Humanbiologie

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Die UTB-Reihe

Hynek Burda | Peter Bayer | Jan Zrzavý

Humanbiologie

Haupttitel

Über die Autoren

Prof. Dr. Hynek Burda ist Universitätsprofessor und Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Zoologie an der Universität Duisburg-Essen. Er hält vielseitige Lehrveranstaltungen in der allgemeinen und systematischen Zoologie, Evolutionsbiologie, Tier- und Humanmorphologie, Verhaltensbiologie und Ökologie. Forschungsschwerpunkte: Sinnesbiologie, Verhaltensökologie sowie Biologie subterraner Säugetiere. Er ist außerplanmäßiger Professor an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Südböhmischen Universität und der Forstwirtschaftlichen Fakultät der Tschechischen Agraruniversität in Prag, Tschechische Republik.

Prof. Dr. Peter Bayer ist Universitätsprofessor und Lehrstuhlinhaber für Strukturelle und Medizinische Biochemie an der Universität Duisburg-Essen. Er unterrichtet Biochemie und Biophysik in Vorlesungen, Seminaren und Praktika für die Fachrichtungen Biologie und Chemie sowohl für Naturwissenschaftler als auch Lehramtsstudierende. Seine Lehrveranstaltungen umfassen neben humanbiologischen und medizinischen Aspekten auch die Grundlagen moderner Techniken der Biochemie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Proteinbiochemie, insbesondere der Strukturaufklärung von Biomolekülen und deren Interaktionen.

Prof. Dr. Jan Zrzavý ist Universitätsprofessor und Lehrstuhlinhaber für Evolutionsbiologie und Phylogenetik an der Südböhmischen Universität in Ceske Budejovice, Tschechische Republik. In Forschung und Lehre vertritt er v.a. die Evolutionsbiologie, Phylogenetik, Phylogenese und Biodiversität der Tiere und des Menschen.

Die UTB-Reihe

Haupttitel

Über die Autoren

Impressum

Vorwort

Danksagung, Widmung

1 Phylogenetische Stellung des Menschen

1.1 Primaten

1.2 Hominoidea (Menschenartige)

2 Phylogenese des Menschen

2.1 Entstehung der „menschlichen“ phylogenetischen Linie

2.2 Australopithecina (Australopithen)

2.3 Basale Arten der Gattung Homo

2.4 „Hobbit“ (Homo floresiensis)

2.5 Homo erectus im weiten Sinne

2.6 Homo sapiens im weiten Sinne

3 Geschichte gegenwärtiger menschlicher Populationen

3.1 Innerartliche Diversität

3.2 Quellen der Informationen über die Phylogeografie

3.3 Eva der Mitochondrien und Adam des Y-Chromosoms

3.4 „Out-of-Africa“ oder Multiregionalismus?

