Magie

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INES WITKA

MAGIE

Theater der Lust

Band 3

Roman


Theater der Lust, Rausch

Copyright © Ines Witka im Gatzanis Verlag, Stuttgart 2021

www.ineswitka.de; www.gatzanis.com

Copyright ©2021 by Ines Witka

Autorin: Ines Witka

Gestaltung: Ines Witka

Fotografie: ©Vince Voltage; www.vincevoltage.com/

Model: Ita – It’s art; http://ita-its-art.wixsite.com/ita-its-art Gesamtherstellung: Bookwire Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH, Frankfurt

Die Verwertung der Texte (im Print und digital), auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-948161-09-5

Plüsch, Porno und Party

Um meine Erregung abzureagieren, renne ich die Zachariasstraße entlang. Es sind nur wenige Autos und noch weniger Menschen unterwegs. Als ich in die Buschallee einbiege, ist die Straße wie leergefegt. Ich jogge die Strecke mehrmals in der Woche, wenn auch selten nachts um ein Uhr. Ich weiche einem Hundehaufen aus. Die Nachtluft ist milde. Es riecht nach Gras, und morgen früh sind bestimmt die ersten Blüten der Forsythien aufgegangen. Ich bin seit einer halben Stunde unterwegs und habe es gleich geschafft. Ich hätte vom Theater aus auch ein Stadtmobil nehmen können. Doch ich wollte laufen. Laufen und schwitzen. Mich spüren und gleichzeitig betäuben. Ich hatte geglaubt, im Publikum ein bekanntes Gesicht entdeckt zu haben. Das Gesicht von Alexander. Nach dem Schlussapplaus rannte ich sofort in den Zuschauerraum – in der Reihe, in der ich ihn vermutete, sah ich allerdings nur noch leere Stühle. Und kam mir dumm vor. Beim Gedanken an Alexander wird mir eiskalt, und ich erhöhe das Tempo. Ich weiß noch genau, wie »auserwählt« ich mich gefühlt hatte, als er mir vor Jahren einen Heiratsantrag machte. Als er mir den Ring an den Finger steckte, war ich glücklich. Nun dreht sich mir schon der Magen um, wenn ich bloß daran denke, dass er im Publikum gewesen sein könnte.

Kurz bevor ich den Altbau erreiche, wo ich im dritten Stock wohne, überholt mich ein Auto und zieht abrupt nach rechts auf den Bürgersteig. Ein Mann steigt aus dem teuren Wagen und versperrt mir den Weg. Ich zucke zusammen. Gleich darauf erkenne ich ihn im orangenen Licht der Straßenlaterne: Es ist Roland.

»Hast du mir einen Schreck eingejagt!«

»Ich habe dich auf der Bühne gesehen Viktoria – schon ein gewagtes Stück! Ich war mit Alexander in der Vorstellung.«

Also doch. Meine Knie werden weich. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf.

»Bist du mir gefolgt?«

»Ich hatte Alexander beiläufig nach deiner Adresse gefragt.«

»Was willst du hier, nachts um ein Uhr?«

»Ich dachte, wir könnten noch was trinken gehen. Komm, sag Ja. Bitte!« Er nähert sich. »Ich war schon immer scharf auf dich.«

Er versucht, mich an sich zu ziehen.

»Lass mich los.«

»Und wenn ich nicht will?«

»Klar willst du. Du bist ein anständiger Kerl.«

Er lässt meine Schultern los. Was ist nur in ihn gefahren? Roland war einer der nettesten Freunde von Alexander gewesen. Er müsste jetzt knapp über fünfzig sein. Sein sich lichtendes Haar ist graumeliert. Er neigte schon immer zu einer gewissen Fülle, was sich heute deutlicher zeigt, als ich es in Erinnerung habe.

»Roland, was soll das?«

»Aus Respekt vor Alexander habe ich dich nie angemacht. Er ist mein bester Freund, und ich bewundere ihn.«

»Und was hat sich jetzt geändert?«

»Ihr seid geschieden. Und …« Er lacht rau. »Und du bist offensichtlich nicht prüde. Bei dem was ihr im Theater so treibt!«

Ein unangenehmes Frösteln läuft mir den Rücken hinunter. »Du spinnst. Lass mich vorbei, sonst schreie ich.«

Er weicht zurück, geht zur Fahrerseite. »Was bekommst du für einen Abend im Theater? Ich zahl dir das Doppelte, das Dreifache. Denk über meinen Vorschlag nach.«

Er steigt ein, fährt sofort los und ist gleich darauf verschwunden. Allein stehe ich auf dem menschenleeren Bürgersteig und zweifle, ob dieser merkwürdige Vorgang überhaupt stattgefunden hat. Da lassen mich meine Beine im Stich. Benommen setze ich mich auf die nächste Bank.

