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Anni war ein Nichts, ein Niemand, kein Freund und kein Feind, ein Mensch, der nirgends hingehörte, niemand würde ihr eine Lehrstelle geben, niemand würde sie für längere Zeit beschäftigen, niemand würde ihr eine Chance geben können, die von Dauer gewesen wäre. Eigentlich, wenn man genau darüber nachdenkt, gab es Anni überhaupt nicht. (Nur gut, daß sie die Tragweite all der Bestimmungen und Verbote, die ihre Person betrafen, damals gar nicht bedachte oder auch gar nicht verstand.)

Was also blieb Heinrichs Tochter übrig, was konnte, was durfte sie tun?

Vielleicht, dachte Anni, würde es möglich sein, wieder zur Schule zu gehen.

DEN ELTERN WÄRE ES RECHT GEWESEN, dachte sie und teilte ihren Entschluß, sich in einem Gymnasium um Aufnahme zu bewerben, der Bäuerin mit.

Die Bäuerin hatte Einwände. Sie brauche jetzt jede Arbeitskraft auf dem Hof, vor allem bei der Arbeit im Heu. Und womit Anni das alles, Schule, Wohnung, Essen, bezahlen würde?

(Anni hatte nicht nur an die vier oder fünf Goldmünzen gedacht, welche die Mutter in den Saum ihres Mantels eingenäht hatte. Heinrich hatte Jahre vorher auf einer oberösterreichischen Bank etwas Geld hinterlegt, Anni eine Bestätigung dieser Bank in beglaubigter Durchschrift mitgegeben, dazu eine Vollmacht, die sie berechtigte, bei Bedarf von seinem Guthaben abzuheben. Anni hoffte, daß man ihr bei Nachweis ihrer Bedürftigkeit einen Teil dieses Geldes ausfolgen würde, daß es ihr gelingen würde, damit eine Unterkunft zu bezahlen.)

Nachdem man die durch Kriegseinwirkungen entstandenen Schäden an Gleisanlagen, Weichen, Signalvorrichtungen auf den wichtigsten Eisenbahnstrecken notdürftig repariert, einen Teil der zerstörten Brücken durch Notbrücken ersetzt, das Allernotwendigste an Zugsgarnituren und Lokomotiven wiederhergestellt hatte, nachdem die Schuttberge im Bereich der Bahnhöfe so weit abgetragen worden waren, daß an die Wiedereinführung eines beschränkten Reiseverkehrs zu denken war, hatten die Behörden, mit Bewilligung der Besatzungsmacht, Reisen auf kurzen Strecken wieder gestattet.

Anni überhörte die Einwände der Bäuerin, bestieg Mitte August einen Zug und fuhr nach Linz.

Ist es wirklich nur einer jener Zufälle gewesen, die sich hin und wieder ereignen, war es das, was wir, geübt in der Verwendung von Ausweichworten, geschickten Umschreibungen uns unerklärbarer Zusammenhänge FÜGUNG nennen? Hat einer jener, unseren Augen nicht sichtbaren, jedoch zweifellos in einer uns nicht vorstellbaren Körperlosigkeit existierenden Schutzengel das, was wir FLÜGEL nennen, über Annis Schicksal gebreitet? Oder hat sie einfach nur – wie würde es Valerie genannt haben – GLÜCK GEHABT? Wer wollte sich herausnehmen, dies zu entscheiden?

Alles, was Heinrichs Tochter in der folgenden Zeit unternahm, gelang auf eine sie selbst überraschende Weise. Hilfe wurde ihr geboten, wo sie mit dieser Hilfe gar nicht gerechnet hatte. Schon im Zug ergab es sich, daß sie neben einer beinahe Gleichaltrigen saß, die sie nach ihrem Fahrtziel fragte, sich nach längerem Nachdenken an eine Familie erinnerte, die möglicherweise bereit sein würde, sie bei sich aufzunehmen, was dann auch tatsächlich geschah. Die Direktorin der Schule, in der Anni vorsprach, hörte sich die Geschichte der Sechzehnjährigen an, die nicht Hilfsarbeiterin oder Bauernmagd werden wollte, und beschloß, ihr trotz der fehlenden Staatsbürgerschaft den Schulbesuch zu gestatten. Da Schulzeugnisse nicht vorgelegt werden konnten, hatte Anni in absehbarer Zeit die Bestätigung eines Lehrers vorzulegen, der am Gymnasium der südmährischen Kreisstadt N. unterrichtet hatte und Anni den Abschluß der fünften Klasse bescheinigen konnte. (Was zunächst unmöglich zu sein schien, gelang, ein solcher Lehrer wurde gefunden.) Die Bank gewährte dem Mädchen, das ohne Angehörige war, eine monatliche Barabhebung von einhundertfünfzig Mark zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes.

