Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

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AN SUSAN HASELDEN:

Thompson ergreift die Gelegenheit, alleine in einem Apartment in der West 113th Street zu wohnen, wenn auch nur vorübergehend. Ruhe- und rastlos, wie er ist, würde er New York am liebsten schon wieder verlassen und träumt von einem wärmeren Klima.

17. Februar 1958

562 W 113th Apt5E5

New York, New York

Liebe Susan,

nach langer Krankheit … der Trunkenbold aus der hundertdreizehnten Straße kehrt zurück mit Worten der Warnung und des Wehe: Teile des Westside Parkway sind noch immer rutschig, meine Schreibmaschine ist verpfändet, mein Wagen ist unter Bergen von Schnee begraben, und das wahre Leben spielt sich auf den West Indies ab … wie immer.

Dank Dir für Deinen Einsatz, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Ich werde dieses »Harvest«-Ding bei der erstbesten Gelegenheit klauen; allerdings hege ich wenig Hoffnung, dass ich jemals etwas Brauchbares zu Papier bringen werde. Vielleicht sollte ich es mit Modern Dance versuchen … oder Method Acting … oder so ähnlich.

Ich habe tatsächlich meinen Gefallen am Briefeschreiben verloren. Warum? Keine Ahnung. Ich befürchte, ich habe an sämtlichen Dingen meinen Gefallen verloren: Das kommt von der verfluchten allgegenwärtigen Armut. Immerhin, was mir noch bleibt, ist die Musik.

Letzte Nacht war ich mit einer jungen Frau von der Urban League im White Horse: Ich war besorgniserregend betrunken und hab sie irgendwo in der Nähe eines U-Bahn-Eingangs verloren – und bin heute ziemlich spät und halb tot aufgewacht. Wann beehrst Du mich mit einem Besuch? Mein Bett ist ziemlich klein, aber nichts ist unmöglich … beglaubigt von James Jones [Romancier]. Lodi, New Jersey.

Ich weiß gerade gar nicht, ob Du auf dem Laufenden bist, falls nicht: Ich arbeite für Time und gehe auf die Columbia, vielversprechendes Programm, nehme ich an, aber auch ein wenig heruntergekommen. Wohne in einem absolut engen Drecksloch in der Nähe der Columbia und verwende eine geliehene Schreibmaschine … die Arbeitsbezeichnung bei Time lautet »Bürobote«, bin dort einer unter zahlreichen mittellosen Schauspielern, Schriftstellern, Malern etc. Und das scheint Luces4 einziges Zugeständnis an den kreativen Geist zu sein – oder seine Art, Verachtung zu demonstrieren, indem er den CMs [Company Managers] so wenig bezahlt; man weiß nie, da sich Gottes Werk auf wundersamen Wegen vollzieht […]

Kann diese absolute Gleichgültigkeit nicht verstehen. Was ich bräuchte, sind Strände und Dunkelheit und vom Mond beschienene Nacktheit. New York ist ein riesiges Grab, und der Tod windet sich hier vor Hunger und Habgier. Das ganze Gerede über San Francisco gibt einem zu denken. Und es wird auch gerne von Italien, St. Thomas, Tahiti und anderen Zufluchtsorten für die Armen im Geiste gequatscht.

Wurde letzte Nacht Zeuge einer Schlägerei zwischen einem leitenden Redakteur von Time und einem angestellten Reporter, die beide gleichermaßen betrunken waren. Freie Drinks jeden Sonntag von sechs bis in die Morgenstunden, das bedeutet Party und Entertainment: Prügeleien, Sex, soziale Spannungen, Politik etc. Alles sehr interessant.

Was für ein Pech, dass Du einen großen Bogen um den Schnee gemacht hast, nur um einen Trip an die Sonne zu machen. Schätze, hat Dir bestimmt gefallen: Muss ja, stimmt’s, Du hast ja nur zwei Wochen im Jahr, um zu leben. Das System will es so. Und wer bin ich, um mich mit Sys­temen anzulegen. Gib auf Deine Jungfräulichkeit acht: Das könnte irgendwann einmal noch ein gutes Geschäft werden, vor allem dann, wenn Du gerade keinen Job hast. Zeit ist Geld.

Also gut, auf Wiedersehen. Ich habe hier übrigens noch eine Packung Cottage Cheese.