So also denken meine ehemaligen Freunde über das Theaterstück Abendessen mit berühmten Fotografen. Zuerst war es nur ein Geheimtipp unter kulturell Interessierten oder sexuell Aufgeschlossenen. Doch allmählich entwickelte sich das Lustspiel des Liliths Secret Theatre zum Dauerbrenner. Für jede Vorstellung ist die Nachfrage zwei- bis dreimal so groß wie die Zahl der verfügbaren Karten. Ausgedacht hat sich die sinnenfreudige Performance meine beste Freundin Gil, Künstlerin und Intendantin des Liliths Secret Theatre, das sich auf experimentelle Stücke spezialisiert hat. Beim Gedanken an Gil wird es mir wieder warm ums Herz.

Es war vor knapp einem Jahr, als ich mich auf eine Anzeige des Theaters gemeldet hatte und das Wagnis eines Auftritts eingegangen war. Danach stand sie mir im enggeschnittenen roten Latexkleid gegenüber und gratulierte mir zu meinem ersten Auftritt im Liliths. »Ich bin Gil«, hatte sie gesagt. Und: »Du hast mit deinem Auftritt zu einem sehr gelungenen Abend beigetragen. Alle genießen nun völlig enthemmt das Fest.« Was sie als gelungen bezeichnete, war für mich ein Desaster gewesen. Ich wollte diese Frau mit ihrer blassen Haut, dem rot geschminkten Mund und den lackschwarzen, zu einem Bubikopf geschnitten Haaren nie wieder sehen. Und Ralf, den Mann an ihrer Seite, der mich engagiert hatte, auch nicht.

Ich sage stumm »Danke«, dass sich seitdem so vieles geändert hat. Ich wollte die beiden dann doch wiedersehen. Ralf, weil er mit seiner Größe, seinen Grübchen, seinen lockigen Haaren, seinen Lachfältchen, seinen warmen grauen Augen, seiner Kreativität und Aufmerksamkeit meiner Vorstellung von einem Traummann sehr nahe kam. Die Grübchen mochte ich auf den ersten Blick, als ich ihm für die Bewerbung im Liliths gegenüber saß.

Gil, weil sie mich in Sekunden mit ihrer Präsenz, ihrer außergewöhnlichen Kleidung, ihrem selbstbewussten Blick, ja, der Art, wie sie ihre Zigarette hielt, überwältigt hatte. Außerdem konnte mein Leben nur besser werden. Ich misstraute mir und meinen Fähigkeiten als Kommunikationsdesignerin, hatte keine Freunde, keine Arbeit und keine Zukunftsvision, saß die meiste Zeit in meiner Wohnung und grübelte.

All das hat sich geändert! Ich habe sogar zwei Jobs. Schon morgens freue ich mich auf meine Arbeit in der Agentur vibrant nerves, deren Inhaber und Geschäftsführer Ralf ist. Nachmittags gehe ich eine Tür weiter zu Gil ins Theater und präsentiere ihr meine Recherche-Ergebnisse, Texte und Ideen. Aktuell planen wir gemeinsam das nächste Stück Alice im Vulva-Land. Viele Aufgaben, vor denen ich mich anfangs so gefürchtet habe, kann ich jeden Tag besser lösen. Ralf übernimmt die Bühnengestaltung, ich recherchiere die Inhalte, und Gil kümmert sich um den ganzen Rest. Das neue Stück war ihre Idee gewesen: Wir zeigen eine szenische Reise durch die Epochen, was in verschiedenen Jahrhunderten über die Lust der Frau geschrieben und aufgeführt wurde. Ich habe bei meinen Recherchen schon überraschende Informationen gefunden. Was für eine aufregende Sache!

Die Stücke sind sehr verschieden, beide jedoch sehr erotisch und ähnlich inszeniert: als Stationen-Theater, das die Zuschauer mit einbezieht.

Für den ersten Akt von Abendessen mit berühmten Fotografen dienten als Inspiration Fotos von Künstlern und Künstlerinnen, die die erotische Fotografie geprägt haben. Ich habe eine kleine Rolle und spiele ein schüchternes Modell, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich zu zeigen und sich zu verstecken. Nur für wenige Minuten ist mein Busen entblößt. Doch offensichtlich genügte dies, um Roland zu ermutigen.

