Humanbiologie

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Wie wir bald sehen werden, fand in der Vergangenheit wahrscheinlich eine teilweise Hybridisierung dieser Arten (Arten?) statt. Dies steht im Widerspruch zur orthodoxen Artdefinition („die von anderen Arten reproduktiv isolierte Populationen“) und es könnte als ein Beweis interpretiert werden, dass Neandertaler usw. keine „guten“ Arten seien. Tatsächlich wissen wir heute, dass die teilweise Einkreuzung (Introgression) fremder DNA (oft mitochondrialer DNA) in das Genom einer anderen Art bei Tieren, einschließlich großer Säugetiere, relativ üblich ist – der Artstatus beruht folglich nicht darauf, dass sich Arten nicht kreuzen, sondern dass sie langfristig ihre Identität erhalten, selbst wenn sie sich kreuzen.

Box 2.5

Die Zahl der Arten fossiler Menschen: Dmanisi 2013

Neue Funde aus der Lokalität Dmanisi in Georgien deuten darauf hin, dass im Verlauf der letzten zwei Millionen Jahre auf der Erde nur zwei, dafür aber sehr erfolgreiche Menschenarten gelebt haben – Homo erectus und Homo sapiens. Georgische Funde, ursprünglich als „Homo georgicus“ beschrieben und in den Zeitraum des unteren Pleistozän datiert (ca. 1,8 mya), fungieren als Belege der ältesten menschlichen Besiedlung außerhalb von Afrika. Zum heutigen Tag wurden in Dmanisi fünf Schädel von „H. georgicus“ gefunden.

Der fünfte Schädel ist außerordentlich bemerkenswert, denn es handelt sich um den einzigen komplett erhaltenen Schädel aus diesem Zeitraum, wobei er in sich die Merkmale gleich mehrerer menschlicher Arten trägt: einen der afrikanischen Art H.habilis entsprechenden kleinen Hirnschädel (nur 546 cm3), massive Zähne wie der afrikanische H.rudolfensis und eine Gesichtsmorphologie, die an den eurasiatischen H.erectus erinnert. In Kombination mit den restlichen vier Schädeln liefert er erstmalig ein Zeugnis über die individuelle morphologische Variabilität einer ausgestorbenen lokalen Population ab. Hätten wir diese fünf Schädel (oder auch nur Einzelteile des fünften Schädels) an diversen Orten Afrikas, auch wenn in gleichaltrigen Schichten, gefunden, hätten wir dazu geneigt, diese Funde unterschiedlichen menschlichen Arten zuzuordnen. Wenn also die Schädel von Dmanisi wirklich nur einer Spezies gehören, dann hat es keinen Sinn, manche der bisherigen menschlichen „Arten“ zu unterscheiden. Nicht nur Homo ergaster und H.georgicus, aber vielleicht auch H.habilis, H.rudolfensis und H.floresiensis würden lokale Populationen von H.erectus darstellen, einer sehr erfolgreichen über zwei Millionen Jahre bestehenden Art, die in Afrika und Eurasien (von Spanien bis nach Indonesien) verbreitet war, und im Rahmen ihrer Verbreitungsareals natürlich sehr variabel.

Traditionell wird der ostafrikanische Homo habilis (2,3–1,4 mya) für den ältesten und ursprünglichsten echten Menschen gehalten (Abb. 2.7), berühmt vor allem als erster Hersteller und Nutzer der Oldowan-Steinwerkzeuge (Box 2.6, Tab. 2.2, Abb. 2.8). In der Zeit seiner Entdeckung, in den 1960er-Jahren, hatte man allerdings gerade erst begonnen, die reiche Kultur und Technologie des Schimpansen zu erforschen (vergleiche Kapitel 4.1), weshalb die Fähigkeiten von H.habilis heute weniger überraschend wirken. Alle Vorfahren des Menschen benutzten Steinwerkzeuge, genauso wie der gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch. Darüber hinaus zeigte eine Neuanalyse der dem H.habilis zugeschriebenen „Werkzeuge“, dass es sich zumindest bei einigen von ihnen eher um Gastrolithe (Magensteine) von Krokodilen handelt.


Abb. 2.7: Schädel von Homo habilis. Sein Schädel stellt ein Beispiel für Mosaikevolution dar. Abgeleitete morphologische Merkmale (vergrößertes Gehirn, verkleinerter Gesichtsschädel, Rundung des Hinterhauptbeins) sind mit den für die Gattung Australopithecus typischen Merkmalen kombiniert.