3.5 Genetische Differenzierung in Afrika

3.6 Auswanderung aus Afrika

3.7 Indien und der Weg nach Australien

3.8 Besiedlung Europas

3.9 Ostasien und Besiedlung von Ozeanien und Madagaskar

3.10 Besiedlung Amerikas

4 Kultur

4.1 Kulturelle Evolution

4.2 Genokulturelle Koevolution

4.3 Entstehung der modernen menschlichen Kultur

4.4 Sprachen und Ethnien

4.5 Sprachen und Genetik

4.6 Phylogenese von Sprachen

4.7 Ethnische Differenzierung der Menschheit

5 Ökologie, Ökonomie und Soziologie

5.1 Jäger und Sammler

5.2 Entstehung der Nahrungsmittelproduktion

5.3 Soziologie

5.4 Gewalt, Kriege, Genozide

6 Soziobiologie (Sozialverhalten)

6.1 Wie leben die Hominiden?

6.2 Sexuelle Selektion und Sexualverhalten

6.3 Paarungssysteme, Evolution der Familie

6.4 Verwandtenselektion

7 Der Mensch – ein einzigartiges Tier: Apomorphien

7.1 Genetische Unterschiede zum Schimpansen

7.2 Habitus: Körper, Kopf

7.3 Haut

7.4 Bipedie

7.5 Hand und Manipulation

7.6 Gehirn

7.7 Neurochemie

7.8 Psyche, Geist, Seele

7.9 Sprache, Sprechen

7.10 Sinnesorgane und Sinneswahrnehmung

7.11 Geschlechtsorgane und Sexualität

7.12 Fortpflanzungsorgane und Fortpflanzung

7.13 Lebenszyklus (Kindheit, Pubertät, Menopause, Altern)

7.14 Ökomorphologische und -physiologische Anpassungen

8 Krankheiten (evolutionäre Medizin)

8.1 Verletzungen, Belastungen, Schädigungen und ihre Folgen

8.2 Vergiftungen (Toxikosen)

8.3 Mangelerkrankungen

8.4 Parasitosen, Infektionen

8.5 Genetische und (fehl)entwicklungsbedingte Krankheiten

8.6 Krankheiten des Alters

8.7 Neue Noxen („Zivilisationskrankheiten“)

9 Epilog

9.1 Demografische Probleme

 

9.2 Ökologie, Umwelt, Biodiversität

9.3 Wann beginnt und wann endet das menschliche Leben?

9.4 Evolution: Medizin und natürliche Selektion?

10 Weiterführende Literatur

Evolution

Verhalten, Evolutionäre Psychologie

Anthropologie und Primatologie

Humanbiologie (Anatomie, Biochemie, Medizin, Physiologie)

Sachbücher

Fachzeitschriften

Internetseiten

11 Register

12 Tabellenanhang (Zusätzliche Darstellung aller Tabellen als skalierbare Bilddatei. Diese Darstellung entspricht der Druckversion.)

Impressum

Haftungsausschluss

Autoren und Verlag bemühen sich sehr um aktuelle, richtige und zuverlässige Angaben. Fehler können jedoch nicht vollständig ausgeschlossen werden. Eine Garantie für die Richtigkeit der Angaben kann daher nicht gegeben werden. Haftung für Schäden und Unfälle wird aus keinem Rechtsgrund übernommen.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2014 Eugen Ulmer KG

Wollgrasweg 41, 70599 Stuttgart (Hohenheim)

E-Mail: info@ulmer.de

Internet: www.ulmer.de

Grafiken: Jan Burda

Titelbild: Evolution: © petrol/Fotolia.com; DNA: © norman blue/Fotolia.com

Produktion: r&p digitale medien | v2

ISBN 978-3-8463-4130-8 (ePub)

Vorwort

Wer hat sich nicht schon einmal die Frage gestellt, wie wir Menschen eigentlich zu dem geworden sind, was wir heute sind? Woher kommen all die Dinge, über die wir im Affenhaus lachen, die uns aber bei unseren Nächsten erschrecken? Was macht uns so einzigartig unter all den anderen Lebewesen, und sind wir eigentlich so einzigartig, wie manche Menschen gerne glauben würden? Was können wir von unseren nächsten Verwandten über uns selbst lernen und können wir überhaupt etwas lernen? Wenn wir die Antworten kennen wollen, müssen wir uns mit der Evolutionsgeschichte der Linie beschäftigen, die zu uns und zu unseren Verwandten, den Menschenaffen, führt.

Dies ist eine Sichtweise, eine von mehreren, wie man den Begriff Humanbiologie verstehen kann und wie wir sie in diesem Buch auch vertreten. Was aber ist „Humanbiologie“? Während man noch vor ein paar Jahren die „offiziellen“ Definitionen der Begriffe in der Encyclopedia Britannica oder im Brockhaus gesucht hat, konsultiert man heute meistens Wikipedia. Hier wird Humanbiologie folgendermaßen definiert:

„Die Humanbiologie ist eine naturwissenschaftliche Disziplin, die darüber hinaus auch zu den Humanwissenschaften gezählt wird, die sich im engeren Sinn mit der Biologie des Menschen sowie den biologischen Grundlagen der Humanmedizin und im weiteren Sinn mit den für den Menschen relevanten Teilbereichen der Biologie befasst. Synonym wird oft auch die Bezeichnung Biomedizin verwendet, auch wenn diese im eigentlichen Sinn nur die medizinisch relevanten Bereiche der Humanbiologie umfasst.“ (Wikipedia)

In diesem Sinne (d.h. als biologische Grundlage der Medizin) wird die Humanbiologie an manchen deutschsprachigen Universitäten verstanden und in der Lehre angeboten.

Traditionell (und auch dem gymnasialen Curriculum entsprechend) wird die Humanbiologie mit der Anatomie und Physiologie, teilweise noch mit angewandten Aspekten wie „Sexualerziehung“, „gesunde Ernährung“ usw. in der Lehre für das Lehramt abgedeckt.

