Weltwärts

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Allianzen



Heinrich schrieb die Familienchronik weiter, die Sebastian im Jahr seiner Hochzeit begonnen und bis zu seinem Tod geführt hatte. Er registrierte Geburten und Todesfälle, listete sämtliche Kinder und Kindeskinder auf, notierte deren Namen und ab und an die Todesursache. Eine Ansammlung von Daten, die ein ganzes Panorama von Leben und Sterben aufspannen.

27

 Zudem hielt er fest, wer welche Patin oder welchen Paten hatte und wer welche Patenkinder, und dokumentierte so das dicht geknüpfte Netz der Verwandtschaft und gegenseitigen Verbindlichkeiten.



Er scheint ein begehrter Taufpate gewesen zu sein. Seine Schar von Patenkindern umfasste ganze 42 Knaben und Mädchen. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn als reicher Kaufmann und Gutsverwalter brachte er das dazu benötigte soziale Prestige und die finanziellen Möglichkeiten mit, um die verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen. Taufpaten hatten sowohl gegenüber der Kirche als auch gegenüber den Eltern eine Verpflichtung: Sie mussten das «geistliche» Wohl des Patenkindes fördern und ihm eine gute Ausbildung ermöglichen. Und starben die Eltern, was bei der damals üblichen Lebenserwartung häufig vorkam, hatten sie die volle Verantwortung für das Kind zu übernehmen. So entstand eine rituelle Verwandtschaft, die verschiedene Gruppen miteinander verband und half, Allianzen zu gründen.

28

 Auch Heinrich knüpfte eifrig am Netz, denn für einen Händler war die Verkoppelung von Familien ebenso wichtig wie der Austausch von Waren.



Ein Schlosser, ein Fellfärber, zwei Schuhmacher, ein Tischler, ein Steinmetz, ein Küfer, ein Lehenmann, ein Glaser, zwei Metzger, ein Posamenter (ein Bandweber), ein Weber – sie und andere (vermutlich wenig bemittelte) Handwerker hatten Heinrich für eine Patenschaft ihres Kindes gewinnen können. Dadurch erhofften sie sich, dass ihr Sohn oder ihre Tochter sozial aufsteigen würde. Umgekehrt besiegelte Heinrich mit diesem Klientelsystem allfällige Abhängigkeiten.



Heinrich spannte auch seine Kinder in seine Systeme ein. Anna Margaretha zählte gerade mal 15 Jahre, als sie zum ersten Mal eine Patenschaft übernahm: von Hans Rudolf, dem Sohn eines Zimmermanns aus Erlenbach. Ein paar Monate später wurde sie erneut Patin: von Hans Jacob, dem Sohn eines Pächters ihres Vaters. So hob sie auch Hans Conrad aus der Taufe, den Sohn des Lehenmanns auf der «Schönegg», oder Magdalena, die Tochter des Müllers in der «Kittenmühle». Die meisten Sprösslinge stammten von Eltern, die bei ihrem Vater am Zürichsee ein Lehen hatten oder bei ihm angestellt waren. Ihre Schwester Anna Barbara hatte dieselbe Rolle bei Heinrichs Verknüpfung von Interessen und Abhängigkeiten zu spielen. Barbara verpflichtete sich zudem, auch für Findelkinder zu sorgen oder sich um Kinder aus guten Zürcher Häusern zu kümmern.



Selbstverständlich sagte auch Heinrich bei Anfragen aus Oberschichtsfamilien zu, denn Allianzen sollten nicht nur vertikal, sondern ebenso horizontal verlaufen. So wurde etwa die Tochter des noblen Genfers Ami Brière, seines Geschäftsfreunds und Vermittlers in Lyon, sein Patenkind. Ebenso Kinder aus alten Zürcher Familien wie Rahn, Kilchsperger oder des Geistlichen Hans Conrad Lavater. Mit solchen Familien fühlte sich Heinrich vermutlich von gleich zu gleich. Und mit ihnen betrieb er auch Heiratspolitik.





Eine gute Partie



Mit 24 heiratete Anna Margaretha den 42-jährigen Kaufmann Johann Heinrich Gessner.

29

 Wer wem schöne Augen gemacht hat, weiss ich nicht. Es gibt keine Briefe, die von amourösen Abenteuern erzählen, so wie Anna Margaretha ja überhaupt keine Dokumente hinterliess, also auch keine «billets d’amour». Eigentlich ist die Frage nach der Liebe müssig, denn damals liefen die Brautleute üblicherweise nicht wegen der Gefühle in den Hafen der Ehe ein, sondern wegen der gesellschaftlichen Verpflichtung.

