicht. Er war ein ruhiger und besonnener Mensch, der nicht nur so aussah, als könne er keiner Fliege ein Leid antun. Er war groß und schlank mit linkischen Bewegungen, die Unsicherheit ausdrückten. Er hatte ein freundliches Gesicht, das stets zum Lächeln bereit schien, ein Eindruck, den der tiefe Einschnitt in seinem Kinn noch verstärkte. Wenn er anderen zuhörte, war sein Mund meist einen Spalt geöffnet. Er konnte auch hell auflachen, und er tat dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Dabei zog er die eine Schulter etwas hoch wie eine Geste der Entschuldigung für seinen plötzlichen Gefühlsausbruch.

Hans und ich trafen meist an Sonntagen zum Kaffee bei seiner oder meiner Mutter zusammen. Andere Möglichkeiten hatten wir nicht. Wir mußten ohnehin ab zwanzig Uhr abends bis morgens um sechs Uhr zu Hause sein. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel war nur für den Weg zum Arbeitsplatz zugelassen. Unsere Telefone waren abgeschaltet worden. Glücklicherweise wohnten wir nicht weit voneinander. So blieb uns nur, unter dem Kaffeetisch Händchen zu halten oder uns verstohlen zu küssen, wenn die Mutter das Zimmer verließ, um den Kaffee zu holen.

Ein Freund bot uns schließlich sein Zimmer an, in dem wir ab und zu am Tag allein sein konnten. Obwohl ich die Stunden herbeisehnte, flößte mir der mit wenigen alten Möbeln ausgestattete Raum Unbehagen ein. Einmal sprach Hans ganz offen mit mir über körperliche Beziehungen. Aber ich weinte nur und bat ihn inständig, mich in Ruhe zu lassen. Meine Sinne waren auf nichts anderes als auf die Abwehr von Gefahren eingestellt. Meine Nerven waren ständig zum Zerreissen gespannt. Immer wenn wir uns trennten, weinte ich vor Angst, er würde wie die anderen ohne mein Wissen deportiert, und ich würde ihn nie wiedersehen. Ich weinte und weinte und klammerte mich an ihn.

Meine Mutter machte keinen Hehl daraus, daß ihr meine Verbindung zu Hans nicht recht war. Eifersucht war sicher einer der Gründe dafür, denn sie verstand wohl besser als ich, daß der so viel ältere Hans eine Art Vaterersatz für mich war und mir den Halt gab, den sie mir nicht geben konnte. Sie fürchtete auch, und das sprach sie auch aus, daß ich Hans heiraten und sie allein „in den Osten“ deportiert werden würde – mit einem unbekannten Ziel. Während Hans, als verdienter Funktionär der Jüdischen Gemeinde, mit mir in das sogenannte Vorzugslager Theresienstadt eingewiesen würde.

Nichtjüdische Freunde meiner Eltern, die von dem schrecklichen Morden jüdischer Menschen aus ausländischen Rundfunksendern und von deutschen Soldaten erfahren hatten, beschworen uns, uns mit ihrer Hilfe zu verstecken. So geschah es dann auch.

Den Kontakt zu Hans hielt ich aufrecht, der uns vor bevorstehenden Aktionen der Gestapo warnte. Er selbst wurde dreimal abgeholt und wieder freigelassen. Die Gestapo wußte um seine guten Beziehungen zu Berliner Grossisten und zwang ihn, sie mit Mangelware zu versorgen. Die Grossisten verstanden sehr wohl, daß das Leben des Juden Hans Rosenthal von derartigen Lieferungen abhing.

Wir überlebten. Hans und seine Mutter im Jüdischen Krankenhaus, das die Gestapo in ein Gefängnis umgewandelt hatte. Meine Mutter und ich in verschiedenen Verstecken in und um Berlin. Hans erinnerte mich an unsere Gespräche für eine gemeinsame Zukunft. Doch ich erschrak. Heiraten? Ich hatte doch noch gar nicht richtig gelebt – und wies ihn ab, vertröstete ihn. Er verzieh mir das nie und wanderte nach Amerika aus. Ich hörte nie wieder von ihm.