Schließlich wird Humanbiologie mit der Anthropologie und Evolution des Menschen synonymisiert. Der Mensch wird vorgestellt als „nackter Affe“, ein Angehöriger der Ordnung Primates, Klasse Säugetiere – d.h. aus der Sichtweise der Zoologie. Hierbei werden also die morphologischen, physiologischen, verhaltensbiologischen und ökologischen Merkmale und Eigenschaften herausarbeitet, die für den Menschen einzigartig sind und ihn als eine biologische Art charakterisieren. Diese Sichtweise entspricht auch am ehesten dem Verständnis von „human biology“ im angloamerikanischen Sprachraum.

Obwohl gerade die erstgenannte Interpretation (also Humanbiologie = medizinische Biologie) aus der etymologischen, semantischen und wissenschaftstheoretischen Sicht als ungenau bis falsch bezeichnet werden sollte, scheint sie doch im deutschen Sprachraum heutzutage die gängigste Auslegung des Begriffs zu sein.

Als wir vor sechs Jahren, 2008, vom Ulmer Verlag zur Verfassung eines Lehrbuchs mit dem Titel „Humanbiologie“ eingeladen wurden, ergab sich gleich die Frage, wie das Konzept des Buches zu gestalten sei. Wir alle bieten an unseren Universitäten auch Lehrveranstaltungen mit dem Titel „Humanbiologie“ an, doch sind sie unterschiedlich konzipiert. Wir alle drei, Peter Bayer, Hynek Burda und Jan Zrzavý, sind Biologen. Peter ist hauptsächlich ein Biochemiker und Biophysiker und vertritt eher die biomedizinische Richtung, Hynek und Jan sind Zoologen und Evolutionsbiologen, wobei Hynek ein Anatom ist (er hat fünf Jahre lang auch Humananatomie an der Medizinischen Fakultät der Universität in Frankfurt am Main unterrichtet), Jan fühlt sich vor allem als Phylogenetiker und Evolutionsbiologe.

In unserem Buch wollten wir die unterschiedlichen Expertisen und Sichtweisen kombinieren. Ein Lehrbuch mit dem Titel „Humanbiologie“ sollte die unterschiedlichen Auslegungen des Begriffs berücksichtigen, doch gleichzeitig ermöglicht es auch, wegweisend zu wirken und das Verständnis des Faches und seiner Inhalte (und damit auch Curricula) neu zu definieren. Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt gibt es mehrere Schulbücher mit dem Titel „Humanbiologie“ oder „Biologie des Menschen“, aber nur wenige relevante Lehrbücher für das universitäre Fach. Diese Bücher haben unterschiedliche Schwerpunkte, sind unterschiedlich konzipiert. Entweder sind sie wenig „(evolutions)biologisch“ (sensu angloamerikanische Auslegung von „human biology“), dafür mehr allgemein physiologisch und anatomisch fokussiert, oder es handelt sich eher um Lehrbücher, die zu anthropologisch ausgerichtet sind und die biomedizinischen Aspekte nur marginal behandeln. Das von uns geplante Buch sollte die evolutionären, biomedizinischen und humanbiologischen (morphologische, physiologische, ethologische und ökologische) Aspekte gleichermaßen berücksichtigen. Doch vom Vorhaben zur Realisation ist es ein weiter Weg.

Wir haben versucht, so wie Desmond Morris 1967 erstmalig und damals provokativ, den Menschen als einen besonderen Primaten vorzustellen. So wie die Zoologen gewohnt sind, die Biologie einzelner Arten zu beschreiben und sich dabei auf die artspezifischen morphologischen, physiologischen und verhaltensökologischen Eigenschaften und Merkmale zu konzentrieren, haben auch wir den Menschen unter die Lupe genommen. Es mag dem Leser vorkommen, dass wir den neurobiologischen Aspekten vergleichsweise mehr Aufmerksamkeit als z.B. der Ernährung und Verdauung widmen. Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass der Mensch oft vor allem hinsichtlich seiner „Seele“, Intelligenz, Sprache, Emotionen etc. zu anderen Tieren abgegrenzt wird. Daher muss diesen Aspekten auch viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Gerade im Bereich der Humanbiologie, sofern diese sich nicht nur auf beschreibende Aspekte der Anatomie und Physiologie konzentriert, sondern vor allem erklären will, ist der von uns gewählte Weg in den letzten Jahren sehr dynamisch geworden. Als wir mit dem Projekt angefangen haben, wurde ein Review-Artikel mit dem Titel publiziert:

Hodgson J.A., Disotell T.A. (2008): No evidence of a Neanderthal contribution to modern human diversity. Genome Biology.