30

 Man musste verheiratet sein, um in der ständischen Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Und je besser man sich verehelichte, desto eher vergrösserten sich Macht und Vermögen.



Anna Margarethas Eltern werden zufrieden gewesen sein mit der Verbindung. Der Schwiegersohn stammte aus einem alteingesessenen Zürcher Geschlecht, das sich vor allem einen Namen in der Buchdruckkunst gemacht hatte.

31

 Die Familie bildete sich viel auf ihr berühmtestes Mitglied ein, den Universalgelehrten Conrad Gessner. Umgekehrt dürften auch die Gessners die Vereinigung begrüsst haben, denn die Mitgift der Braut war bestimmt beträchtlich.



Anna Margarethas Mann trat wenige Jahre nach der Hochzeit in den Dienst des Konstanzer Domkapitels.

32

 Er verwaltete den ausserstädtischen Besitz des katholischen Stifts, weshalb er häufig aufs Land fuhr. Als Steuereintreiber hatte er von den Bauern den Zehnten einzuholen; da das Korn, dort die Früchte und in gewissen Regionen den Wein. Ebenso musste er den Bodenzins von Lehenshöfen einziehen oder Schulden einkassieren. Es kam vor, dass er armen Schluckern das letzte Hemd vom Leib riss. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Besoldung der Pfarrer. Die Einnahmen und die Ausgaben notierte er jeweils in seiner «Züricher AmbtsRechnung». Ein Teil des Erlöses gehörte ihm. So verdiente er zum Beispiel 1681, im fünften Jahr seiner Ehe, 4000 Reichstaler. Um diesen Jahreslohn zu erwirtschaften, hätte ein Handwerksmeister 47 Jahre lang arbeiten müssen.

33



Wie es dieser wichtigen Position entsprach, residierten er und Anna Margaretha in einem noblen Haus, das dem Domkapitel gehörte. Das sogenannte Konstanzerhaus lag im oberen Teil der Kirchgasse in Zürich. Das mehrstöckige Haus mit Erkern und Schreibstube zum Garten hinaus hatte Stuckatur an den Decken und Täfer an den Wänden, und von den grosszügigen Korridoren mit Ziegelplatten am Boden gingen viele Zimmer ab.

34

 Im angrenzenden Haus zum kleinen Paradies wohnte zeitweise der Pfarrer des Grossmünsters, auch in anderen Nachbarhäusern gingen Kirchenleute ein und aus: der Theologieprofessor, der Sigrist, Herren des Grossmünsterstifts, Verwalter des Almosenamts. Über der Nachbarschaft muss ein Hauch von kirchlicher Rechtschaffenheit geschwebt haben. In einer solchen Umgebung stellte sich bei den Eheleuten der ehrbare Lebenswandel, den die protestantische Ethik einforderte, vielleicht ganz von allein ein.



Zum reformatorischen Eheideal gehörte, dass beide Partner für das Gelingen der Lebensgemeinschaft verantwortlich waren – auch wenn Anna Margaretha ihrem Mann zu gehorchen hatte und Johann Heinrich sie züchtigen durfte. Zu einer gelungenen Ehe würden auch Kinder gehören, aber Nachwuchs blieb aus. Das muss ein schwerer Schlag gewesen sein, denn erst Kinder legitimierten eine Ehe, erst die Zeugung von Nachkommen verlieh ihr einen Wert.

35

 Obgleich Anna Margaretha keine Mutterpflichten erfüllen konnte, blieb ihr neben der Rolle als Ehefrau die Verantwortung als Haushaltsvorsteherin. Hier konnte sie allein das Zepter führen – so wie Johann Heinrich bei seiner Arbeit. Wie damals üblich standen ihre beiden Arbeitswelten, die Verwaltung des Haushalts und die Verwaltung des Stiftbesitzes, gleichwertig nebeneinander und ergänzten sich. Auch wenn die Ehe kinderlos blieb, verbanden sich Anna Margaretha und Johann Heinrich ideal als «Arbeitspaar».

36





Regieren



Ich kann mir dich nicht als fromme Frau vorstellen. Auch wenn ich mir es schlecht ausmalen kann, wirst du täglich gebetet haben. So ist das üblich in Zwinglis Zürich. Die christliche Ethik bestimmt den Alltag und durchdringt auch dein Tun und Lassen. Das Sprechen zu Gott ist ebenso wichtig wie die Verwaltung des Haushalts.

37

 Gut möglich, dass du Gebete aus Felix Wyss’ «Christliches Bättbüchlein für allerlei Nothwendigkeiten» sprichst, das weitverbreitet ist.