Anni hatte ein Dach über dem Kopf, wenn auch nur für die nächste Zeit, sie hatte Geld, um Unterkunft und Lebensunterhalt zu bezahlen, sie mußte sich um die allernächste Zukunft keine Sorgen mehr machen. Auch die Erwachsenen wagten ja nicht, für längere Zeit zu planen, Prognosen für eine fernere Zukunft zu stellen. Der Krieg war vorbei, man lebte, ein gewisser Optimismus war angebracht, irgendwie würde sich alles fügen.

Anni fuhr aus Linz zurück auf den Bauernhof, um ihre Sachen abzuholen.

Ob und wieweit Heinrichs und Valeries Tochter durch das in der bäuerlichen Wohnstube laufende Radiogerät oder durch im Juli schon erscheinende Tageszeitungen oder nur durch die Gespräche und Berichte der Erwachsenen über bestimmte Zeitereignisse unterrichtet worden ist, wieweit sie von diesen Ereignissen überhaupt Kenntnis genommen hat, läßt sich heute nicht mehr sagen. In der Erinnerung zeichnet sich zwar die Nachricht vom Abwurf der BOMBEN auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 als alles verdunkelnder Schrecken ab, wann jedoch diese Nachricht Anni erreichte, in ihr Bewußtsein gedrungen ist, wann sie vom Ausmaß der Zerstörung, von der Anzahl der Toten, von all dem, was im Zusammenhang mit diesem Bombenwurf wahrscheinlich berichtet worden ist, erfahren hat, wann sie vor allem zum erstenmal Bilder der riesigen Rauchpilze zu sehen bekam, die vom Gedächtnis nur in Verbindung mit ANGST reproduziert werden können, ist vergessen. Es ist jedoch anzunehmen, daß über die bedingungslose Kapitulation Japans am 14. August und über die Ereignisse, die zu dieser Kapitulation geführt haben, sogar auf dem einsam gelegenen Bauernhof im oberösterreichischen Kremstal gesprochen worden ist.

Ebenso ist anzunehmen, daß der in den erwähnten Zeitungen am 27. Juli abgedruckte Erlaß der Militärregierung von den Bewohnern dieses Hofes zur Kenntnis genommen worden ist, der den Österreichern das Beflaggen ihrer Häuser an bestimmten Feiertagen wieder erlaubte: VOM TAGE DIESES BEFEHLS AN IST ES GESETZLICH ZULÄSSIG, DIE ÖSTERREICHISCHE FAHNE UND DIE ÖSTERREICH VERSINNBILDLICHENDEN FARBEN SO LANGE ZU HISSEN, ALS DIES MIT DEN HIERAUF ANWENDBAREN ÖSTERREICHISCHEN GESETZEN UND GEBRÄUCHEN ZULÄSSIG ERSCHEINT.

(Die Bäuerin zerschnitt ein Leintuch und nähte zwei weiße Streifen auf rotes Fahnentuch, je einen in der Mitte der vorderen und der rückwärtigen Fahnenseite. Rechts und links von diesen Streifen lugte das schmale Segment eines dunkler gefärbten Kreises hervor, der vorher mit dem bewußten weißen Stoffkreis abgedeckt, daher von Sonne und Wetter nicht gebleicht worden war.)

Am 28. Juli konnte man in der Zeitung lesen, daß die Stadt Wien in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden war. Den ersten Gemeindebezirk mit ausgebranntem Stephansdom, zerstörter Staatsoper, ebenso zerstörtem Burgtheater, mit ausgebrannten Kirchen, zerbombten Straßenzügen, zahllosen Ruinen, mit Schuttbergen, aufgerissenen Straßen, defekten Wasserleitungen, abgebrannten Lindenbäumen am Ring, mit ruinierten Fassaden, geborstenen Fensterscheiben übernahm die aus Mitgliedern aller vier Besatzungsmächte bestehende Alliierte Kommission, er wurde zur Internationalen Zone erklärt.

Am 6. August gab es in der amerikanisch besetzten Zone wieder Telegramm- und Telefonverkehr, allerdings NUR FÜR MITGLIEDER DER BESATZUNGSMACHT, FÜR VON DIESER AUTORISIERTE VERTRETER WICHTIGER, VON DER MILITÄRREGIERUNG ZUGELASSENER INDUSTRIEUNTERNEHMEN UND FÜR AMTSPERSONEN.