Bis dahin ...... Hunty

AN KAY MENYERS:

Menyers studiert Literatur am Goucher College in Baltimore. Sie vergöttert Jack Kerouac geradezu und empfiehlt Thompson die Lektüre von Unterwegs und von Be-Bop, Bars und weißes Pulver.

17. März 1958

562 West 113th, Apt. 5E5

New York, New York

Liebe Kay,

so leid’s mir tut, aber um Standardbriefpapier komme ich gerade nicht herum … und woher hast Du überhaupt den »Stoff«, den Du mir vor einiger Zeit geschickt hast? Am Ende stellt sich noch heraus, dass Du selbst für MEINEN Geschmack zu abgedreht bist … dabei ist mein Spektrum schon sehr, sehr groß. Vielleicht bist Du ja so etwas wie eine weiße Mardou Fox5 – die nur sehnsüchtig darauf wartet, dass ich kleine erotische Schweinereien mit ihr veranstalte. Abgefahren.

Ich mag mich zwar ein wenig finster anhören, aber eigentlich bin ich gut in Form. Vielleicht rede ich auch zu viel davon, ein »Individualist« sein zu wollen; doch ich sage das nur, weil ich beliebt sein und respektiert werden will: als »Cocktail-Intellektueller«, wenn Du so willst. Gut möglich, dass ich die Kritik in Daily News über Endgame nicht teile; würde ich es tun, würde man mich für »bourgeois« halten: Und in diesen Zeiten, in denen jeder, der etwas auf sich hält, ein »besserer Bohemien« sein will, sollte man sich davor hüten, bourgeois zu erscheinen. Wie jemand also, der seinen Konformismus hinter einem zynischen Lächeln versteckt, das bedeuten soll: »Ich bin ein smarter Typ, weil es nur so SCHEINT, als wäre ich angepasst – in Wirklichkeit bin ich ein Individualist im Verborgenen.« Doch was dieses Lächeln auch noch sagt: »Für meine Überzeugungen fehlt mir der Mut.« Und da muss man dann schon genau hinhören, wenn man DAS heraushören will. Doch irgend­wann ist man es leid, genau hinzuhören.

In meinem Job bewege ich mich auf dünnem Eis: Neulich abends bei einer Cocktailparty, die zu Ehren neuer Mitarbeiter gegeben wurde, meinte ich zum Verleger der Time (und allen möglichen anderen um ihn herum), dass der Manager ein »gieriger Lustmolch« sei … und dann, ziemlich betrunken vor mich hin grinsend, wiederholte ich das noch mal im Beisein des Managers selbst … GIERIGER LUSTMOLCH … und er schaute ein wenig bestürzt drein. Auch der Verleger und seine Freunde waren sichtlich irritiert. Was für ein bizarrer Abend.

Zum Höhepunkt der letzten Nacht gehörte eine gewaltige Mülltonne, die mit fünf enormen Schlägen über die Marmortreppe des Apartments ratterte. Außerdem habe ich den Versuch gestartet, die Wohnungstür eines Mädchens hier im Haus einzutreten; habe dann einen Feuerlöscher auf die Bewohner eines Apartments weiter oben gerichtet und mehrmals hintereinander wilde animalische Schreie ausgestoßen, was die chinesische Nachbarin direkt neben mir fast zu Tode erschreckt hätte. Heute Morgen bin ich vor ihren Augen in Unterhosen aufgetaucht; sie sagte zu mir, dass ein Typ über ihr zu ihr gemeint habe, ich sei nicht ganz dicht, und besonders gut solle sie aufpassen, wenn ich betrunken sei. Es sind nicht gerade viele, die in diesem Haus zu meinen Freunden zählen.

Wann aber … kommst Du eigentlich nach New York City? Ist nicht gerade viel Platz zum Tanzen in meinem Schlösschen, aber es gibt SEHR WOHL ein Radio und ein paar Bücher … und wir können jederzeit nach draußen und Mülltonnen in den Marmorhallen herumwerfen: macht einen irre donnernden Krach. Oder ich könnte mich über die Chinesin hermachen, und Du könntest dabei zusehen … einverstanden?

Im Ernst, ich finde, es ist höchste Zeit für ein Wiedersehen. Mein »Wochenende« bei der Time fällt auf Montag und Dienstag … nicht gerade ideal für mich, um auf einen Sprung ans Gocher College zu kommen. Dann musst Du Dich also hierher bewegen … wann immer Du willst: Nur lass es mich rechtzeitig wissen.