Ich blieb mit einem schlechten Gewissen zurück.

Erinnerungen an zwei Finsterwalder Jungen

1943 waren sie acht und fünf Jahre alt. Zwei Jungen, Brüder, der ältere hieß Dieter, der jüngere Peter. Ständig hatten sie Hunger, bettelten um ein Stück Brot oder eine Kartoffel. Sie waren im Jüdischen Krankenhaus in Berlin inhaftiert. Ihr Vater war kurz nach der Geburt Peters ins KZ Buchenwald eingeliefert worden. Ihre Mutter galt als verstorben.

Beide waren in Finsterwalde geboren worden. Dort war ihr Vater aufgewachsen. Dessen Mutter, eine Schwester meines Vaters, war geschieden und konnte ihre drei Kinder nicht allein ernähren. Willy, so hieß der Vater der beiden Jungen, kam zu uns nach Finsterwalde und wuchs mit mir zusammen auf. Als er die Volksschule beendet hatte, nahm ihn Emil Galliner als Lehrling in sein Kaufhaus. Wir verließen Berlin 1926 oder 1927. Willy aber, knapp 17jährig, blieb in der Stadt, in der er sich heimisch fühlte. Er wurde aktiver Sportler und später ein Autonarr, eine Tatsache, die ihm in der Nazizeit zum Verhängnis werden sollte. Die Nazis nahmen eine simple Autostrafe zum Vorwand, ihn als sogenanntes „asoziales Element“ schon 1938 ins KZ zu sperren. In Wirklichkeit suchten sie damals kräftige junge Männer, die ihnen das KZ Buchenwald aufbauten. Seine Kinder blieben zunächst bei der nichtjüdischen Mutter, die Willy noch vor den 1935 erlassenen Nürnberger Rassegesetzen, die eine eheliche Verbindung zwischen Juden und Nichtjuden verboten, geheiratet hatte.

Seine beiden Jungen kamen Anfang der vierziger Jahre ins Jüdische Krankenhaus in Berlin, wo die Gestapo eine Dienststelle hatte, ein Gefängnis und ein Arbeitslager unterhielt. Diese waren im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße eingerichtet worden zu einer Zeit, als Berlin als „judenrein“ galt. Am 27. Februar 1943 waren alle noch in Berlin verbliebenen Juden in der sogenannten „Fabrikaktion“[1] abgeholt und wenig später zu Tausenden „in den Osten“ deportiert worden. Im Jüdischen Krankenhaus blieben Kranke zurück, die auch dort behandelt wurden, bis man sie nach ihrer Gesundung, als transportfähig erklärt, deportieren konnte. Im Gefängnis waren hauptsächlich „Untergetauchte“ untergebracht, die sich der Deportation hatten entziehen wollen, aufgespürt worden waren und bis zur Abfahrt eines Deportationszuges dort blieben. Juden aus „Mischehen“, die durch Heirat mit einem Nichtjuden vor Deportationen geschützt waren, wurden sofort nach dem Tode des nichtjüdischen Partners ins Gefängnis des Krankenhauses gebracht, um ebenfalls bei nächster Gelegenheit „in den Osten“ deportiert zu werden. Noch in den letzten Kriegstagen des Monats März 1945 gingen von dort Züge ab. Nun allerdings nur noch in die KZs innerhalb Deutschlands. Die Vernichtungslager in Polen waren für die Deutschen nicht mehr erreichbar.

[1] Fabrikaktion, so genannt, weil die Gestapo die letzten Juden Berlins auch von ihren Arbeitsstätten in den Fabriken, in denen sie Zwangsarbeit leisten mußten, abholten.