Das Manuskript des Buches war bereits fertig, als Ende Januar 2014 die folgenden Veröffentlichungen in Nature und Science erschienen:

Sankararaman S. et al. (2014): The genomic landscape of Neanderthal ancestry in present-day humans. Nature.

Vernot B., Akey J. M. (2014): Resurrecting surviving Neandertal lineages from modern human genomes. Science.

Und das war nur ein Ausschnitt einer unglaublich schnellen Entschlüsselung weiterer genomischer Daten, die uns in den letzten beiden Jahren tiefere Einblicke in die Evolution des Menschen erlaubten. So haben wir viele Passagen immer wieder aktualisieren, streichen, neu schreiben müssen. Und wir sind uns bewusst, dass einige Aussagen überholt sein werden, noch bevor dieses Buch in die Buchhandlung kommt. Unser Buch stellt damit eine Momentaufnahme über Erkenntnisse, Zusammenhänge, Fakten und Ideen einer sich rasant entwickelnden Disziplin dar – der evolutionären Humanbiologie. Es ist unsere Hoffnung, dass das Buch von den Studierenden und Dozenten wohlwollend akzeptiert wird und bald eine neue Auflage erlebt, die uns die Gelegenheit gibt, auf die dann sicher notwendigen neuen Entwicklungen sowie auf die Rückmeldungen der Leser zu reagieren.

Danksagung, Widmung

Für die Illustrationen haben wir wieder Jan Burda gewinnen können und haben profitiert von seiner Erfahrung, seinem Know-How sowie seiner Geduld und Bereitschaft, auf die Vorstellungen der Autoren einzugehen. Große Geduld mit und Verständnis für uns haben unsere Lebensgefährtinnen mitbringen müssen: Jana (H. B.), Elena (P. B.), Magda (J. Z.) und Anna (J. B.). Ihnen sind wir tief verbunden und widmen ihnen dieses Buch. Wir danken auch unseren Kollegen, die das Manuskript gelesen und die Abbildungen kontrolliert und kommentiert und uns immer wieder auf neue Facharbeiten aufmerksam gemacht haben, namentlich PD Dr. Sabine Begall, Mgr. Pavel Duda, Yoshiyuki Henning, MSc., Dr. Andre Matena, Dr. Martina Konecˇná, Erich Pascal Malkemper, MSc., Dr. Marcus Schmitt, Dr. Franziska Trusch und Christiane Vole, MSc. Ein besonderes Dankeschön geht an den Verlag Eugen Ulmer, dass er uns das Schreiben dieses Buchs anvertraut und geduldig und verständnisvoll auf die Lieferung des Manuskripts gewartet hat. Das Buch hat sehr profitiert von der Sorgfalt und Erfahrung, die Frau Sabine Mann, M.A., Frau Dipl.-Biol. Ulrike Andres und Herr Jürgen Sprenzel der redaktionellen Bearbeitung und dem Herausgeben gewidmet haben.

1 Phylogenetische Stellung des Menschen

1.1 Primaten

1.1.1 Euarchontoglires

Der Mensch ist ein Primat. Die „Ordnung“ Primaten (Primates, Herrentiere) bildet zusammen mit Spitzhörnchen (Scandentia), Riesengleitern (Dermoptera), Hasenartigen (Lagomorpha) und Nagetieren (Rodentia) die evolutionär einheitliche, monophyletische Gruppe der Euarchontoglires. Wir schreiben „Ordnung“ absichtlich in Anführungszeichen, denn es gibt keine objektive wissenschaftliche Methode, um einen taxonomischen Rang festzulegen. Die Gliederung der Organismen in unterschiedliche systematische Einheiten (Taxa), wie z.B. Klasse und Ordnung, ist lediglich ein Hilfsmittel um die Übersicht (einigermaßen) zu wahren. Mehr dazu im Buch „Systematische Zoologie“ von Burda et al. (2008). Die genaueren Beziehungen zwischen den Primaten und anderen Gruppen sind nicht ganz klar (Abb. 1.1; Box 1.1).


Abb. 1.1: Kladogramm der Säugetiere. Blaue Linien kennzeichnen Gruppen, deren Monophylie nicht gesichert ist bzw. deren phylogenetische Beziehungen unsicher sind.