Die Aussicht darauf euphorisiert mich, mehr bleibt mir jetzt nicht mehr zu schreiben. Die Chinesin klopft lüstern gegen die Wand. Ich werde eine Antwort auf den Ruf des Fleisches finden müssen. Und verbleibe bis dahin,

… undiszipliniert, Hunter

AN SALLY WILLIAMS:

Thompson hat ein einigermaßen exzentrisches Standardschreiben aufgesetzt, um Gläubiger loszuwerden; in nicht wenigen Fällen hat es funktioniert.

2. April 1958

562 West 113th, Apartment 5E5

New York City

Liebe Sally,

verwende bitte dieses Schreiben hier, ja? Wenn das nicht hilft, um die Bastarde abzuschrecken, dann weiß ich auch nicht. Ich glaube, ich sollte eine Kopie davon an die AMA [American Medical Association] schicken – als Dokument eines schizophrenen Menschen in Aktion. Es ist ein Riesending. Jeder, der versuchen würde, vom Verfasser eines Schreibens wie diesem Geld zu fordern, müss­te ganz schön plemplem sein.

Sollten irgendwelche Gläubiger persönlich bei Dir auftauchen, sag ihnen, ich wäre vor ein paar Wochen nach Gainesville, Florida, abgereist, um mich dort für eine Stelle als Redakteur für religiöse Belange zu bewerben. Solange sie nicht herausfinden, dass ich in New York bin, ist alles bes­tens.

Danke,

Hunter

»SCHULDENBRIEF«

2. April 1958

Sagen Sie Mal, mein lieber Mann, was soll das eigentlich? Gerade eben komme ich aus New Orleans zurück, und das Erste, was mir in die Hände fällt, ist ein Drohbrief von Ihren Leuten – irgend so ein wildes Gekläffe von wegen Knast und Gericht und Anwälten und so was: Wer, glauben Sie, dass ich bin – ein Goldesel? Ich bin vollauf damit beschäftigt, meine Trilogie von Short Stories unterzubringen, und Sie und Ihre Leute verfolgen mich auf Schritt und Tritt – und stöhnen und heulen herum wegen ein paar idiotischen Schulden! Wer sind Sie überhaupt? Ich habe von Ihren Leuten nie auch nur irgendwas gekauft. Und in welch einer heruntergekommenen Branche sind Sie beschäftigt, dass Sie es nötig haben, Menschen durch das ganze Land zu jagen? Ich bekomme alle zwei, drei Monate eine größere Ladung Post, und jedes Mal ist auch ein neuer Drohbrief von Ihnen darunter!

 

Was soll das überhaupt werden, was Sie da veranstalten? Ist Ihnen nicht klar, dass ich mich auch so schon nicht auf meine Arbeit konzentrieren kann – bei einem Krieg von der Sorte, wie er gerade auf uns zukommt? Der atomare Fallout ist Gottes ZORN! Mit dem Ende der Welt vor Augen kann ich es mir gar nicht erlauben, auch noch einen Job anzunehmen. Und wenn ich mein Werk jetzt nicht publiziert kriege, wird es womöglich überhaupt nie mehr publiziert! Haben Sie noch nie davon gehört, dass man nicht zugleich Gott und dem Mammon dienen kann? Sex nimmt überhand, und die Menschen haben schon damit begonnen, Gott zu vergessen – wie können Sie da noch Jagd auf mich machen? Wir schütten immerzu Whiskey in unsere Körper, wir trinken Gottes BLUT! Jeder Arbeitsplatz ist ein Ding der Unmöglichkeit – ununterbrochen mach ich mir Sorgen und bin schon halb verrückt … Was machen Sie mit all dem Geld? Ich will nichts von Ihrem verdammten Geld … wir alle haben unser Zuhause im Himmel … was soll der ganze Unfug?