Abb. 2.8: Typische Steinwerkzeuge der Altsteinzeitkulturen. Chopper (Oldowan), Faustkeile (Acheuléen, Moustérien, Micoquien) und Schaber und Steinspitze (Atérien).

Box 2.6

Steinzeitkulturen

Während die Paläontologie (wörtlich die „Wissenschaft von alten Wesen“) als Grenzwissenschaft zwischen der Geologie und Biologie rein naturwissenschaftlich orientiert ist, beschäftigt sich Archäologie (wörtlich Altertumskunde) als Grenzwissenschaft zwischen Geschichte und Biologie mit der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Sie ist eher sozial- als naturwissenschaftlich orientiert. Im Fokus der Archäologie steht ausschließlich der Mensch (Gattung Homo) und hier insbesondere seine kulturellen Artefakte (also materiellen Hinterlassenschaften), wie etwa Werkzeuge, Kunstwerke usw. Daraus ergibt sich, dass die Archäologie einen Zeitabschnitt abdeckt, der „erst“ ca. 2,5 mya begann. Die Nomenklatur der archäologischen Abschnitte, die von den merklichen technologischen Unterschieden in der Werkzeugherstellung bestimmt wird, und die paläontologische Zeiteinteilung sowie die absolute Datierung werden in Tab. 2.2 verglichen. Die früheste Epoche der Menschheitsgeschichte wird durch die Überlieferung von Steinwerkzeugen (vergleiche Abb. 2.8) charakterisiert und entsprechend als Steinzeit bezeichnet. Die Steinzeit wird in drei Abschnitte (Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit), die Altsteinzeit wiederum in drei Perioden unterteilt: Alt-, Mittel- und Jungpaläolithikum (von griech. lithos = Stein). Innerhalb der Perioden unterscheidet man je nach den vorherrschenden Artefakten (Industrien) bzw. Technologien unterschiedliche Kulturen. Diese werden nach dem ersten Fundort genannt. So leitet sich z.B. „Oldowan-Kultur“ von der Olduvai-Schlucht ab.) Die Gliederung und Datierung einzelner Epochen, Perioden und Kulturen ist regional unterschiedlich, die Zeitangaben in Tab. 2.2 sind also nur Orientierungshilfen.

Als ein typisches Merkmal der Gattung Homo können wir daher nicht die Nutzung der Werkzeuge per se, sondern erst ihre systematische Herstellung betrachten. Die Zuordnung des H.habilis zur Gattung Homo ist vermutlich richtig, sollte jedoch nicht die eher „australopithekoide“ Anatomie und wahrscheinlich auch die Ethologie dieser Art verschleiern (Abb. 2.7). Angesichts der unklaren Stellung der Arten Australopithecus sediba aus Südafrika und Homo rudolfensis (2,5–1,8 mya) aus Ostafrika herrscht jedoch noch Klärungsbedarf. Dass H.habilis nicht der direkte Vorfahre der „Großmenschen“ war, sondern ein verwandter Nebenzweig, zeigt auch die lange Koexistenz von H.habilis und H.ergaster in Ostafrika (Abb. 2.4).

Die 2010 beschriebene Art H.gautengensis aus Südafrika (von 2 mya bis weniger als 1 mya, also bis in eine Zeit, als in Afrika bereits sehr fortgeschrittene „Großmenschen“ lebten) stellt eine weitere alte, auffällig lange existierende (persistierende), phylogenetisch basale Form des Menschen dar. Sie zeichnete sich durch eine geringe Körpergröße aus und war vermutlich auf feste pflanzliche Nahrung spezialisiert.

Tab. 2.2: Zeittafel der Steinzeit. Es handelt sich nur um eine Orientierungsübersicht, die Datierung einzelner Kulturen ist regional unterschiedlich. Nicht alle Kulturen sind aufgeführt, und auch nur einige wenige Beispiele für typische Funde werden angegeben. Für die Illustration einiger Werkzeuge siehe Abb. 2.8.