Trotz seines Erfolges läuft das Stück nur an zwei Wochenenden im Monat. Wir wollen die Spiellust und Spontanität des Ensembles und der Gäste nicht durch zu viele Aufführungen überstrapazieren, denn das Stück lebt davon, dass die Schauspieler auf Zurufe aus dem Publikum reagieren. Unser Mitmach-Programm hat sich in der hedonistischen Szene herumgesprochen. Sobald eine weitere Aufführung des Stückes angekündigt wird, sind die Karten schnell ausverkauft. Im vergangenen Jahr wollten tausende von Besuchern dabei sein. Viele von ihnen besuchen die Aufführungen mehrmals und spielen immer wieder begeistert mit. Schon vor Beginn der Vorstellung schreitet Ella als sinnliche Rubensfrau wie eine Göttin die Treppen im Haus auf und ab. Im Foyer werden kleine Szenen gespielt. Wer das Theater zum ersten Mal besucht, bemerkt nicht, wer von den Akteuren zum Ensemble gehört und wer von den Besuchern mitmischt. Das Publikum folgt unserem Dresscode, trägt wie die Schauspieler sexy Kostüme, Glitzer und Glamour.

Als sich der große Publikumserfolg abzeichnete, haben wir im Theaterfoyer eine Fotowand aufgestellt und davor Requisiten arrangiert: ein dick gepolstertes ockerfarbenes Sofa, verschnörkelte Stühle, ein ovaler Tisch mit Vase, Gläser und Champagnerkühler. In einer Vase sind üppig rote Rosen drapiert. Dort inszenieren sich Besucher, um Teil einer großen analogen Fotocollage zu werden, die wir auf Instagram unter einem dafür generierten Hashtag veröffentlichen. Ansonsten ist es verboten, im Haus zu fotografieren oder zu filmen.

 

Die Vorstellung auf der Bühne folgt keiner starren Handlung. Die Begegnungen zwischen den Schauspielern wirken wie zufällig. Immer wieder agieren Darsteller mit Zuschauern. Gil wählt, ganz Diva, aus vorüberflanierenden Männern einen Liebhaber aus. Marc und Philipp haben sich Vintage-Hasselblad-Kameras umgehängt. Sie sind die Einzigen, die die Szenen, die zwischen subtiler und offener Erotik changieren, ablichten dürfen. Die Mischung der Szenen zeigt, welch ein unendliches Spektrum die Lust bietet: Sie kann kurios, radikal, zart, tief, widersprüchlich, albern, kraftvoll und vieles mehr sein. Ob das Stück deshalb so erfolgreich ist?

Rolands Vorstellungswelt hat es offensichtlich nicht entscheidend erweitert. Ich sehe es bildlich vor mir, wie er nach dem Besuch im Theater mit Alexander noch ein Glas Champagner getrunken hat und wie sie über Frauen sprachen, die es wert waren, von ihnen gefickt zu werden. Sie werden nie begreifen, dass Frauen keine Ware sind, die sie wie Möbel in einem Designerladen aussuchen und mit nach Hause nehmen können, wenn sie nur genügend dafür bezahlen. Das war es doch, was mir Roland vor nicht einmal zehn Minuten angeboten hat. Aus der Tatsache, dass ich mich auf der Bühne freizügig präsentierte, hat er nur den einen Schluss gezogen: Jetzt ist sie leichte Beute. Eine andere Botschaft, um die es eigentlich geht, scheint ihn nicht erreicht zu haben: frivol – ja. Freiheit – ja. Grenzen respektieren – ja. Achtsam sein – ja. Lust haben – ja. Frauen anschauen – nein. Frauen überrumpeln – geht gar nicht.