Die beiden Jungen waren mutterseelenallein in diesem Gefängnis, aus dem es keinen Weg nach draußen gab. Jeder, der dort Dienst tun mußte – Ärzte oder Schwestern oder anderes Hilfspersonal der Gestapo mit irgendeinem „arischen“ Vorteil –, kannte die Kinder. Sie hatten selber wenig zu essen. Aber das Mitleid für die beiden Jungen war groß, und man opferte ihnen schon mal eine Kartoffel oder ein Stück Brot. Sie hatten niemanden mehr auf dieser Welt – das war bekannt – außer ihrem Vater, der sich im KZ natürlich nicht um seine Kinder kümmern konnte. Aus Gründen, die nicht mehr geklärt werden können, hatte die Mutter die beiden Jungen Anfang der vierziger Jahre, als die Verfolgung der Juden immer stärkere Formen annahm, in die Obhut ihrer Eltern gegeben.

Berichten zufolge, die die jüdische Großmutter, also meine Tante, in Berlin erreichten, sei die Mutter eines Tages an einer Lungenentzündung gestorben. Und schließlich starben auch die Großeltern, bei denen die Jungen eine Bleibe gefunden hatten. Die Jungen galten als „Mischlinge ersten Grades“ und waren nach den Nazigesetzen nicht zur Deportation bestimmt. Das spätere Vorhaben, Mischlinge oder Juden aus Mischehen dennoch zu deportieren, mußte aufgegeben werden. Im Zuge der sogenannten „Fabrikaktion“ Ende Februar/März 1943 waren auch sie bereits verhaftet worden. Aber mehr als 200 „arische“ Ehefrauen und Angehörige demonstrierten über eine Woche lang vor dem Sammellager in der Rosenstraße und erwirkten die Freilassung ihrer jüdischen Angehörigen. Ein Aufbegehren gegen das Naziregime, das in Deutschland einmalig blieb.

Nach der Befreiung am 8. Mai 1945 suchte meine Mutter die beiden Jungen und fand ihre Spuren in dem ehemaligen jüdischen Waisenhaus in Berlin-Niederschönhausen. Ihr Vater, von dessen Überleben wir auf diese Weise erfuhren, hatte sie einen Tag zuvor von dort abgeholt. Willy hatte sieben Jahre im KZ Buchenwald zubringen müssen, wo er neben schwerster Arbeit auch noch medizinischen Experimenten ausgesetzt war. Dennoch ließ er sich in Weimar, nur wenige Kilometer von seiner Folterstätte entfernt, nieder. Seine Jungen, die nie ein Familienleben kennengelernt hatten, schickte er nach kurzer Zeit nach Palästina mit der Begründung, sie würden in Deutschland keine Zukunft haben. Dort wuchsen sie in einem Heim auf. Die Sehnsucht nach einer Familie ließ vor allem den Jüngsten nie los. Er war einer der ersten, mit einem israelischen Paß, der eine Einreiseerlaubnis in die DDR erhielt, um den Vater wiederzusehen. Er suchte aber auch nach seiner Mutter, an deren Tod er nicht glauben wollte. Und tatsächlich, so sein Bericht, fand er sie in Westdeutschland. Sie aber wollte ihn nicht wiedersehen, wohl auch nicht an ihn erinnert werden. Sie empfing ihn nicht. Es ist heute nicht mehr feststellbar, ob die Mutter damals ihren Tod vorgetäuscht hatte, um sich aus Angst der Kinder mit dem jüdischen Makel zu entledigen, oder ob die Information über ihren Tod nur der jüdischen Großmutter galt, um alle Kontakte abzubrechen, oder ob der Sohn einer Halluzination erlag.

 

Trotzdem dieser Sohn in Israel eine eigene Familie gegründet und auch schon Enkelkinder hat – ähnlich wie sein älterer Bruder –, hat er nie wieder seine Ruhe gefunden. Mal wollte er wieder in Deutschland zu Hause sein. Dann wieder zog es ihn nach Israel zurück. Vor einigen Jahren starb er in Israel.

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