AlterKulturBeispiel der typischen ArtefaktePeriodeEpocheHersteller
EisenzeitH. sapiens
Bronzezeit
JungpaläolithikumKupfersteinzeit
8–3 tyaJungsteinzeit(Neolithikum)
10–6 tyaMittelsteinzeit(Mesolithikum)
18–10 tyaMagdalénien KnochenpfeileAltensteinzeit(Paläolithikum)
21–17 tyaSolutréenNadeln mit Ohr, gravierte Knochen
28–22 tyaGravettienVenusfigurinen
32–26 tyaAurignacienKielkratzer, Stichel aus Feuerstein, Petroglyphen
35–29 tyaChâtelperronienTierplastiken und Höhlenmalerei
82 tyaAtérienflache und ovale Werkzeuge (Blattspitzen)MittelpaläolithikumH. sapiensH. nenaderthalensis
130–70 tyaMicoquienTechnik mit asymmetrischen Faustkeilen
250–35 tyaMoustériensehr fein verarbeitete Werkstücke in zahlreichen, auf die Funktion hin gestalteten Formen; typisch sind fein ausgebildete Faustkeile
1,7–0,1 myaAcheuléenfeiner bearbeitete FaustkeileAltpaläolithikumH. heidelbergensis H. ergaster
2,6-1,8 myaOldowan(Olduwan)Geröllgeräte, Hacksteine, sog. Chopper und Chopping ToolsH. georgicus,H. gautengensis H. habilis, H. rudolfensis

2.4 „Hobbit“ (Homo floresiensis)

Vielleicht die größte Sensation der Paläoanthropologie in den letzten Jahren war 2004 die Entdeckung des Miniaturmenschen in Liang Bua auf der ostindonesischen Insel Flores. Es handelt sich dabei um fast unglaublich junge Funde – „Hobbits“ lebten auf Flores bereits vor ca. 95 tya und noch bis etwa 12–18 tya, existierten also noch mehr als 10.000 Jahre nachdem der letzte Neandertaler gestorben war. Zweifellos sind sich moderne Menschen und Hobbits noch begegnet. (Die Erinnerung an das womöglich schwierige Zusammenleben mit „Hobbits“ hat vielleicht bis heute im Folklorewesen Ebu Gogo überlebt. Die Ebu Gogo waren kleine Menschen, die unbestätigten Erzählungen zufolge noch im 18.–19. Jahrhundert auf der Insel gelebt haben sollen.) Hobbits waren auffällig klein (1,1 m, 25 kg) (Abb. 2.5) und besaßen kleine Köpfe (Hirnschädelvolumen 400 cm3). Gerade die außerordentlich kleinen Gehirne nährten lange den Verdacht, dass es sich um eine krankhafte (pathologische) Mikrozephalie handelte. Und in der Tat ist dies merkwürdig, denn die meisten sekundär miniaturisierten Säugetiere haben relativ große Gehirne (eine Ausnahme sind z.B. die Flusspferde auf Madagaskar). Ein wirkliches Rätsel ist das Vorkommen von „Hobbits“ ausgerechnet auf Flores: Diese Insel ist kein Bestandteil des asiatischen Shelfs und war nie über eine Landbrücke, also trockenen Fußes, erreichbar. „Hobbits“ lebten hier in einem bizarren Ökosystem zusammen mit Zwergelefanten, Riesenratten, Komodowaranen und riesigen Marabustörchen. Flores muss vor einigen Zehntausend Jahren wahrlich ein besonderer Ort gewesen sein.

 