Vielleicht ist Abendessen mit berühmten Fotografen aber auch wegen des zweiten Aktes so erfolgreich: Sophia spielt eine der drei jungen Schwestern aus Ellen von Unwerths Sado-Maso-Märchen Revenge. Sind Frauen im klassischen Märchen meist sittsam und brav, sind die Protagonistinnen in diesem Fotoroman kein bisschen tugendhaft, sondern frech und freizügig. Sie brechen zu einem Kurzurlaub auf das Schloss ihrer Tante auf. Ihre Tante verstrickt sie, gemeinsam mit ihrem Chauffeur und dem Stallburschen, in erotische Machtspiele, in denen die drei Mädchen die Unterlegenen sind. Es kommt kein Prinz, der die jungen Frauen aus ihrer Gefangenschaft befreit. Das schaffen die drei allein. Mehr noch, sie üben Rache, indem sie die Machtverhältnisse umkehren. Dabei behalten sie ihre Sinnlichkeit und ihre Lust an der eigenen Sexualität. Die ganze Geschichte ist leicht und locker inszeniert. Vermutlich erkannte Roland auch hier nicht, dass es nicht darum geht, schönen Menschen zuzusehen, wie sie sich gegenseitig fesseln, schlagen und quälen. Sondern dass Frauen, die sich die Macht über ihren Körper zurückholen, nur gewinnen können.

Vielleicht sind die Abende inzwischen auch wegen der After-Show-Party so populär geworden, immerhin reisen Menschen aus London, Zürich und Paris extra für ein Wochenende an. Ich habe die Party dieses Mal sausen lassen. Die Aussicht, dort eventuell Alexander zu begegnen, hatte mich verstört. Allerdings war die Vorstellung, er würde sich unters Partyvolk mischen, absurd. Obwohl sich dem Herrn Professor da eine passende Gelegenheit geboten hätte, die eigene Beschränktheit aufzubrechen.

Viele Gäste wechseln nach der Aufführung die Kleidung. Diesen Moment liebe ich. Wie aufgeregt das bürgerliche Aussehen fallen gelassen wird und wie anders diese Menschen plötzlich aussehen. Der Mann, der gerade noch einen Abendanzug trug, tanzt jetzt in enganliegenden Boxershorts, mit Hosenträgern und Stiefeln zum Technosound im Foyer. Die Frau, die sich eben aus einem Paillettenkleid schälte, lässt ihre weiblichen Rundungen frei unter einem Kettenkleid schwingen.

Ich liebe es, wie jede Geste eine Verheißung wird, die Atmosphäre im Saal knistert und es doch nicht zum »finalen« Ende kommt – die große Orgie findet nicht statt. Die ist allein den Motto-Partys im Dark Light – Der Club für Ihre Wünsche und dem großen Fetischball vorbehalten. Ebenfalls zwei Projekte von Ralf und Gil. Ich war ziemlich überfordert, als ich kürzlich an so einer Party im Club teilgenommen hatte.

Das alles geht mir durch den Kopf, während mir allmählich die Kälte unter die Haut kriecht. Steif erhebe ich mich von der Bank, schüttle Arme und Beine, bevor ich, so schnell ich kann, wieder losrenne.

Meine großzügige Zweizimmerwohnung umfängt mich wie eine warme Decke. Mit allem, was sich darin befindet, ist sie mein Ort der Geborgenheit. Die geerbten antiken Möbel, die Bücher, die auf und um das königsblaue Samtsofa verstreut liegen, die mit Gemälden und Spiegel geschmückten Wände. Das Licht, das von der grau gestrichenen Zimmerdecke auf das Eichenparkett fällt und es in sanftem Beige schimmern lässt. All das ist mir vertraut und wirkt beruhigend. Im Flur kicke ich die Turnschuhe von den Füßen und gehe ins Badezimmer. Rasch streife ich die verschwitzten Kleider ab und steige unter die Dusche. Das heiße Wasser tut gut! Wohlig aufgewärmt trockne ich mich ab, schlüpfe in mein Nachthemd und dann ins Bett. Die Decke ziehe ich bis zum Hals. Still liege ich da und lausche den Geräuschen des Hauses: Das Parkett knarzt, in der Wohnung unter mir rauscht die Toilettenspülung. Unbewusst horche ich auf Klangspuren von Eindringlingen. Während ich an die Decke starre, schleichen sich Gedanken an den beängstigenden Teil meines Lebens an, der mehr als ein Jahr hinter mir liegt. Eine Zeit, in der ich mich nur mit meiner Figur, meiner Garderobe und dem beschäftigt hatte, was Alexander wichtig war. In seiner Welt gab man schon mal sechshundert Euro für ein Essen aus, verhielt sich Frauen gegenüber oberflächlich auch respektvoll, jedoch nur wenn sie schön waren und den Mund hielten. Heute arbeite ich in dem Beruf, für den ich studiert habe. Es geht mir gut mit meiner Theater-Clique. Ella, Sophia, Philipp, Gil und Ralf bringen mich in meiner Entwicklung weiter. Sie offenbaren mir Welten, zu denen ich vorher keinen Bezug hatte. Mehr und mehr gelingt es mir, Kräfte zu mobilisieren, von denen ich überhaupt nicht ahnte, dass ich sie habe. Und damit schwindet meine Angst immer mehr. Die Angst anzuecken, die Angst, Fehler zu machen. Die wunderbare Zukunft, das Abenteuer finde ich bei meinen Kollegen vom Theater, die mittlerweile die wichtigsten Menschen für mich geworden sind.