Box 1.1

Die nächsten Verwandten der Primaten

Dermoptera (Riesengleiter, Pelzflatterer), Masse: 1–1,8 kg. Herbivore Urwaldsäugetiere aus Südostasien, die an Spitzhörnchen mit großer Flughaut erinnern. Diese ist zwischen Hals, Vorder- und Hinterbeinen und Schwanz aufgespannt und ermöglicht Gleitflug. Charakteristisch sind auch kammartige untere Schneidezähne. Eine Familie: Cynocephalidae (Gleitflieger), traditionell zwei Arten, auf molekulartaxonomischer Basis bestimmt noch mehr.

 

Scandentia (Spitzhörnchen), Masse: 25–300 g. Eichhörnchenähnlich, verlängerte Schnauze, Ohrmuscheln vom Primatentyp. Insektenfressergebiss. Gehirn und Sehsinn weit entwickelt, geschlossene Orbitahöhle. Meist arborikol und tagesaktiv. Süd- und Südostasien. Zwei Familien: Tupaiidae (Tupaias), ca. 20 Arten, Ptilocercidae, traditionell eine Art.

Interessanterweise beschäftigt sich – auch wenn „unabsichtlich“ – der größte Teil der biomedizinischen Forschung außer mit dem Menschen selbst auch mit seiner nächsten Verwandtschaft (Makak, Kaninchen, Ratte, Maus, Meerschweinchen). Unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Vergleichbarkeit von Mensch und Tier ist dies auch bestimmt sinnvoll; allerdings dürfen wir die Ergebnisse solcher Forschung nicht pauschal auf die gesamte Gruppe der Säugetiere übertragen.

1.1.2 Verbreitung

Wenn wir die Verbreitung des modernen Menschen, der die gesamte Erde einschließlich der Antarktis sowie Ozeaniens bevölkert und der sporadisch sogar das nahe Weltall und den Mond aufsucht (oder aufgesucht hat), außer Acht lassen, dann lässt sich zusammenfassen, dass die Primaten in den Tropen und Subtropen Afrikas, Madagaskars, Asiens und Südamerikas verbreitet sind (Abb. 1.2).


Abb. 1.2: Geografische Verbreitung (grün) der nichtmenschlichen Primaten.

1.1.3 Merkmale

Primaten sind eine ziemlich heterogene Gruppierung von Tieren mit unterschiedlichem Evolutionsniveau (Tab. 1.1 und 1.2). Sie wiegen zwischen 55 g (Zwergmaki, Microcebus rufus) und 200 kg (Gorilla), sie sind primär Baumbewohner (arborikol) und wenig spezialisierte Omnivoren. Oft machen, neben Pflanzen und Früchten, Insekten einen großen Anteil ihrer Nahrung aus; reine Fleischfresser gibt es unter Primaten nicht.

 Primaten neigen zu vertikaler Körperstellung, wofür unter anderem die vorderen und hinteren Extremitäten unterschiedlich spezialisiert sind. Diese sind sehr beweglich (Rotation ist möglich), außerdem besitzen Primaten ein Schlüsselbein (Clavicula). Die Hände und Füße sind pentadaktyl (fünffingrig), die ersten Finger (Daumen und Großzehen) sind gegenüber den anderen Fingern opponierbar (Greifhände und -füße). Die für viele andere Säugetiere typischen Krallen haben sich zu flachen Nägeln umgewandelt (zumindest auf dem ersten Finger).

 Die sogenannte Leistenhaut an den Fingern, der Handinnenseite (palmar) und der Fußsohle (plantar) ist haarlos. Die Epidermis zeigt hier feine Papillarlinien, die ein individuelles Muster bilden (Fingerabdruck). Außer von Primaten ist ein Fingerabdruck nur vom Koala bekannt.

 Die Schnauze ist verkürzt, das Gebiss ist vollständig, die Backenzähne (Molares) sind bunodont (d.h. auf ihren viereckigen Kronen sitzen gerundete Höcker). Die Zahnformel, d.h. die Anzahl der Zähne pro Kieferhälfte lautet: 2:1:2–3:3 (also 2 Schneidezähne = Incisivi, ein Eckzahn = Caninus, 2–3 Vorbackenzähne = Praemolares, 3 Backenzähne = Molares), das macht insgesamt 34–36 Zähne.

 Das Gehirn ist relativ groß (anders als bei den meisten Säugetieren sind die optischen und nicht die olfaktorischen Zentren besonders ausgeprägt).