H. floresiensis wurde ursprünglich als miniaturisierte Inselform des H.erectus interpretiert, eine aus dem Gesichtspunkt der Geografie und Stratigrafie logische Hypothese, die erst kürzlich auch durch eine detaillierte Analyse der kraniofazialen Morphologie bestätigt werden konnte. Allerdings zweifeln einige Forscher die Existenz einer eigenständigen Menschenart auf Flores an. Sie postulieren, dass „Hobbits“ pathologische Abweichungen darstellen (Mikrozephalie, Laron-Syndrom, endemischer Hypothyroid-Kretinismus). Man muss aber betonen, dass es sich nicht um pathologische Individuen, sondern um eine ganze Population handeln müsste, die auf Flores mehrere Tausend Jahre lebte. Der „Krieg um den Hobbit“ wurde in der ersten Dekade unseres Jahrhunderts sehr heftig geführt. Im Verlauf der Streitereien wurde die „Pathologie-Hypothese“ ebenso häufig widerlegt wie wiederbelebt. Wie das in der Wissenschaft häufig vorkommt, konnte keine Seite vollends überzeugen. Die neueren Versuche zur phylogenetischen Analyse der Reste des „Hobbits“, mit dem Fokus diesmal nicht auf dem zweifelhaften Schädel, sondern auf den Extremitäten, deuten darauf hin, dass es sich nicht nur um eine besondere, sondern vor allem um eine außerordentlich primitive Art handeln könnte, die sich irgendwo auf der Ebene des H.habilis abgespalten hat. Für die basale Stellung des „Hobbits“ spricht eine Reihe morphologischer Merkmale, wie z.B. der robuste Unterkiefer ohne „Kinn“, die primitiven Prämolaren, die Form des Hirnschädels, der Bau der Handwurzel, die Fußform und die Körperproportionen, die alle eher den Australopitheken oder H.habilis ähneln. In diesem Fall wäre die Miniaturisierung nicht besonders dramatisch ausgefallen. Andererseits würde diese Sichtweise die Existenz einer umfassenden und bisher unbekannten Migration von primitiven afrikanischen „Menschen“ über Asien hinweg voraussetzen, für die sich (bisher) keine Spuren finden lassen (vielleicht mit Ausnahme von ca. 2 Millionen Jahre alten Steinwerkzeugen aus der Fundstelle Riwat in Pakistan). Bemerkenswert ist auch, dass die menschlichen Werkzeuge auf Flores in ca. 1 mya alten Erdschichten gefunden wurden, ihre Fossilisierung also lange vor der Ankunft moderner Menschen nach Indonesien begonnen hatte.

Man kann zusammenfassen, dass H.floresiensis gegenwärtig zumeist für eine eigenständige Art gehalten wird, deren phylogenetische Stellung aber rätselhaft bleibt. Immerhin besteht die Hoffnung, dem Rätsel mit molekulargenetischen Methoden auf die Spur zu kommen, wenn es gelingt, DNA aus den relativ jungen „Hobbit“-Knochen zu gewinnen und zu analysieren.

2.5 Homo erectus im weiten Sinne

Die augenfälligste evolutionäre Änderung (Körpervergrößerung, Abb. 2.5, wahrscheinliche Rückbildung der Körperbehaarung usw.) findet sich erst bei H.erectus im weiteren Sinne und seinen Nachkommen.

2.5.1 Homo ergaster

Die Schlüsselart der „großen Menschen“ und ihr ältester Vertreter ist der ost- und südafrikanische H.ergaster (1,4–1,9 mya). Traditionell wurde er für eine alte afrikanische Form von H.erectus gehalten. Heute wird seine nahe anzestrale Beziehung zur „Sapiens-Linie“ (H.heidelbergensis und seine Nachkommen) und auch zu asiatischen Populationen von H.erectus allgemein anerkannt (Abb. 2.9). Homo ergaster war bis zu 180 cm groß, also wesentlich größer als die basalen Vertreter der Gattung Homo („Habilini“), und zeichnete sich durch „moderne“ Körperproportionen aus – im Gegensatz zu den Australopitheken konnte er auch schnell laufen. H.ergaster nutzte als erster – zumindest in späteren Zeiten – auch abgeleitete, fein bearbeitete Steinwerkzeuge (Acheuléen-Kultur) (Tab. 2.2). Es scheint, dass seine Sozialstruktur ähnlich der des modernen Menschen war (reduzierter Geschlechtsdimorphismus im Vergleich zu den „Habilinen“). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das als KNM-ER 1808 bezeichnete Skelett einer Frau, die offenbar eine normalerweise fatale Hypervitaminose A langfristig überlebt hat, was zum einen auf intensive Jagd (und Leber der Raubtiere als übliche Nahrung) hindeutet, zum anderen auf eine anfängliche „ärztliche Fürsorge“ und damit auf ein Sozialverhalten, das ein bedeutendes Maß an Kooperation und Koordination einschließt.


Abb. 2.9: Stammbaum und räumlich-zeitliche Verteilung der Urmenschen (Gattung Homo).

2.5.2 Homo georgicus

Eine sehr zweifelhafte Art ist H.georgicus (mit einem Alter von ca. 1,8 mya), die auf Funde aus der georgischen Lokalität Dmanisi zurückgeht. Es handelt sich wahrscheinlich um eine lokale Population von H.ergaster und den ersten Bewohner des westlichen Eurasiens (Box 2.5). Wichtige Merkmale des georgischen Menschen sind seine relativ geringe Körpergröße und der Gebrauch primitiver Steinwerkzeuge (Oldowankultur), ein Merkmal, das er mit „Habilinen“ und ursprünglichen Populationen von H.ergaster teilte (Tab. 2.2). Interessanterweise ähnelt das Gebiss von H.georgicus eher dem Gebiss alter afrikanischer Menschenarten; und Steinwerkzeuge aus Yunnan in Südwest-China sind nur wenig jünger. Auch dies könnte auf eine basale phylogenetische Stellung von H.georgicus und eine weitere Verbreitung hinweisen.