Mit dem gleichen Datum begann der Eisenbahnverkehr mit Italien wieder zu funktionieren.

Am 12. August wurden die Salzburger Festspiele eröffnet. Vor einem Volksgericht in Wien begann der erste Kriegsverbrecherprozeß.

Am 30. August schreibt der Verfasser eines Zeitungsartikels zur Flüchtlingsfrage, es sei nicht gerecht, den Flüchtlingen nur halbe Lebensmittelkarten zu geben, da doch die normalen Rationen das Existenzminimum keineswegs überschritten. Außerdem sei es undemokratisch, verantwortungslos und vor allem gemütslos, wenn öffentliche Beamte den traurigen Mut besäßen, diesen Leuten ins Gesicht zu sagen, daß solche Maßnahmen nur aus einem Grunde getroffen würden: DEN FLÜCHTLINGEN DEN AUFENTHALT ZU VERLEIDEN.

(Diesen Zeitungsartikel hat Anni bestimmt nicht gelesen, er ist in einem Waldviertier Lokalblatt erschienen.)

Am 17. September begann in Linz an der Donau der Schulbetrieb. An die Bevölkerung war kurz vorher das Ersuchen gerichtet worden, an der Zustandebringung der während der ersten Tage nach dem Einmarsch der alliierten Truppen aus den Schulen geraubten Güter wie: Bilder, Bücher, Filmapparate, Schreibmaschinen und diverser Lehr- und Lernbehelfe, auch der verschwundenen Bücher aus den Schüler- und Lehrerbüchereien, mitzuarbeiten, da diese Gegenstände zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs unbedingt notwendig seien. Grundsätzlich wurde erklärt, daß, da das Lehrziel im vergangenen Jahr in keiner Weise erreicht worden sei, alle Schüler dieses Jahr zu wiederholen hätten.

Als Anni nach Linz kam, ihren Rucksack auf dem Rükken, den Koffer in der einen, den Kasten mit der Ziehharmonika in der anderen Hand, waren die größten Bombentrichter im Bahnhofsviertel schon zugeschüttet worden, die geknickten, umgebrochenen Bäume weggebracht und zu Feuerholz zerschnitten, die höchsten Schuttberge entlang der Hauptstraßen hatte man abgetragen. Die Ruinen waren noch nicht beseitigt worden, die Aufschriften, die im letzten Kriegsjahr an die Häuserwände gemalt worden waren, DEIN OPFER UNSER SIEG oder NUN ERST RECHT, hatte man jedoch entfernt. Die Straßen und Plätze hatten ihre früheren Namen zurückbekommen, aus dem Adolf-Hitler-Platz war wieder ein Hauptplatz, aus den Hermann-Göring-Werken war die Österreichische Montan-Aktiengesellschaft geworden. Den Straßenbahnverkehr über die Donau hatte man wieder aufgenommen, die Überquerung der Brükke allerdings war jetzt nur mit Bewilligung der Behörde gestattet, da der jenseits der Donau liegende Stadtteil URFAHR von den Russen besetzt war.

 

Zum Kochen stand wieder Gas zur Verfügung, wenn es auch nicht viel zu kochen gab.

Salz jedenfalls gab es genug.

Anni bezog ein Bett in der Wohnung der Familie M., das frei geworden war, weil man den Ehemann der Frau M. in ein Lager für politische Gefangene abgeholt hatte. Auch der ältere der beiden Söhne war aus dem Krieg noch nicht zurückgekehrt. Sie ging in die Schule, machte Hausaufgaben, holte monatlich hundertfünfzig Mark von ihrer Bank, zahlte Miete und Kostgeld, behielt einen kleinen Teil des Geldes für sich, um Schulhefte, Straßenbahnfahrten und ähnliche kleine Ausgaben bestreiten zu können, was übrig blieb, sparte sie. Hin und wieder ging sie ins Kino, einmal ging sie ins Theater und sah die Operette DREIMÄDELHAUS, weinte dann in ihr Kopfkissen, weil Heinrich daheim Operettenmusik auf dem Klavier gespielt hatte, versprach sich selbst, eine gute Schülerin zu sein, weil sie sonst niemanden mehr hatte, dem sie es hätte versprechen können.

Auf diese Weise verging der Herbst. Es würde, hieß es, wahrscheinlich sehr kalt werden, die Menschen fürchteten sich vor dem Winter.