Gil hat mir ein verlockendes Angebot gemacht. »Ich bin eine Träume-Erfüllerin«, sagte sie. »Ich sehe, was vor meinen Augen geschieht. Du bist verliebt in Ralf, und Ralf ist verliebt in dich, und ihr verbringt schon so manche Stunde im Bett miteinander. Ich bin verliebt in dich und du vielleicht auch in mich. Ralf und ich sind ein vertrautes Paar. Eine wunderbare Situation. Lass uns intime Freunde sein.«

Wie wir das gestalten, weiß ich noch nicht, es ist eine ganz neue Situation für mich. Doch Gils Vorschläge sind erfahrungsgemäß aufregend, und auch dieser verspricht eine Menge Überraschungen. Die Erinnerung an François, den Franzosen, streift mich kurz, und ich lächle. Mit seinem Bild vor Augen schlafe ich ein.

Einen Tag später bin ich bereits wieder in dem prächtigen Sandsteinbau aus dem 19. Jahrhundert, in dem das Liliths Secret Theatre untergebracht ist. Ich sitze in Gils Büro. Ihr Schreibtisch ist vor lauter Malutensilien kaum zu sehen, und ihr extravagantes Parfüm mischt sich mit dem Duft der zahlreichen Bücher, die in dem großen Regal stehen. An Gil ist alles außergewöhnlich. Die Wildlederstiefel, die gemusterten Strümpfe, der Rock, die halbtransparente Bluse, deren Volants an den Ärmeln bis zu den Fingerknöcheln reichen. Die großen Ringe, die sie an beiden Händen trägt. Mit einem drückenden Kloß im Hals erzähle ich ihr von der nächtlichen Begegnung mit Roland. Sie scheint über den glimpflichen Ausgang sehr erleichtert.

»Wie geht’s dir damit?«, fragt sie.

»Das letzte Jahr war so verrückt! Nie, wirklich nie hätte ich gedacht, so weit zu kommen … Erinnerst du dich, wie wenig Bewegung in meinem Spiel war? Ach was! In meinem ganzen Leben! Und nun bin ich aktiv und lebendig.« Ich lache. »Roland scheint auch gemerkt zu haben, dass ich mich verändert habe. Früher hätte ich über seine geschmacklose Anmache albern gekichert.«

Beim Sprechen wird mir klar, dass ich mich nie wieder klein halten lasse, mich nie wieder mit einem Platz im Schatten zufriedengeben will. Ja, ich habe spektakuläre Fortschritte gemacht. Ich habe mir Freiheiten erkämpft, die mir in meinem bisherigen Leben fehlten.

Da sitze ich dieser klugen Frau gegenüber, die ich so sehr begehre. Auf ihrem Gesicht breitet sich das vertraute Lächeln aus. So, als ob sie Bescheid wüsste. Bescheid über meine Gedanken und darüber, wie Erregung in mir aufsteigt, weil ich berauscht bin von ihrem Geruch, von ihrer knabenhaften Figur, von ihren tiefbraunen Augen. In ihrer Nähe ist alles so leicht, so selbstverständlich. Sie wird mich retten, vor mir selbst, vor meiner Vergangenheit. Sie lehrt mich täglich, der Angst ins Gesicht zu sehen, meinen Körper zu spüren, zu vertrauen und zu wachsen.

Unerwartet beugt sie sich vor, greift in mein Haar, zieht meinen Kopf zu sich und küsst mich. Ich bin größer als sie, mache mich klein und rund für diesen Kuss, unter dem mein Körper bebt. Ihre Zunge ist forsch, schiebt sich zwischen meine Zähne. Ich lege meine Hand auf ihren Busen, streichle mit dem Daumen ihre Brustwarze, ertaste ihr Piercing durch den dünnen Stoff ihrer Bluse und spiele sanft damit. Mitsamt ihrem Bürostuhl zieht sie sich näher an mich heran, ohne den Griff in meinem Haar zu lockern. Meine Kopfhaut schmerzt. Ich keuche. Da löst sie sich, schiebt sich langsam wieder weg, streicht ihren Rock glatt.