2.5.3 Homo erectus im engen Sinne

Diese seit Langem (seit 1891) bekannte asiatische Art lebte während eines sehr langen Zeitraums zwischen 1,8 mya bis ein paar tya im südöstlichen Asien, nämlich in Indonesien („Pithecanthropus“) und China („Sinanthropus“) (Tab. 2.1, Abb. 2.9 und 2.10). Sekundär hat sie sich auch in Westeurasien ausgebreitet und ist zurück nach Afrika (ca. 1 mya) gewandert. H.erectus ist der unmittelbare Nachkomme des afrikanischen H.ergaster. Im Unterschied zu seinem afrikanischen Vorfahren, von dem er sich 2 mya getrennt hatte, war H.erectus an der Evolution des modernen Menschen nicht unmittelbar beteiligt. Interessanterweise finden wir bei den asiatischen Populationen von H.erectus keine Acheuléen-Werkzeuge (Tab. 2.2), obwohl der afrikanische H.ergaster sie schon gebrauchte. Es kann sich entweder um den „Beweis“ der sehr frühen Abspaltung der asiatischen von der afrikanischen Linie (noch vor der Erfindung der Acheuléen-Technologie) handeln, oder um einen Hinweis auf die Nutzung anderer, weniger fossilisierbarer Materialien für die Werkzeugherstellung in Asien (Bambus?).


Abb. 2.10: Schädel von Homo erectus. Für den Schädel charakteristisch sind die flache, fliehende Stirn, die mächtigen Überaugenwülste, der verlängerte, niedrige Hirnschädel, die großen, robusten Jochbögen, das nach vorne vorspringende Gesicht und die mächtigen Kiefer.

2.6 Homo sapiens im weiten Sinne

2.6.1 Homo antecessor

Eine wenig bekannte Art aus der Sierra de Atapuerca in Spanien (0,8–0,2 mya) ist der H.antecessor, der älteste fossile Mensch in Europa und wahrscheinlich der basale Angehörige der afroeuropäischen Linie, die vom H.ergaster zum modernen Mensch führt. Ungefähr aus demselben Zeitraum stammen auch einige in Ost-England (also relativ nahe an der Grenze zur borealen Klimazone) gefundene menschliche Spuren und Steinwerkzeuge. Ob ihr Hersteller H.antecessor war, ist schwer zu beurteilen, aber wir kennen heute keine andere Menschenart, die damals Europa bewohnte. (Allerdings ist Vorsicht geboten: Eine neue Datierung evolutionärer Ereignisse, die auf der Mutationsrate zwischen den nachfolgenden Generationen beruht (Kapitel 3.2), ermöglicht auch andere, unorthodoxe Interpretationen der Fossilien.)

2.6.2 Homo heidelbergensis

H.heidelbergensis ist eine heterogene Sammlung von afrikanischen und eurasischen (von Spanien bis China, vielleicht auch Westindien) Populationen aus dem Zeitraum 600–250 tya. Es handelt sich eindeutig um einen Menschen vom heutigen Typ, der sehr wahrscheinlich fähig war, artikuliert zu sprechen und über ein komplexes Symbolverhalten verfügte (Bestattung der Toten?). Aus diversen Populationen des Heidelbergmenschen entstanden offensichtlich die späteren Arten H.neanderthalensis (direkte Vorfahren vom Neandertaler werden manchmal auch als „H.steinheimensis“ bezeichnet) und H.sapiens (über afrikanische Übergangsformen „H.rhodesiensis“ oder „H.helmei“). Der mittels der Molekularuhr geschätzte Zeitpunkt der Divergenz von Neandertaler und modernem Mensch (über 500 tya) entspricht gerade jenem Zeitpunkt, als sich diverse Formen im Rahmen des Komplexes heidelbergensis-steinheimensis-rhodesiensis-helmei aufspalteten. Zu diesem heterogenen Komplex gehört wahrscheinlich auch der sogenannte „H.cepranensis“ von der Apenninen-Halbinsel/Italien (ursprüngliche Datierung 0,8–0,9 mya, nach heutigen Angaben deutlich jünger) (Box 2.7).