38

 Der Zürcher Pfarrer hat darin einhundert lebenspraktische Gedichte versammelt. Ein Teil davon richtet sich an Personen in bestimmten Funktionen oder Lebenslagen, wobei er sich – weil vor Gott alle gleich sind – an die unten ebenso wie an die oben richtet. So hat er Fürbitten für den Regenten und den Untertanen geschrieben, für den Kommandanten und den Soldaten. Wyss hat selbstverständlich auch an die Frau gedacht und ihre verschiedenen Rollen, etwa das «Eheweib» oder die Schwangere, die Mutter oder die Vorsteherin eines Haushalts. In seinen einfachen Zeilen verbindet er Religiosität mit Pragmatismus.



Die Gebete für die Ledigen, Schwangeren und Gebärenden kommen für dich als kinderlose Ehefrau nicht infrage. Das «Gebätt einer Hausmutter» kommt dir hingegen gelegen. «Du grosser, gewaltiger Gott, der du alles in deiner Hand, und einen jeden Menschen verordnet hast zu einem gewüssen Beruf», beginnst du zu beten und fährst fort, worin denn der Beruf, vielmehr die Berufung besteht, «du hast mir auferlegt, dass ich meiner Hausshaltung vorstehen, und kind und gesind regieren solle». Für ein gelungenes Regime bittest du Gott um «Verstand und Geschicklichkeit» und vergisst auch nicht, deinen Mann zu erwähnen: «Dass ich meinem lieben Ehemann recht thun und in allweg gefällig sein könne.» Die Zeilen zu den Kindern, über den kindlichen Gehorsam und deren Treue haspelst du schnell herunter, sie gehen dich nichts an, um dann mit fester Stimme zu sagen: «Auch dass ich den Diensten gebe, was ihnen gehört, mich gedulde in ihrer Schwachheit, und allezeit auch gedenke, wie viel Mängel Gott der Herr an mir finde, die er mir auch gnädig zu gut haltet.» Bestimmt teilst du die Meinung des Pfarrers bezüglich der menschlichen Makel. Weniger einverstanden bist du womöglich, dass er die Bediensteten und dich auf dieselbe Stufe stellt. Im nächsten Satz stellst du die vorübergehend aufgehobene Hierarchie mit dem Wunsch nach Gefügigkeit wieder her: «Beschere mir fromme, treue, gefügige Dienste und lass das ganze Haus und Verwaltung in allem wohl gesegnet sein, dass es für sich und nicht zurück gehe.» Zum Schluss ersuchst du Gott, dir zu helfen, «die Haussgeschäft tapfer anzugreifen, aber auch nicht zu vergessen, zu den Füssen Jesu zu sitzen und seiner Rede zuzuhören». Amen.

 



Du weisst, dass du mit Gottes Hilfe allein keinen Haushalt führen kannst. Um deine Pflichten als «Hausmutter» erfüllen zu können und aus dem Konstanzerhaus ein «gefälliges Heim» zu schaffen, brauchst du viel Sachverstand. Was es in einem Haushalt alles zu tun gibt! Die vielen Aufgaben hast du in deinem Elternhaus kennengelernt: Esswaren einkaufen und verarbeiten, Vorräte anlegen und verwalten, das Haus rein halten, Geschirr waschen, Kleider waschen, Silber putzen, einfeuern, Wasser holen, Tisch decken, abräumen, Gäste empfangen und bewirten.

39

 Und vor allem kochen: Morgenbrot, Znüni, Mittagbrot, Zvieri, Abendbrot.



Selbstverständlich packst du die wenigsten Dinge selbst an, das tun die Bediensteten. Bei ihnen musst du dein Bestes geben: Beim Führen des Personals ist deine Geschicklichkeit gefragt. Du musst Menschen verstehen, noch besser: sie lieb haben. Du musst die Handlungsabläufe kennen, wenn du die Magd anleiten willst. Du musst über die Qualität der Waren und ihren Wert Bescheid wissen, wenn du mit der Magd einkaufst. Darüber hinaus musst du bei Krankheiten die wichtigsten Hausmittel kennen. Bei Einladungen hast du die Etikette einzuhalten. Du musst wissen, wie du repräsentieren musst. Bei Gelagen musst du das Menu festlegen. Du musst Speisen kosten und manche auch kochen. Das traditionelle Mus – der Brei aus Hafer, Hirse und Kernen – steht bei euch immer seltener auf dem Tisch.

40

 Dafür tischst du immer mehr Köstlichkeiten aus aller Welt auf, zum Wohl eurer Gäste. Deine Eltern werden in deinen Gerichten Trost gefunden haben und Ablenkung von dem Kummer, den ihnen dein Bruder Rudolf bereitet.