4

MAN DARF NICHT DARÜBER NACHDENKEN, sagt Valeries jüngere Schwester Hedwig. Lange bevor die Front B. überrollte, war ein Fluchtwagen bereitgestanden, Heinrich hatte Eisenstangen halbrund biegen lassen, man hatte diese Eisenstangen auf beiden Seiten des Wagens befestigt, mit PLACHEN überspannt, auf diese Weise eine Art Dach gebildet, das vor Wind und Regen schützen würde. Unter diesem Dach sollte die alte Großmutter mit den Kindern sitzen, Hedwig und ihr Vater würden abwechselnd auf dem Kutschbock sitzen oder neben den Pferden hergehen, der Wagen sollte die Familie in den Westen bringen. Im letzten Augenblick hatte sich Josef, der Großvater, geweigert wegzufahren.

ICH VERLASSE MEINE HEIMAT NICHT, sagte er.

Sie waren geblieben, Hedwig hatte Anfang April noch Zwillinge geboren, einer der Säuglinge war während der letzten Kriegstage gestorben, sie hatten ihn in dem an den Hof angrenzenden Obstgarten begraben müssen, ein Begräbnis auf dem Friedhof war nicht mehr möglich gewesen. Die beiden größeren Kinder waren fünf und sieben Jahre alt.

Sie blieben auch dann noch, als Heinrich und Valerie die Stadt verließen, so lange, bis eine tschechische Familie mit neun Kindern aus dem Inneren Böhmens kam, um Haus und Hof zu übernehmen. (GOLDGRÄBER HAT MAN DIESE LEUTE GENANNT!)

Die Leute, sagt Hedwig, seien allerdings erschrocken gewesen, die Besitzer des Hofes noch vorzufinden, man hatte ihnen gesagt, sie würden ein von seinen Bewohnern verlassenes Anwesen übernehmen. Die Frau habe sogar gefürchtet, es würde ihr UNGLÜCK BRINGEN, in diesem Haus zu leben. Trotzdem sind sie natürlich geblieben, sagt Hedwig. Da endlich sah Josef, der Bauer, ein, daß ein Bleiben nicht mehr möglich war. Er war zu diesem Zeitpunkt zweiundsiebzig, seine Frau Anna war siebenundsechzig Jahre alt, sie hatten fast ein halbes Jahrhundert auf diesem Hof gelebt, ihn durch ihre Arbeit und ihren Fleiß schuldenfrei gemacht, für Politik war in ihrem Leben kein Platz gewesen. Danach aber fragte jetzt niemand, es wurde nur nach ihrer Sprache gefragt.

WAS GESCHIEHT JETZT MIT UNS, sagte Josef zu dem Mann, der mit den Fremden gekommen war, um sie in das Haus einzuweisen, WOHIN SOLLEN WIR DENN GEHEN?

Ganz einfach, sagte der Mann, Sie gehen nach Bayern. DORT GEHÖREN SIE HIN.

Wiederum war es Wundraschek, der mit seinem mageren Roß und dem klapprigen Wägelchen kam, um diese Deutschen zur Grenze zu bringen, der eigene Fluchtwagen mußte Zurückbleiben, er wurde auf dem Hof zur Arbeit gebraucht und durfte nicht mitgenommen werden.

Diesmal wurde auch nicht mit einem Sonntagsanzug oder mit einer goldenen Uhr bezahlt, Josef hatte vier Doppelzentner Kleesamen auf einem Schüttboden, die Russen hatten diesen Schüttboden nicht aufgebrochen, Josef gab Wundraschek die Schlüssel mit der Bemerkung, wenn er von der Fahrt zur Grenze zurückkäme, solle er sich den Kleesamen holen.

DER WUNDRASCHEK HAT SICH ABER GLEICH, NOCH VOR DEM WEGFAHREN, DEN KLEESAMEN GEHOLT.

Sie packten einiges von dem, was sie unterwegs brauchen würden, auf den Wagen. Hatten sie die Hoffnung gehabt, wieder zurückkehren zu dürfen? Sie hätten zum Beispiel, sagt Hedwig, schöne neue Federpolster gehabt, die neuen Hausbewohner hätten ihnen auch erlaubt, diese mitzunehmen, aber ihre Mutter habe darauf bestanden, nur die alten, schon recht schäbigen Polster und Tuchenten einzupacken. (Sie hat sich dabei ähnlich verhalten wie Heinrich, der, als er wegging, seinen neuen Filzhut an den Haken zurückhängte und mit seinem alten, schon schäbigen Hut auf dem Kopf weggegangen ist.) Was sie noch mitgenommen hätten? Heidi, damals sieben Jahre alt, erinnert sich an ihre kleine Puppennähmaschine, die sie zu Weihnachten bekommen hatte und die ihr sehr lieb gewesen ist. Josef seien die Federbetten wichtig gewesen. Hedwig nahm vor allem mit, was für die Kinder unterwegs nötig sein würde, Anna brachte eine kleine Schmalztonne, sie hatte über das Schmalz gekochte Bohnen gegeben, das Schmalz auf diese Weise unter den Bohnen versteckt. (Auch einen Topf und eine große Kasserolle, EIN KASTROLL, sagt Hedwig heute noch, wie man damals in B. gesagt hat, hätten sie auf die gleiche Weise mit Schmalz und darübergegossenen Bohnen gefüllt.) Wäsche hatten sie nicht mehr viel, die hätten schon die Russen aus den Schränken genommen.