Box 2.7

Sima de los Huesos 2013

Zum Schluss des Jahres 2013 wurde die mitochondriale DNA-Sequenz aus einem ca. 400.000 Jahre alten Oberschenkelknochen aus der Fundstelle Sima de los Huesos im Atapuerca-Gebirge im Norden Spaniens publiziert. Weil es sich um Überreste der „Spezies“ Homo heidelbergensis handelt (zwar mit vielen „neandertaloiden“ Merkmalen, was aber nicht überraschend ist, denn aus den europäischen Populationen von H.heidelbergensis sind ja Neandertaler entstanden) konnte man erwarten, dass die Analyse diese Population als eine Schwestergruppe der Neandertaler oder Schwestergruppe der Neandertaler plus moderner Menschen, identifizieren würde. Weder noch: Der Mensch von Sima de los Huesos ist dem rätselhaften altaischen Denisova-Menschen nah verwandt, bzw. seine Mitochondrien sind den Denisova-Mitochondrien verwandt (was nicht das gleiche sein muss), aber die Verwandtschaft zwischen der spanischen und altaischen Population (bzw. deren Mitochondrien) scheint geringer zu sein als die verwandtschaftliche Beziehung von Neandertaler und modernem Menschen. Die Widersprüche zwischen den auf der mitochondrialen und Kern-DNA beruhenden Ergebnissen weisen auf eine Kreuzung der Denisovaner mit noch älteren Formen (ostasiatischer H.erectus?) hin. In jedem Fall zeigt sich, dass die alten menschlichen Populationen weit verbreitet und wahrscheinlich auch sehr mobil waren. (Was beunruhigt, ist die Tatsache, dass bisher jeder alte Fund, von dem es gelungen ist, DNA zu isolieren, unsere Sicht der Phylogenese des Menschen wesentlich geändert hat – was erwartet uns noch? Letztendlich befindet sich nur ein paar Hundert Meter von der Fundstelle in Sima de los Huesos entfernt die Lokalität Gran Dolina, aus der der noch ältere H.antecessor beschrieben wurde …)

2.6.3 Homo neanderthalensis

Der bekannteste fossile Verwandte des modernen Menschen bewohnte Europa, den Nahen Osten und Westasien (östlich bis zum Altai). Das Alter dieser Spezies reicht von 350 (270–440) bis 30–40 Tausend Jahre (spätere Schätzungen werden in letzter Zeit angezweifelt). Es ist also fast sicher, dass er in einigen Teilen seines Verbreitungsareals langfristig mit dem modernen Menschen koexistierte. Bei H.neandertalensis handelte es sich um eine Form, die zunächst Gebiete der gemäßigten Zone bewohnte und sich später an die kalten Bedingungen des letzten Glazials adaptierte. Neandertaler waren robuster als heutige Menschen (einschl. eines größeren Gehirnvolumens) (Abb. 2.11). Biologisch und kulturell stellen sie das Taxon dar, das dem heutigen Mensch evolutionär am nächsten steht – die Übereinstimmungen überwiegen deutlich die Unterschiede (Box 2.8). Häufige, umfangreiche und geheilte Verletzungen weisen darauf hin, dass sich die Jagdtechnik von Neandertalern von der des modernen Menschen unterschied. Sie beruhte eher auf einem Kontaktkampf mit der Beute, während moderne Menschen auf das Erfinden und Weiterentwickeln von Fernwaffen (Bögen und Pfeile, Wurfspeere) hinarbeiteten.

 

Abb. 2.11: Schädel von Homo neanderthalensis mit typischen Merkmalen.

Box 2.8

Wie sahen unsere Vorfahren aus?

Wenn wir uns die Rekonstruktionen von Neandertalern in der populärwissenschaftlichen Literatur anschauen, registrieren wir eine bemerkenswerte „Evolution“ dieser Art – von menschenaffenartigen Bestien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu der heutigen Sicht auf Neandertaler als Menschen, die wir in der U-Bahn wahrscheinlich kaum bemerken würden. Es geht nicht darum, dass die neue Sicht bestimmt genauer ist, aber darum, dass alle Rekonstruktionen auf visuellen und emotional bedeutenden Merkmalen beruhen, über die wir bei ausgestorbenen Arten nichts wissen. Australopithecinen werden heute oft dargestellt mit menschlichen Augen mit weißer Sklera und markant gefärbten Regenbogenhäuten, nicht mit den schimpansenartigen Augen. Mit einigen wenigen Pinselzügen (und in Photoshop noch einfacher) kann man den Australopithecus vermenschlichen oder entmenschlichen, beliebig nach Wunsch.