Die Wilden verfolgen



Im Winter 1684 erhielten Anna Margarethas Eltern Post aus Surinam. Erwartungsvoll öffneten sie den Brief. «Ich bin ein ungehorsames Kind gewesen», begann Rudolf seinen Bericht.

41

 Tatsächlich hatten ihn Heinrich und Anna als dreist empfunden. Er zählte mittlerweile 23 Jahre und benahm sich immer noch wie ein Flegel. Als sie 1683 nicht mehr weiterwussten, griffen sie zum letzten Mittel – und sandten ihn kurzerhand in die Verbannung. Das entsprach der Tradition und der Bibel. Sie sahen ihren gewaltsamen Akt im Einklang mit der Heiligen Schrift. Dort steht, dass ein «widerspenstiger Sohn» drakonisch bestraft werden dürfe, wenn er nicht gehorche und auch dann nicht gehorchen wolle, wenn er «gezüchtigt» wurde. Moses ruft dazu auf, solch einen Sohn zu steinigen, «dass er sterbe».

42

 Im 17. Jahrhundert befolgte man Gottes Wort in übertragenem Sinn und schickte all die, die einem lästig waren, die Trunkenbolde, Störenfriede, Dorftrottel oder eben «ungeratenen» Söhne, möglichst weit weg – etwa in die amerikanischen Kolonien oder in fremde Dienste. Die Eltern sandten den Ungeratenen als Söldner nach Surinam, in jene an Plantagen reiche Kolonie an der Nordküste von Südamerika, welche die Niederländer den Briten zwei Jahrzehnte zuvor abgeknöpft hatten.



Rudolf stand dort wahrscheinlich im Dienst der Geoctroyeerde Sociëteit van Suriname.

43

 Die Niederländische Westindien-Kompanie hatte die Gesellschaft gegründet, um in Surinam möglichst effizient eine weisse Sklavenhaltergesellschaft aufzubauen: Gezielt verschiffte sie Tausende von Sklaven von Afrika nach Südamerika, damit sie dort auf den Zuckerrohrplantagen schufteten, und ebenso systematisch rekrutierte sie Weisse, damit sie das Land besiedelten. Zu diesem Zweck zog die Sociëteit alle Register. So zwang sie Kapitäne mit Kurs auf Surinam, weisse Männer an Bord zu nehmen. Nötigte Burschen, ohne Bezahlung für die Gesellschaft zu arbeiten. Pickte im Waisenhaus von Amsterdam Mädchen heraus, um dem Frauenmangel in der Kolonie entgegenzuwirken. Beförderte Bauarbeiter und Baumaterialien, schickte bitter benötigte Pferde und beschaffte für die schnell wachsende Gemeinde Lehrer. Auch Pfarrer mussten her, aber ausschliesslich protestantische. Als sich zwei katholische Priester, um unerkannt nach Surinam zu gelangen, als Soldaten verkleideten und der Schwindel aufflog, sandte die Kolonisierungsgesellschaft kurzerhand zwei Vertreter der korrekten Glaubensrichtung hinterher – und brachte damit das Ungleichgewicht wieder in Balance. Zu guter Letzt beorderte sie Soldaten und Söldner wie Rudolf, um die Siedlerinnen und Siedler vor den «Wilden» zu schützen.

44



Von dort also schrieb Rudolf seinen Eltern. Bestimmt freuten sie sich über sein Eingeständnis am Anfang des Briefs und frohlockten über seine Reue. Doch bei den darauffolgenden Zeilen

45

 beschlich sie womöglich ein schlechtes Gewissen, und sie standen mit ihm Ängste aus.



Nun, da ich in einem so fernen Land bin, weiss ich nicht, ob ich Euch in dieser Welt wiedersehen werde, denn das Land, in dem ich mich befinde, ist sehr ungesund und unfruchtbar. Es gibt hier nichts anderes als Büsche, Wald und Dornen, Krokodile und Skorpione, Schlangen und Würmer – die allesamt den Menschen grossen Schaden zufügen. Damit aber nicht genug. Alle zwei Wochen müssen wir zu zweit im Wald Wache schieben und die Wilden verfolgen. Ich weiss nicht, ob nicht eines Tages ein Pfeil geflogen kommt, der uns verletzt. Die Wilden verstecken sich im Busch und lauern, bis sie die Weissen hinterrücks attackieren können.