 Die Augen sind nach vorne gerichtet und ermöglichen somit stereoskopisches Sehen. Die meisten Primaten sind tagaktiv und (einzigartig unter den Säugetieren) Trichromaten, können also drei Farbbereiche wahrnehmen.

 Sie haben 1–3 Paare brustständiger Zitzen und gebären üblicherweise nur ein Jungtier, die Entwicklung (Ontogenese) verläuft langsam.

 Männchen besitzen einen Hodensack.

Die Monophylie der Primaten wird auch durch Molekularmerkmale unterstützt, wozu unter anderem ein besonderer Typ beweglicher genetischer Elemente (die sogenannten „Alu-Sequenzen“ der „SINEs“) oder auch die Inaktivierung (Pseudogenisierung) eines Gens der Beta-Globulin Familie zählt.

1.1.4 Vorfahren

Die ältesten Primatenvertreter, die wir kennen, stammen vom Anfang des Tertiärs, aus dem Paläozän (ca. 60 Millionen Jahren alt, mya = million years ago), aber das Studium des Genoms der rezenten Vertreter („Molekularuhr“) bezeugt eine noch weiter zurück liegende Diversifizierung der heutigen Evolutionslinien (ca. 80 mya). Die Primaten sind so neben den Nagetieren, den echten Insektivoren (Eulipotyphla) und den Edentaten die einzige traditionelle Ordnung der Plazentatiere, die sich bereits in der Kreidezeit (145–65,5 mya) in die heutigen Hauptgruppen (Feuchtnasenaffen, Koboldmakis und eigentliche Affen) diversifiziert hat (Abb. 1.3, Tab. 1.1).


Abb. 1.3: Übersicht der Familien und übergeordneten taxonomischen Gruppen der Primaten. Im Kästchen: Familien, deren Vertreter nicht abgebildet sind. Abgebildete Körpergrößen einzelner Primaten sind nicht proportional zu realen Körpergrößen.

Tab. 1.1: Die Klassifikation der Ordnung Primates. Hellblau unterlegt sind ausgestorbene Taxa.


UnterordnungInfraordnungParvordnungÜberfamilieFamilieUnterfamilieZahlder ArtenVerbreitung
StrepsirrhiniPlesiadapiformesPlesiadapidae
Paranomyidae
Carpolestidae
Picrodontidae
Saxoneliidae
AdapiformesAdapoideaNotharctidae
Adapidae
Sivaladapidae
LemuriformesLemuroideaCheirogaleidae31Madagaskar
Megaladapidae
Lepilemuridae26Madagaskar
Lemuridae21Madagaskar
Indriidae19Madagaskar
ChiromomyiformesDaubentoniidae 1Madagaskar
LorisiformesLorisidaePerodicticinae 5Afrika
Lorisinae 7S und SO Asien
Galagidae18Afrika
HaplorrhiniTarsiiformesTarsoideaTarsiidae11Indonesien, Philippinen
OmomyoideaOmomyidae
SimiiformesPlatyrrhiniCallitrichidae47Südamerika
CebidaeCebinae22Süd- und Mittelamerika
Samiriinae 7Süd- und Mittelamerika
Aotidae11Südamerika
PitheciidaeCallicebinae31Südamerika
Pitheciinae13Südamerika
HaplorrhiniSimiiformesPlatyrrhiniAtelidaeAtelinae13Süd- und Mittelamerika
Alouattinae12Süd- und Mittelamerika
CatarrhiniCercopithecoideaCercopithecidaeParapithecinae
Victoriapithecinae
Colobinae78Afrika, S, SO, O Asien
Cercopithecinae81Afrika, S, SO, O Asien
HominoideaOreopithecidae
HylobatidaePliopithecinae
Hylobatinae19SO Asien
HominidaeDryopithecinae
Ponginae 2SO Asien
Homininae 5Afrika (sekundär ganze Welt)

Tab. 1.2: Merkmale der Primaten und ausgewählter Primatentaxa.