Alles weist darauf hin, dass Neandertaler eine artikulierte Sprache besaßen: die Anatomie des Stimmapparats und des hypoglossalen und spinalen Kanals (Kapitel 7.9.4), außerdem der Besitz des menschlichen Typs des „Sprachgens“ FOX2P (siehe auch Kapitel 7.9.3). Für Neandertaler ist die Moustérien-Werkzeugkultur (Tab. 2.2, Abb. 2.7) typisch, die kontrollierte Nutzung des Feuers und der Bau komplizierter Behausungen. Die Existenz von Ritualen (Beerdigungen) oder von künstlerischen Produkten (Schmuck, Musikinstrumente) kann als sehr wahrscheinlich angenommen werden.

Neandertaler wiesen wahrscheinlich ein schnelles postnatales Wachstum auf, sie hatten nur eine sehr kurze präpubertale Kindheit und ihre Ontogenese war offensichtlich für die Mutter energetisch anspruchsvoller als beim modernen Menschen, worauf auch längere Intervalle zwischen den Geburten hindeuten. Trotz des schnelleren Wachstums erlangten sie ihre Geschlechtsreife später. Von den verfügbaren genetischen Daten kann man ableiten, dass Neandertaler (ähnlich wie moderne Menschen) patrilokal waren, aber langfristig in kleinen Populationen mit niedriger genetischer Diversität lebten. Die Molekulardaten weisen darauf hin, dass die Neandertaler im europäischen Teil des Verbreitungsareals lange vor der Ankunft des modernen Menschen ausstarben. Mittel- und Westeuropa wurden dann vom Osten rekolonisiert und so entstand die Neandertaler-Population, welche – in der Zeit, wenn sie selbst schon auf die Extinktion zusteuerte – unseren unmittelbaren Vorfahren begegnete.

2.6.3 Denisova-Mensch

Im Jahre 2010 wurde überraschenderweise eine neue Menschenart in der Denisova-Peschera (Denis-Höhle) im Altaigebirge (wo nicht lange davor Neandertaler lebten) entdeckt. Aus einem winzigen Fragment des Fingergliedknochens (ca. 40.000 Jahre alt) wurden die mitochondriale DNA und später auch das Kerngenom isoliert. Sie zeigen, dass es sich um eine eigenständige Linie handelt, wahrscheinlich eine genetisch deutlich unterschiedliche Schwesterlinie des Neandertalers. Auch die ersten morphologischen Studien der Denisova-Zähne zeigen, dass es sich um eine morphologisch eigenständige und ziemlich archaische Gruppe handeln muss.

2.6.4 Homo sapiens im engen Sinne

Der moderne Mensch ist der nächste Verwandte des Neandertalers (und des „Denisovaners“) und damit ein weiterer direkter Nachkomme von afrikanischen Populationen des H.heidelbergensis. Nach molekulargenetischen Analysen ist der gemeinsame Vorfahre der heutigen (weltweiten!) Populationen des modernen Menschen in Afrika im Zeitraum um 200–300 tya zu suchen. Von ein bisschen jüngeren Funden in Äthiopien (Herto) wurde ein besonderes Taxon, H.sapiens idaltu, benannt, der den Vorfahren heutiger Menschen geografisch und stratigrafisch sehr nah steht. Es waren bestimmt nicht die einzigen ziemlich modernen Menschen, die damals Afrika bewohnt haben: eine morphometrische Analyse alter Afrikaner (aus dem Zeitraum 200–60 tya) zeigte eine große Variabilität (größer als bei vergleichbaren Stichproben rezenter Menschen), was von der Existenz einer tief strukturierten menschlichen Population im damaligen Afrika zeugt (Abb. 2.12).


Abb. 2.12: Schädel von Homo sapiens mit typischen Merkmalen.