Der Wagen (es sei ja nur ein kleines STEIRERWAGERL gewesen) war mit den Federn, den Töpfen, dem bißchen Kleidung und mit den Kindern ohnedies schon fast überladen.

Hedwig zog Valeries Mantel mit dem Innenfell an, ihre Schwester hatte ihn bei ihr zurückgelassen und sie gebeten, ihn, wenn sie über die Grenze gingen, mitzubringen. In die eine Manteltasche steckte sie, was ihr heute merkwürdig erscheint, einen Wecker, in die andere das bißchen Schmuck, das ihr geblieben war. Dann gingen sie, wie schon viele vor ihnen gegangen waren, wie noch viele nach ihnen gehen sollten, die Straße entlang, von ihrem Hof weg, in die Richtung, in welcher der Bahnhof lag, passierten jedoch nicht heimlich den Grenzbach, wie Heinrich und Valerie es getan hatten, sondern gingen auf den offiziellen Grenzübergang in der Nähe der Stadt Nikolsburg zu. Es war Nacht gewesen, als sie weggingen, früh, als es schon hell war, kamen sie bei diesem Grenzübergang an.

Eigentlich, sagt Hedwig heute, haben sie uns nicht durchsucht, sie haben mir nur in die Manteltasche gegriffen und den Wecker herausgenommen, den Schmuck habe ich vorher in den Kleiderausschnitt gesteckt. Dann haben sie gefragt, was wir mit den vielen Bohnen wollen. Wir würden unterwegs nichts zu essen haben, sagte ich, deshalb hätten wir diese Bohnen mitgenommen. (Das Schmalz hätten sie nicht finden dürfen, sagt Hedwig, das hätten sie uns sicher weggenommen.) Dann, sagt Heidi, sei die Geschichte mit der Puppennähmaschine passiert.

Einer der Posten sei auf sie, die Siebenjährige, zugekommen und habe ihr die kleine Puppennähmaschine, die sie so gern gehabt habe, weggenommen.

Das werde ich nie vergessen, sagt Heidi. Ich sehe den Mann noch auf einer Treppe stehen, er ist mir dadurch noch schrecklicher vorgekommen, als er ohnehin gewesen ist, mit meiner kleinen Nähmaschine in der Hand.

Kleesamen war in jenen Tagen beinahe noch kostbarer, als es goldene Armbanduhren und Sonntagsanzüge gewesen sind. Wundraschek brachte die Familie bis auf die andere Seite der Grenze, wo die österreichischen Posten standen, half ihnen beim Abladen ihrer Bündel, warf ihr Gepäck ins Gras neben der Straße, wendete und entfernte sich auf dem gleichen Wege, auf dem sie gekommen waren. Die Kinder blieben mit Josef und Anna, den Großeltern, bei dem Gepäck zurück, Anna hockte auf einem der Bündel, eine in ihrer Traurigkeit, in ihrer Verlassenheit noch kleiner, noch zerbrechlicher wirkende Gestalt, hielt den Säugling im Arm und sah ihrer Tochter nach, die auf der Straße davonging, um eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.

Als Hedwig an den ersten Häusern des nächstgelegenen Dorfes vorbeiging (nein, es sei nicht Ottenthal gewesen, wo Heinrich und Valerie die ersten Tage und Nächte verbrachten, das Dorf habe anders geheißen), kam ihr ein Mann entgegen.

Der Mann sei dick gewesen, der Typ eines Schiebers, sagt Hedwig, MAN HAT GLEICH GESEHEN, WAS DAS FÜR EINER GEWESEN IST. Die goldene Armbanduhr, die sie noch gehabt und ihm angeboten habe, als Lohn dafür, daß er vielleicht bereit sein würde, die Eltern und Kinder mit ihrem Gepäck mit einem Wagen abzuholen, ins Dorf zu bringen, untersuchte er gründlich, schüttelte sie, hielt sie ans Ohr. GEHT SIE? soll er gefragt haben.

Ja, sagte Hedwig bitter, sie geht.