Primaten
PentadaktylieGreifhandopponierbarer großer Zehflache NägelLeistenhaut, FingerabdruckFortbewegung von den Hinterbeinen dominiertEnzephalisationKomplexes visuelles SystemAugen nach vorne gerichtet, Stereoskopiereduzierte DentitionZahnformel:4x(2I:1C:2-3P:3 M) = 34–36langsame EntwicklungK-Strategenmeist tropische BaumtiereStrepsirrhiniRhinariumgespaltene OberlippeVibrissenTapetum lucidumKammgebissPutzkralle (am 2. Zeh)epitheliochoriale Plazentameist nachtaktivsaisonale FortpflanzungMadagaskar, Afrika, Asienbehaarte NasePhiltrumrückgebildete Vibrissenkein Tapetum lucidumhämochoriale Plazentameist tagesaktivVitamin C essenziellMenstruationnicht saisonale Fortpflanzungmediane Verschmelzung der Stirnbeinemediane Verschmelzung der UnterkieferästeHaplorrhini
Platyrrhinibreites NasenseptumNares zu Seiten orientiertDaumen nicht oder nur teilw. opponierbaroft GreifschwanzSüd- und MittelamerikaWeibchen trichromatCatarrhini
schmales NasenseptumNares nach vorne bzw. nach unten orientiert2 Prämolarenverknöcherter äußerer GehörgangTrichromatHominidaekein Schwanz, Steißbein5–6 Lendenwirbelflacher Brustkorbhohes Enzephalisationsquotientuntere Molaren mit 5,obere Molaren mit 4 Höckernverlängerte Arme

1.1.5 Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini)

Die Gruppe Strepsirrhini (Feuchtnasenprimaten, Halbaffen im engen Sinne) schließt Primaten ein, die überwiegend auf Madagaskar leben (Untergruppe Lemuriformes mit den Familien Daubentoniidae – Fingertiere, Cheirogaleidae – Makis, Lepilemuridae – Wieselmakis, Lemuridae – Lemuren, Indriidae – Indris), sowie Primaten, die in Afrika und dem tropischen Asien beheimatet sind (Lorisiformes: Familien Lorisidae – Loris und Galagidae – Galagos).

Feuchtnasenprimaten besitzen:

 einen Oberlippenspalt, einen nackten, feuchten Nasenspiegel (Rhinarium), und gut entwickelte Schnurrhaare (Sinushaare, Vibrissen) an der Schnauze;

 eine sogenannte Putzkralle auf der 2. Fußzehe und einen sogenannten Zahnkamm, also kammartig angeordnete untere Vorderzähne (Schneidezähne und Eckzähne), die sowohl der leichteren Aufnahme pflanzlicher Nahrung wie auch der Fellpflege dienen;

 eine reflektierende Schicht hinter der Netzhaut des Auges (Tapetum lucidum); die meisten Feuchtnasenprimaten sind nachtaktiv;

eine epitheliochoriale (also nicht hämochoriale) Plazenta, d.h. eine Plazenta, in der das Chorion in relativ oberflächlichem Kontakt mit dem Gebärmutterepithel steht und bei welcher die Blutgefäße der Gebärmutter nicht erodiert werden.

Die Vielfalt von Madagaskar-Halbaffen war nach der menschlichen Kolonisierung der Insel drastisch reduziert; noch aus den vergangenen Jahrhunderten stammen Überreste von bizarren, oft riesigen Lemuren, die Faultieren oder Koalas ähnelten (Megaladapidae, Palaeopropithecidae) oder an Affen erinnerten (Archaeolemuridae).

1.1.6 Trockennasenprimaten (Haplorrhini)

Die zweite Gruppe der Primaten, die Haplorrhini (Trockennasenprimaten), umschließt die traditionell für Halbaffen gehaltenen südasiatischen Koboldmakis (Tarsiiformes) und die eigentlichen Affen (Simiiformes, Simiae, Anthropoidea). Die Monophylie der Trockennasenprimaten ist molekular und morphologisch gut begründet, insbesondere durch folgende Merkmale:

Rückbildung der Vibrissen und Verschwinden des Rhinariums, also Entstehung einer affen- bzw. menschenartigen Nase, anstelle des Oberlippenspaltes entsteht das Philtrum, eine vertikale Rinne zwischen Nase und Mitte der Oberlippe;

 regelmäßiger, ca. 30-tägiger Ovulationszyklus, der die saisonale Brunst ersetzt, Menstruation;

 hämochoriale Plazenta, mit in die Gebärmutterschleimhaut tief eindringenden und die Blutgefäße erodierenden Chorionzotten;

 Fehlen eines Enzyms für die Synthese von Ascorbinsäure (die nun mit der Nahrung zugeliefert werden muss und so „Vitamin C“ wird);

 primäre Tagaktivität, das Tapetum lucidum fehlt, auch die sekundär nachtaktiven Nachtaffen und Koboldmakis (kleine, insektivore „Halbaffen“ aus Südostasien, die monogam leben und eine zweigeteilte Gebärmutter, Uterus bicornis, aufweisen) besitzen keines mehr.