»Hey, wir müssen rüber. Wir sind die Gastgeberinnen.«

Womit sie leider recht hat. Mein Puls pocht wie wild, so sehr hat Gil mein Verlangen angeregt. Aber ich beherrsche mich, nicke zustimmend und folge ihr aus dem Zimmer.

Gil schließt das Büro ab, und gemeinsam gehen wir den Flur entlang zum Theatercafé, das sonntagabends normalerweise geschlossen ist. Heute jedoch ist es der Veranstaltungsort für die Premiere des Roten Mond Salons.

Roter Mond Salon

Im Theatercafé laden Sofas, Sessel und bunt zusammengetragene Stühle zum Sitzen ein. Gerahmte Plakate, die für vergangene Theateraufführungen werben und von vibrant nerves gestaltet wurden, schmücken einen Teil der weißen Wände. Ein indirekt beleuchtetes Regal aus edlem Holz nimmt eine komplette Wand ein. In den Fächern glitzern edle Spirituosenflaschen und Gläser. Im Hintergrund ertönt ruhige Instrumentalmusik.

Ella und Sophia stellen kleine Schälchen mit salzigen und süßen Knabbereien, Gläser und Wasser auf die Tische. Zusammen sind wir ein schräges Freundinnen-Quartett: Ella tritt seit ihrer Rückkehr aus London, wo sie ein Performing-Art-College besucht hatte, regelmäßig im Liliths Secret Theatre auf. Sie strotzt vor Selbstvertrauen und geballter Weiblichkeit. Sophia ist zart und wird deshalb von vielen unterschätzt. Doch ich habe sie bei verschiedensten Auftritten neugierig und mutig erlebt. Außerdem hat sie einen Lehrstuhl an der Hochschule für Textildesign.

Googelt man Gil, findet man eine Menge Interviews mit ihr, in denen sie sich zur Performance Art äußert. Eine Kunstform in der Frauen Pionierinnen waren. Da Frauen immer wieder über ihren Körper definiert werden, sei es logisch, den Körper und dessen Identität ins Zentrum ihrer Kunst zu stellen, meint Gil. Es sind Interviews dabei, in denen Gil Künstlerinnen, nein, eigentlich alle Frauen dazu auffordert, dem sogenannten männlichen Blick auf Erotik und Sexualität eine eigene Sichtweise entgegenzusetzen. Gil schreibt gegen Sexismus im Allgemeinen und im Besonderen in der Kunst- und Theaterszene an. Man findet im Internet Fotos aus ihrer Studienzeit, auf denen sie berauschend schön ist, auf manchen nackt, auf denen sie sich als Göttin Lilith oder Kali inszeniert, auf denen sie eine Sphinx darstellt, dieses Mischwesen zwischen Mensch und Tier. Der Eros zieht sich wie ein roter Faden durch Gils Selbstporträts und wie eine Ahnung, dass diese Frau gefährlich und mächtig ist.

Die ersten Frauen betreten das Theatercafé. Kurze Zeit später wimmelt es von neugierigen Besucherinnen, und die meisten drängen sich an der großen Theke. Ich schenke Begrüßungssekt und Säfte aus und verweise auf die Namensetiketten. Um Frauen anzusprechen, die sich in einem besonderen Rahmen über weibliche Sexualität austauschen wollen, hatten wir Plakate im Theater, im Dark Light, am schwarzen Brett der Universitäten und in verschiedenen Kultureinrichtungen der Stadt aufgehängt. Nun zeigt sich, dass sich viele unserer Besucherinnen bereits kennen oder schon mal Sophia, Ella oder Gil begegnet sind. Der Salon sollte längst beginnen. Doch überall unterhalten sich die Frauen angeregt in Grüppchen.

 

Gil wartet zwanzig Minuten, dann steigt sie auf die Minibühne. Sie breitet ihre Arme weit aus und begrüßt alle Anwesenden mit einem charmanten Lächeln. »Guten Abend. Danke, dass ihr alle gekommen seid. Es bedeutet mir viel«, sagt sie und legt eine Hand auf ihre Brust. »Was ich heute mit euch beginnen möchte, ist mir und meinen Freundinnen eine Herzensangelegenheit.«

In ihrer einladenden Geste sind wir drei, Ella, Sophia und ich, eingeschlossen. Wir haben uns neben dem Podium aufgestellt, damit die Frauen wissen, wen sie ansprechen können.