Erst nachdem sich der Mann davon überzeugt hatte, daß die Uhr tatsächlich in Ordnung war, erklärte er sich dazu bereit, seinen Wagen zu holen.

Sie klopften an die Tür eines Hauses, in dem eine Familie lebte, die sie von früher her gut kannten, und baten um Aufnahme für eine einzige Nacht, wurden jedoch abgewiesen. Schließlich erlaubte ihnen ein Bauer, in seiner Scheune zu übernachten. Es war Herbst, und die Nächte waren schon kalt, durch die Fugen zwischen den Scheunenbrettern pfiff der Wind, Hedwig drückte das Kleine an sich, aber sie konnte es nicht gut genug vor der Zugluft schützen. Vor allem nachts, als sie selbst eingeschlafen war, wird das nicht der Fall gewesen sein.

Dort in der Scheune, sagt Hedwig heute, hat sich das Kind erkältet, dort hat es sich den Tod geholt.

(Auch dieses Kind, ein kleiner Junge, ist wenige Tage später gestorben, es wurde auf dem Friedhof des Dorfes W. begraben.)

Wer ihr gesagt habe, daß ihre Schwester und deren Mann sich in W. aufgehalten hätten?

Ich weiß es nicht mehr, sagt Hedwig. Sie haben jemandem, der auf dem Weg zur Grenze gewesen ist oder in die Nähe der Grenze gehen wollte, eine Nachricht für uns mitgegeben, dieser Mann oder diese Frau hat es jemand anderem gesagt, der hat es wieder weitergesagt, bis sich dann schließlich jemand gefunden hat, der nach B. gegangen ist, über die Grenze hinüber, der uns dann mitgeteilt hat, sie seien in diesem kleinen Ort in der Nähe von Mistelbach untergekommen und würden versuchen, für uns eine Unterkunft zu finden, wenn auch wir herüberkämen.

Das sind ja oft fast WUNDER gewesen, wie sich die Menschen wiedergefunden haben.

Man ist auf der Straße gegangen, auf einmal hat man jemanden getroffen, von dem man schon lange nichts mehr gewußt hat oder den man gesucht hat.

Man hat an jemanden gedacht, der verschwunden gewesen ist, plötzlich hat man aus dem Fenster eines Hauses geschaut, da ist er auf der Straße vorbeigegangen.

Das ist wahrscheinlich so gewesen, weil damals ALLE unterwegs gewesen sind, weil alle ohne dauernde Unterkunft waren, weil jeder irgendwelche Angehörige oder Freunde gesucht und vermißt hat.

Es war, sagt Hedwig, eine furchtbare Zeit, aber es haben sich gerade in dieser Zeit wirkliche Wunder ereignet. Manches jedenfalls hat man sich nicht anders erklären können. Ich weiß nicht, wer uns die Nachricht damals gebracht hat, sagt Hedwig heute, aber wir haben es jedenfalls gewußt, und der Mann, dem ich die Armbanduhr gegeben habe, hat uns am nächsten Tag noch mit seinem Wagen nach W. gebracht.

(Heinrichs Notizbuch: EINES TAGES STANDEN HEDWIG UND DIE SCHWIEGERELTERN MIT DEN KINDERN VOR UNSERER TÜR.)

Es gelang, sie im mittlerweile leerstehenden Arzthaus unterzubringen, jenem Haus, in welchem während des Sommers die an Ruhr erkrankten Flüchtlinge einquartiert waren.

Aus einem Fenster dieses Hauses blickend, habe sie, sagte Hedwig, eine ihr bekannte Familie aus B. mit ihren sieben Kindern vorbeiziehen sehen. Der Mann und die Frau hätten einen Handwagen gezogen, auf dem Handwagen seien die kleinsten der Kinder gesessen, die größeren hätten angeschoben. So seien diese armen Leute den ganzen Weg von zu Hause weg über die Grenze zu Fuß gegangen.

Sie, Hedwig, habe sie ins Haus geholt, sie seien aber nur über Nacht geblieben, am nächsten Tag wieder weitergezogen.

Niemand hat damals ein Ziel gehabt, sagt Hedwig, aber alle haben gedacht, weitergehen zu müssen, immer weiter, selbst im Elend, aber an allem anderen Elend vorbei, mit der Sehnsucht, irgendwo anzukommen, eine Unterkunft für längere Zeit zu finden, wenigstens vorübergehend, auf irgendeine Weise wieder zu Hause zu sein.

Und beinahe alle hätten die Hoffnung gehabt, daß sie nach nicht allzu langer Zeit wieder dorthin zurückkehren würden, woher sie gekommen waren.