Sie können sechs bis acht Pfeile aufs Mal abschiessen und sind schnell wie ein Pferd. Sie gehen nackt und haben nur die Scham bedeckt. Ihre Haut ist braun-rot, ihr Leib schön gewachsen. Von den Christen wollen sie nichts anderes als Messer mit weissem Heft, Hackbeile, Gertel, blaue, weisse, grüne Korallen, gross wie Erbsen, und Leinen. Dagegen tauschen sie Hirsche, Schildkröten, Krebse, Wildschweine, Affen, Papageien und andere Vögel.



Offensichtlich hegte Rudolf gemischte Gefühle gegenüber der ihm unbekannten Welt. Angst vor dem Fremden und Faszination für das Neue lagen nah beisammen. Insbesondere die üppige Natur fesselte ihn derart, dass er seine Eltern damit beschenken wollte. Er gedachte, ihnen ein «Muster von Früchten» zu schicken. Und er fuhr fort, die Anbauprodukte zu beschreiben.



Die Weissen bauen nichts anderes als Zuckerrohr an. Pomeranzen und Zitronen wachsen im Überfluss, doch die Menschen dürfen sie nicht essen. Die Wilden backen aus der Wurzel Kassawa Brot, aber wenn die Weissen davon essen, frisst es ihr Fleisch und Blut auf, und sie werden so bleich, als ob sie Gelbsucht hätten.



Die alten Soldaten sehen so aus, als ob sie soeben dem Grab entstiegen wären – auch wenn sie erst seit drei oder vier Jahren hier sind. Ich selbst würde gern nach Westindien gehen, aber der General will mich erst ziehen lassen, wenn ich meine Zeit abgesessen habe oder für die Passage hin und zurück je 50 Gulden bezahle. Deshalb muss ich vier Jahre im Land bleiben, auch wenn ich das kaum aushalten werde. Ich zweifle nicht daran, dass dies mein Ende sein wird. Deshalb sage ich hiermit allen Geschwistern Adieu und bitte Euch um Gottes Barmherzigkeit Willen um Vergebung für meine begangenen Fehler. Sollte ich Euch in dieser Welt nicht mehr sehen, hoffe ich, Euch in der zukünftigen zu treffen. Hiermit schliesse ich mit heissen Tränen und sage Adieu! Ja, Adieu!





Das Fremde auf der Zunge



Deine Eltern werden Rudolfs Geschenk ungeduldig erwartet haben. Auch du wirst neugierig gewesen sein auf das «Muster an Früchten» aus Surinam. Zum wiederholten Mal nehmt ihr seinen Brief hervor und versucht zu erraten, was er eigentlich verschifft hat. Er habe «Annase, Bernantes, Bacoffe, Paperin, etwas von Coces» geschickt, schreibt er.

46

 Nur schon der Klang der Namen ist für euch pure Exotik. Annase. Coces. Bacoffe. Du hörst den simplen Rhythmus der fremden Laute, freust dich an den vielen A und O – und kannst nichts damit verbinden. Rudolf gesteht, nicht zu wissen, ob er die Namen richtig geschrieben habe. Das wisst ihr noch weniger als er. Ihr sprecht die Namen laut aus, dehnt die Vokale, verschluckt die Konsonanten, spielt mit den Buchstaben – und plötzlich wird aus der Annase eine Ananas. Von ihr habt ihr bereits gehört, gesehen habt ihr sie noch nie. Einige Jahre vor eurem Rätseln über Rudolfs Bescherung hat der britische König Charles II. zwar eine Ananas geschenkt bekommen, und der holländische Maler Hendrick Danckerts hat das wichtige Ereignis festgehalten, doch das Gemälde kam nie nach Zürich.

47

 Ihr seid gespannt auf die sagenhafte Pflanze.



Angespornt von eurem Erfolg beginnt ihr auch das Wort «Coces» zu entschlüsseln, und nachdem ihr das C durch ein K ersetzt habt und auch noch das Wort «Nussen» entziffert, erinnert ihr euch an Abbildungen in botanischen Büchern und seht die Kokospalme vor dem inneren Auge. Aber was sind Bernantes? Und Bacoffe? Paperin? Ihr konsultiert Kräuterbücher, studiert Reiseberichte, vergeblich. Du bist frustriert. Wie soll es dir auch gelingen, einen Begriff, den du zuvor noch nie gelesen hast, mit einem Produkt zu assoziieren, das du noch nie gesehen hast? Christoph Kolumbus und andere Seefahrer haben zwar ihnen unbekannte fruchttragende Pflanzen aus der Neuen Welt nach Hause gebracht, doch während einige in der Erde der Alten Welt gediehen, wollten sich andere wie die Ananas oder

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?