Menschliche Populationen afrikanischer Herkunft können als die Vorfahren der heutigen Menschheit angesehen werden: 115–135 tya wurde von ihnen zum ersten Mal der Nahe Osten besiedelt, 85 tya Südarabien, in den folgenden 10000 Jahren ganz Süd- und Südostasien einschließlich der Großen Sundainseln (die zum asiatischen Schelf gehören, sodass sie zu jener Zeit aus Asien „trockenen Fußes“ zu erreichen waren). Etwas später wurden Neuguinea, Australien und China besiedelt, mehr als 50 tya begann die Ausbreitung nach Europa; um ca. 40 tya war ein Großteil Eurasiens besiedelt und 20–30 tya begann der Mensch damit, sich Richtung Beringia (die damals existierende Landbrücke über die Beringsee zwischen Nordostasien und Nordwestamerika) und danach auch nach Amerika auszubreiten. Ausführlicher werden wir diese Geschichte in den nächsten Kapiteln behandeln – an dieser Stelle sei nur erwähnt, dass die modernen Menschen auf ihrem Weg durch Eurasien ca. 50 tya mehreren Menschenarten begegneten, die Afrika schon lange vor ihnen verlassen hatten – in Europa, im Nahen Osten und Sibirien waren es Neandertaler, in Asien „Denisovaner“, auf Flores „Hobbits“. Und es ist nicht auszuschließen, dass sie in verschiedenen Teilen Asiens auch auf Populationen des H.erectus trafen (obwohl die Sedimente im Gebiet Ngandong auf Java, wo H.erectus soloensis gefunden wurde, von dem angenommen wurde, dass er die Ankunft moderner Menschen erleben konnte, doch etwas älter sind als ursprünglich angenommen, ca. 150–500 tya). Für einen intensiven Kontakt mit sehr altertümlichen Menschentypen in Asien spricht überdies ein merkwürdiger indirekter Hinweis: während die Kopf- und Kleiderläuse (Pediculus humanus) aller Menschen der Alten Welt eine homogene Gruppe bilden, sind die Kopfläuse amerikanischer Indianer ganz unterschiedlich und haben sich genetisch von den Altweltläusen schon vor mehr als einer Million Jahre getrennt. Damals gab es natürlich noch keine modernen Menschen (geschweige denn Indianer) in Amerika. Eine mögliche Erklärung wäre, dass es sich um die Folge eines Austausches von Läusen zwischen den Vorfahren der Indianer und unbekannten Menschen (nach der Datierung der Divergenz wahrscheinlich H.erectus) in Ostasien handelt; diese letzteren Menschen sind ausgestorben, aber ihre Läuse haben in den Haaren jener Vorfahren der Indianer überlebt, die sie später mit nach Amerika brachten.

Die traditionelle Vorstellung der Entwicklung einer modernen menschlichen Population, die in Afrika entstanden ist und dann den ganzen Planeten besiedelte („Out-of-Africa“), muss sich daher auch mit der Tatsache einer langen Koexistenz des modernen Menschen mit archaischen Formen in Afrika und Eurasien auseinandersetzen. Gegenwärtig können wir über die Interaktionen der verschiedenen Menschenarten einiges aus den genetischen Daten ableiten, denn wir kennen z.B. die kompletten Genome von Neandertaler und „Denisova-Mensch“). Darüber hinaus liefert auch die Paläoanthropologie einige beunruhigende Funde, die das klassische Szenario zumindest zweifelhaft machen. Einer der bekanntesten dieser Funde ist der sogenannte Mungo Man aus Südostaustralien (40–50 tya), der eine moderne Anatomie und modernes Verhalten (Kremation von Toten, rituale Nutzung vom Ocker) aufweist, aber eine archaische mitochondriale DNA besitzt. Dies hat alte Spekulationen neu belebt, dass auch die sogenannten robusten Australier (Kow Swamp, 9–13 tya) Spuren einer alten Kreuzung mit den indonesischen Populationen von H.erectus tragen könnten. Man muss jedoch zugeben, dass alle australischen Ureinwohner, gegenwärtige und subfossile, „robuste“ und sonstige, auf Basis ihrer mitochondrialen DNA in dieselbe Gruppe gehören, wie die anderen modernen Menschen, und dass gerade die besonders „erectoid“ wirkenden Australier viel jünger sind als der Mungo Man. Außerdem wird die zeitliche Überlappung von H.sapiens und H.erectus auf Java inzwischen stark angezweifelt.

Eine andere merkwürdige Tatsache ist das Auffinden von menschlichen Fossilien mit einer mehr oder weniger „modernen“ Anatomie in China (Lokalität Zhirendong in der Region Guangxi), die einer Zeitperiode um 110 tya zugeordnet werden, also 60000 Jahre bevor unsere Vorfahren aus Afrika eintreffen sollten.