 

NIEMAND HAT SICH VORSTELLEN KÖNNEN, DASS DIESES WEGGEHEN AUS DER HEIMAT EIN WEGGEHEN FÜR IMMER GEWESEN SEI.

Diesmal ist es Hedwigs Film, der abläuft, kleine Teilstücke eines Films, Erinnerungssplitter, die dazwischen fehlenden Teile sind nicht ergänzbar, Heidi ist damals zu klein gewesen, sie erinnert sich nur ungenau, ihr sind nur wenige Bilder und Eindrücke geblieben.

Sie hätten viel Hunger gehabt, ja, und dann hätte sie einmal das kleine Brüderchen, das im Bett des Großvaters lag, streicheln wollen, aber der Großvater habe ihre Hand zurückgezogen und gesagt, das Brüderchen könne sie nicht mehr streicheln, es sei schon tot.

An ihre erste Kommunion erinnert sie sich, die anderen Kinder seien alle Einheimische gewesen, sie die einzige, von der man wußte, daß daheim nichts, wirklich gar nichts zu diesem Fest an Besonderem auf den Tisch kommen konnte, da hätten die Mütter beschlossen, eine gemeinsame Tafel für alle Kinder in einem Gasthaus zu machen, so sei auch sie zu ihrem Stück Kuchen gekommen. Das hat sie nicht vergessen, sie ist dankbar dafür gewesen, ist es heute noch, sie wäre es damals auch gewesen, wenn ihre Mutter ihr nicht immer wieder gesagt hätte, sie seien jetzt so arm, daß niemand sie haben wolle, sie müßten für jede Freundlichkeit besonders dankbar sein.

Hedwigs Film zeigt den Umzug in das kleine Häuschen, das unbewohnt in einem der Nachbarorte stand. Die Tür hing schief in den Angeln, aber die Mauern waren trokken, es hatte ein Dach, einen Bretterboden.

Der Pfarrer, ein GROSSARTIGER MANN, sagt Hedwig, ein Mensch, der tatkräftige Hilfe geleistet hat, wo er nur konnte, besorgte Feldbetten, sie hatten eine Unterkunft für die nächste Zeit.

Dann der Besuch von Richards Schwester, die durch einen Brief Heinrichs über ihre Ankunft in W. informiert worden war und sich sofort auf den Weg machte, die Schwägerin aufzusuchen.

Sie sei, schreibt Richards Schwester in ihrem Tagebuch, zu Fuß mit einem Rucksack über Stammersdorf, Eibesbrunn, Wolkersdorf gegangen, am ersten Tag bis Gaweinstal, also etwa fünfunddreißig Kilometer weit. Unterwegs sei sie von Russenautos überholt worden, die Kartoffeln, Zucker, Mehl, aber auch Fahrräder und Einrichtungsgegenstände geladen hatten. Viele Menschen seien mit Rucksäcken, Handwagen, Kinderwagen unterwegs aus der Stadt zu den Bauern gewesen.

(Von Wolkersdorf bis Gaweinstal ging ich mit einem Wiener Arbeiter und seinem zehnjährigen Buben. Er geht alle vierzehn Tage, Samstag, Sonntag, Montag, hinaus und zurück, damit seine vier Kinder Erdäpfel haben.)

Die Felder zu beiden Seiten der Straße seien ausgedörrt und verwahrlost gewesen, von Bomben zerwühlt, überall seien verrostete Geschützteile und zertrümmerte Autos herumgelegen.

(Schützengräben entlang der Straße durch die Felder, die Obstbäume an den Straßenrändern mit abgebrochenen Ästen, umgefahren oder zerschossen. Von den Feldern in Straßennähe wird kein Bauer ernten. Die Russen lassen dort das Vieh weiden.)

Der Wirt in Gaweinstal habe sie nicht beherbergen wollen, er habe ihr nicht einmal erlaubt, auf einer Bank im Gastzimmer zu schlafen, er habe Russen im Haus gehabt und sich gefürchtet, eine Frau aufzunehmen, seine eigene Frau und seine Schwester, habe er ihr gesagt, müßten abends das Haus verlassen und sich verstecken.

Eine fremde Frau habe sie dann bei sich aufgenommen, ihr ein Nachtquartier gegeben.

(Als ich mich mit Dank verabschiedete, winkte sie nur ab und forderte mich auf, wiederzukommen. Ausgeruht wanderte ich bis Schrick, zusammen mit einem alten Mann, unterwegs begegnete mir ein Trupp vertriebener Landsleute aus Muschau, denen man an der Grenze alles, sogar die Kopfpolster und Tuchenten für die Kinder, weggenommen hat. In einem Handpäckchen und auf einem Schubkarren war ihr ganzer Besitz. Ich weinte mit ihnen.)