Die Hauptmerkmale der eigentlichen Affen sind:

 Gehirnvergrößerung, Vermehrung der Falten der Hirnrinde;

 mediane Verschmelzung der Stirnbeine und der Unterkieferäste, sowie Bildung von Augenhöhlen, die auch von hinten durch den Schädelknochen abgeschlossen sind.

Zu den eigentlichen Affen gehören die (südamerikanischen) Neuweltaffen (Breitnasenaffen, Platyrrhini) und die Altweltaffen (Schmalnasenaffen, Catarrhini). Bei Neuweltaffen unterscheiden wir fünf Familien: Pitheciidae (Sakiaffen), Atelidae (Klammerschwanzaffen), Callitrichidae (Krallenaffen), Aotidae (Nachtaffen) und Cebidae (Kapuzinerartige). Sie alle sind charakterisiert durch seitlich orientierte Nasenöffnungen, komplett knorpelige äußere Gehörgänge und oft auch durch einen Greifschwanz. Die Altweltaffen unterteilt man in drei Familien: Cercopithecidae (Meerkatzenartige), Hylobatidae (Gibbons) und Hominidae (Menschenaffen, Mensch). Sie besitzen nach vorne bzw. unten orientierte, durch eine schmale Scheidewand getrennte Nasenlöcher, teilweise verknöcherte äußere Gehörgänge und einen reduzierten dritten Prämolar.

1.1.7 Artenvielfalt

Die Anzahl der heute existierenden Primatenarten ist unklar und wird derzeit (Stand November 2013) mit 480 angegeben. Die Zahl wächst seit einigen Jahren steil an, jedoch nicht etwa weil ganz neue, vorher nie gesehene Arten entdeckt würden. Zwar passiert das gelegentlich auch heute noch – so z.B. wurde 2003 in den Gebirgen von Tansania eine neue, mit Pavianen verwandte Affenart entdeckt und 2005 erstmals wissenschaftlich beschrieben: der Kipunji (Rungwecebus kipunji); und erst 2007 wurde in der Demokratischen Republik Kongo die Lomami-Meerkatze (Cercopithecus lomamiensis) entdeckt und 2012 beschrieben.

Box 1.2

Artbegriff

Organismen bilden natürliche, oft scharf abgegrenzte Gruppen – Arten (Spezies). Üblicherweise verstehen wir unter einer Art die kleinste evolutionär isolierte phylogenetische Linie, denn die Art stellt die taxonomische Grundeinheit dar. Es gibt zahlreiche prinzipiell unterschiedliche theoretische (naturphilosophische und taxonomische) Auffassungen und Definitionen des Artbegriffs. Die typologische Art-Definition beruht darauf, dass die zu einer Art gehörenden Individuen untereinander phänotypisch ähnlicher sind als Individuen verschiedener Arten. Am häufigsten werden für die Artdiagnose morphologische Merkmale herangezogen, weshalb man in diesem Zusammenhang auch von einer „morphologischen Art“ (Morphospezies) spricht. Arten, die in ihrem gesamten Verbreitungsareal nur durch eine Form vertreten sind, werden als monotypisch bezeichnet. Polytypisch ist eine Art dann, wenn sie in mehreren phänotypischen Formen (Unterarten) vorkommt.

Ein Problem für die Diagnose der morphologischen Art stellt die Existenz von Geschwisterarten (sibling species, kryptische Arten) dar: Diese Arten können mit morphologischen Methoden kaum unterschieden werden, dafür unterscheiden sie sich in ethologischen oder ökologischen Eigenschaften oder anhand der geografischen Verbreitung. Der Phänotyp von Individuen einer Art kann sich auch in Abhängigkeit von Geschlecht (Geschlechtsdimorphismus), Alter (Alterspolymorphismus) oder Sozialstatus (ethologischer Polymorphismus) unterscheiden bzw. eine klinale Variabilität aufweisen, d.h. einen allmählichen Gradienten, abhängig vom Ort des Vorkommens (z.B. Breitengrad oder Höhe über dem Meeresspiegel). Die Auswahl eines diagnostischen Merkmals unterliegt meistens pragmatischen Aspekten.