»Gemeinsam mit euch möchte ich einen Forschungsraum eröffnen.« Sie verstummt, und der kurze Moment ihres Schweigens verleiht diesem Angebot eine besondere Bedeutung.

»Vorher möchte ich noch ein paar Vorurteile über den angeblich lustfeindlichen Feminismus zur Seite räumen.« Ihre Stimme ist klar und laut. »Ja, ich weiß. Dieses Wort hört ihr nicht so gerne. Ich hoffe, ihr verschließt jetzt nicht gleich eure Ohren.«

Schützend legt sie die Hände auf ihre eigenen. Ein paar Frauen lachen.

»Man will uns einreden, Feministinnen seien Spaßbremsen und das nur, weil wir klarstellen, dass der Körper der Frau keine Ware und Sexualität keine Währung ist. Sex braucht Einverständnis. Ein Ja, ich bin einverstanden, dass du mich berührst, und das Ja zur sexuellen Handlung an sich. Darum geht es uns.«

Sie hält einen Moment inne, um ihren Worten eine stärkere Wirkung zu verleihen.

»Feministinnen sind keine Spaßbremsen, nur weil sie die gewalttätigen und frauenfeindlichen Darstellungen in Sexvideos, Computerspielen und Werbung satthaben. Klar verdirbt das den Männern den Spaß, die immer noch an die Überlegenheit des Mannes glauben. Das ist allerdings deren Problem.«

In meinem »vorigen« Leben, wie ich die Zeit nenne, bevor ich das erste Mal im Liliths auftrat, kannte ich keine Frau, die Gil auch nur ansatzweise ähnlich war. Ihr zuzuhören ist für mich jedes Mal eine Offenbarung. Ihr zuzusehen, wie sie mit wenigen anmutigen Gesten Glaubenssätze beiseite wischt, ist beflügelnd.

»Immerhin reden wir bereits darüber, was wir nicht möchten. Das ist fantastisch. Doch wir reden immer noch viel zu wenig darüber, was wir mögen. Was geht in eurem Kopf vor, wenn ihr Sex habt? Das ist eine sehr persönliche Frage. Und vielleicht fürchten wir uns, darauf zu antworten. Weil die Antwort nicht in unser Bild von Gleichberechtigung passt? Weil weibliches Begehren verurteilt wird, sobald es nicht der Norm entspricht? Auch von Frauen. Doch wie kann es für Begehren eine Norm geben? Wie wollen wir unsere erotische Vorstellungswelt, die Art unseres Verlangens und unsere Wünsche erweitern, wenn wir nicht darüber sprechen? Deshalb die Frage: Was und wie begehren Frauen? Du, ich, wir?«

Mir wird heiß und kalt zugleich. Da ist sie, die Frage, auf die ich eine Antwort habe, die mir nicht gefällt, und ja, ich will nicht darüber sprechen. Grundsätzlich finde ich es wichtig, jeden Menschen zu achten. Und das tue ich auch. Gewalt lehne ich ab, und dennoch spiele ich mit diesem Kick. Der Fürst ist stark, schön und faszinierend. Er darf mich würgen, er darf mich schlagen, und er darf mir sagen, dass er weiß, was ich brauche und das sind weitere Schwänze. Den vom Hünen und den vom Prinzen, und alle drei wissen, dass ich grob genommen werden will. Mein Körper reagiert auf diese Sexszenen in meinem Kopf mit starker Erregung, obwohl oder gerade weil es ein Hardcore-Porno ist. Diese Herren der Hölle, so nenne ich sie, sind mein Dilemma, und sie existieren schon seit Langem in einem Paralleluniversum in mir. Waren sie früher zuverlässig nach jeder Auseinandersetzung mit Alexander aufgetaucht, sind ihre Auftritte zwar weniger geworden, doch nicht minder intensiv. Ich werde hier nicht über meine gnadenlosen Geister sprechen, das habe ich mir fest vorgenommen.

Gil kennt meine Fantasien und hilft mir, sie einzuordnen und manchmal auch auszuleben.

Seitdem gelingt es mir immer öfter, sie wegzuschieben. Warum ist das überhaupt wichtig? Weil ich jedes Mal, wenn es mir nicht gelingt, hinterher den Menschen verachte, den ich eigentlich lieben sollte: mich.