Bei Schrick sei ihr ein Treck begegnet, oder vielleicht der Rest eines Trecks, dreißig oder vierzig mit Schilf gedeckte Plachenwagen, es seien Siebenbürger Sachsen gewesen. (Ich sprach mit ihnen, sie waren elend, abgezehrt, viele traurig bis zum Stumpfsinn. Sie sagten, sie seien daheim freie Bauern gewesen, nun würden sie hier als Knechte arbeiten müssen. Sie seien schon lange unterwegs, zuletzt sind sie in Oberösterreich gewesen.)

An diesem zweiten Tag, schreibt Richards Schwester, sei sie von Gaweinstal etwa vierzehn Kilometer weit nach W. gegangen, habe dort Valerie daheim angetroffen, diese habe sie dann nach K. zu Hedwig und den Eltern begleitet. (Das erste Wiedersehen nach schwerer, banger Zeit war für uns alle voll Schmerz und doch voll Freude, da wir bis auf die beiden Kleinen leben und gesund sind.)

Hedwig sei sehr traurig gewesen, die beiden Kinder scheu, die alten Eltern gefaßt.

Ja, es seien gute, hilfsbereite Menschen im Dorf, vor allem der Pfarrer, der den anderen ein Beispiel gebe.

(In anderen Orten sieht man die Flüchtlinge nicht gerne, es sind zu viele für das ausgeraubte Land.)

Hedwigs Gedächtnis hat diesen ersten, unerwarteten Besuch ihrer Schwägerin als große Freude registriert.

Dann der Festtag, an dem es DAS GULASCH gegeben hat. Die Frau, die für Hedwig ein Stück Fleisch von einem Pferd schneidet, ihr das große Stück Pferdefleisch überreicht.

Josef, der Großvater, ging auf die Felder hinaus, in der Hoffnung, irgendwo ein paar von einem Wagen heruntergefallene Zwiebeln zu finden, er kam an ein Lauchfeld, begann, Lauch abzuschneiden, fand bei diesem Gang über das Feld einen schon halb verwesten toten Soldaten neben seinem ebenfalls schon verwesenden Pferd. (Damals, sagt Hedwig, sind überall die toten Soldaten und die toten Pferde gelegen, NICHTS WAR EINGEGRABEN.)

Josef erschrak, wendete sich ab, kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an, zwang sich dazu, in anderer Richtung weiterzugehen, trotzdem noch etwas von dem Lauch abzuschneiden, brachte den Lauch nach Hause, erzählte nichts von seinem grausigen Fund, ging erst später ins Dorf, um die Stelle anzugeben, an der er den Toten und sein verendetes Pferd gefunden hatte. Irgendwann, später, hat man den Mann und das Tier dann begraben.

Aus dem Lauch und dem Fleisch kochte Hedwig das Gulasch, an das sie sich, weil es ein so besonderes, seltenes Festmahl gewesen ist, heute noch erinnert.

Sie seien alle um den Tisch gesessen, hätten gegessen. Es habe ihr so geschmeckt, daß sie vor Übermut mit den Füßen gescharrt und das Wiehern eines Pferdes nachgeahmt hätte. Ihr Vater habe sie zornig angeschaut, dann nur noch in den Teller geblickt. Die Mutter sei aufgestanden, hinausgegangen, habe sich vor Ekel übergeben müssen. Daheim auf dem Hof waren die Pferde nicht nur Helfer bei der Feldarbeit, nicht nur Zugtiere für Wagen, Schlitten, Kutschen gewesen, man hatte sie wie Freunde, wie nahestehende Menschen geliebt. Nie hätte man sich vorstellen können, von ihrem Fleisch zu essen. Jetzt war es anders, die Not und der Hunger waren zu groß, aber selbst jetzt konnte Annas Magen dieses Fleisch nicht behalten.

Nie mehr hat sie Pferdefleisch gegessen, außer dann, wenn es gelang, sie zu täuschen, ein Gericht, das aus Pferdefleisch gekocht war, so zuzubereiten, daß sie nicht am Geschmack erkannte, was sie da aß. Sie hätten, sagt Hedwig, einmal von einer Tante aus Wien zwei Dosen mit HORSE-FLEISCH bekommen, es hätte ihnen herrlich geschmeckt, aber die Mutter habe keinen Bissen davon angenommen.

Bilder, die man aneinanderreiht, die man aus der Vergangenheit heraufholt, die es möglich machen, einen Teil dieser Vergangenheit zu beschwören.