Ich straffe meine Schultern. Und merke, dass ich den größten Teil von Gils Rede verpasst habe.

»Wenn wir frei von Ängsten und Tabus ausprobieren könnten, was wir erleben möchten, was wäre das? Was finden wir in uns, wenn wir Bilder aus Pornos, Werbung und Filmen ausblenden? Was war das Beste, was ich erfahren habe? Wann fühle ich mich als sexuelles Wesen? Wie nenne ich mein Geschlecht?« Gil lässt ihren Blick über die Frauen schweifen. Alle hören aufmerksam zu.

Sichtlich bewegt spricht sie weiter. »Sind das einfache Fragen? Ich glaube nicht. Obwohl an unserem Geschlecht nichts Schmutziges oder Hässliches ist, scheint es schon schambesetzt zu sein, seinen Namen auszusprechen.«

Eine blonde Frau mit tiefschwarz getuschten Wimpern sitzt auf einem Barhocker. Auf ihrem Namensschild steht PIA. Sie tuschelt mit der Frau im karierten Anzug neben sich. Dann lacht sie und wirft in einer provokanten Geste ihre Haare zurück. Sie trägt große Ohrringe, die die Form einer Vulva haben.

»Wie schön! Hier hat sich eine von uns davon befreit«, reagiert Gil sofort darauf. »Wie wir das Geschlechtsorgan nennen, zeigt, welche Bedeutung es für uns hat.«

Pia ruft: »Honigtopf!« Und zieht damit weitere Blicke auf sich. »Damit locke ich die Männer an und lasse sie daran schlecken.« Einige Frauen klatschen spontan.

»Danke! So einfach kann es sein, wenn wir uns trauen, darüber zu sprechen. Weitere Ideen? Scheide?«

»Gruselig!«, ruft die Frau im karierten Anzug.

»Klingt nach Mittelalter und Medizin«, ergänzt Pia.

»Vagina? Muschi? Vulva? Geheimer Garten? Ihr könnt euch gleich über die Begrifflichkeiten austauschen.«

Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie cool ich es fände, wenn nun alle anwesenden Frauen mit den Füßen stampfen und dazu im Takt Vul-va-Vul-va-Vul-va rufen würden. Das muss ich nachher unbedingt Ella sagen, sie könnte so etwas initiieren.

»Es ist also nicht damit getan, dass ihr mir heute einfach zuhört. Beteiligt euch, zeigt euch! Ich weiß, das kostet Mut. Doch wir sind keine Richterinnen, die urteilen oder gar verurteilen, die entscheiden, was gestört und was normal ist. Was ist schon normal? Es gibt Unterschiede, einfach deswegen, weil es unterschiedliche Frauen gibt. Glaubt mir, die Norm ist ein zu schmaler Grat für uns vielfältige Weiber.«

Alle lachen, manche in ihrer Anspannung zu laut.

»Außerdem können wir nicht einerseits für ein eigenes Begehren plädieren und andererseits ein Verhalten ablehnen, weil es uns vielleicht zu verklemmt oder zu progressiv erscheint oder sonst wie von der eigenen Vorstellung abweicht. Es geht nicht darum, bestimmte Handlungsweisen oder Fantasien aus dem Repertoire zu streichen, sondern um die Erweiterung des Spektrums. Vorausgesetzt …«

»… alle Beteiligten sind einverstanden!«, ergänzt Ella mit lauter Stimme und bewegt ihre Arme wie eine Dirigentin. Ich mustere die anwesenden Frauen verstohlen und freue mich, wie sie lockerer werden.

»Die Fragen, die ich aufgeworfen habe, beantworten wir sicher nicht alle heute. Wie schon gesagt, wir forschen.«

Beifälliges Nicken.

»Unterstützt werde ich heute von Ella, Sophia und Viktoria, die euch gleich erzählen wird, wie wir uns den Austausch beim Roten Mond Salon vorstellen. Ach ja, wer mich noch nicht kennt: Ich bin Gil Gardner, die Intendantin des Liliths. Außerdem bin ich Künstlerin, und, falls es euch beruhigt, ich habe einen Master of Science in Psychologie.«

Dann schaut sie mich an. »Viktoria, du hast das Wort.«

Ich trete vor. »Hallo.« Meine Stimme klingt dünn. »Ein herzliches Willkommen. Ich möchte euch erklären, wie wir uns den Abend gedacht haben.«