Sie haben ja gar keine Vorstellung von dem Druck, unter dem ich stehe: Ich bin nicht mehr der, der ich noch vor einem Jahr war. Sorge über mein Werk und über Geld und Jobs die ganze Zeit treiben mich in den Wahnsinn! Ich muss meine Sachen publiziert kriegen! Warum reden Sie nicht mal mit einigen der Verleger, die Sie kennen, und organisieren mir einen Vorschuss, damit ich einen Roman schreiben kann? Dann habe ich auch Geld … dann hab ich das Geld … Und keine Drohungen mehr! In New Orleans hab ich mir irgendwas eingefangen, und nicht Mal zum Arzt kann ich gehen! Jeder meint, das sei alles zum Totlachen, aber ich brauche unbedingt einen Job. Vielleicht werde ich sehr bald zum Assistenten des Redakteurs für religiöse Belange bei der Gainesville Sun … Ich bin dort nächste Woche, um zu sehen, was sich machen lässt. Den Wagen, der mir mal gehörte, hat sich jemand in New Orleans geschnappt. Mein Güte, was läuft da die ganze Zeit? Jeder ist auf Diebstahl und Trinken und Sex aus und nimmt noch denen, die nicht Mal irgendwas zu verkaufen haben, ihr Geld weg, und überall atomarer Fallout und Krieg im Anmarsch. Die ganze Welt spielt verrückt, und ich hab nicht Mal einen Job. Hören Sie endlich auf, mich zu bedrohen! Es geht mir nicht gut – auf meinem Bein haben sich Bläschen gebildet, und dann noch diese Infektion, die meinem Magen so zusetzt. Ich kann nicht einmal mehr denken, was ich noch zu sagen hätte … die Sorgen bringen mich um den Verstand.

Ich habe versucht, in New Orleans eine Stelle zu bekommen, aber Sie haben mich fortgeschickt. Wenn diese Sache mit Gainesville klappt, werde ich Redakteur für religiöse Belange und veröffentliche bei denen mein erstes eigenes Buch. Dann werde ich auch einen Job haben, und es wird mir ganz ausgezeichnet gehen.

Mit besten Empfehlungen,

Hunter S. Thompson

AN SUSAN HASELDEN:

Schließlich zieht Thompson doch noch in seine eigene »Junggesellenbude« – ein kleines schwarz gestrichenes Kellerapartment in Greenwich Village. Seine freie Zeit verbringt er vor allem damit, sich in der Umgebung der Columbia University herumzutreiben.

13. April 1958

57, Perry Street

New York City

Liebe Susan,

was soll das heißen, wenn Du schreibst, Du hättest uns »wahrscheinlich beide umgelegt«? Würde man meine Irrwege der letzten drei Jahre zusammenzählen, würde es vermutlich reichen, um von hier bis Cape Town zu kommen; ich würde nichts als einen Lendenschurz tragen, und es gäbe nicht den klitzekleinsten Ärger. Und was den Kongo angeht, weiß ich genau, dass ich einen kompletten Harem sicher durchs ganze Land geleiten könnte. Tatsächlich bin ich überzeugt, dass ich alles und jeden geleiten könnte; außer vielleicht einer Gruppe kichernder Jungfrauen.

Mit Deinen Briefen – wie jungfräulich und kichernd sie auch daherkommen mögen – gelingt es Dir jedenfalls immer, mich ein wenig aufzuheitern. Und, seltsam genug, scheine ich gerade jetzt, wo die Dinge besser laufen als erwartet, das Bedürfnis nach einer Aufmunterung durch andere umso stärker zu spüren. Ich glaube, der Grund dafür ist die Erkenntnis, dass ich für einen relativ langen Zeitraum ein Bewohner New Yorks sein werde. Nicht dass ich mich für eine bestimmte Anzahl von Monaten dazu verpflichtet hätte; doch es erscheint mir notwendig, eine Weile hier zu bleiben. New York ist alles zugleich – Erziehung, Initiation, Stimulans. Die Stadt gibt einem eine Perspektive, die man, glaube ich, unmöglich irgendwo sonst auf der Welt bekommen kann. Aber Gott erbarme sich derer, die dann mit dieser Perspektive tatsächlich zu leben vermögen.

Ganz im Ernst, dieser verdammte Ort ist wie aus einer frühen Erzählung von William Saroyan: die einsamen verwelkten kleinen Mauerblümchen aus Hattiesburg, Mississippi; frustrierte, Hymnen singende Mädchen aus China; wilde Mischlinge aus der ganzen gottverdammten Welt; das Mädchen von nebenan aus Dayton, Ohio; schüchterne Neo-Intellektuelle aus Parsons, Kansas (die mich ein bisschen an Dich erinnern); und wer alles sonst noch. Um jemanden zu zitieren: »Ich sehe jetzt alles mit neuen Augen!« Das Zentrum Manhattans ist ein Irrenhaus, Harlem die Hölle auf Erden, die Bronx, Queens und Brooklyn sind Gräber, und das gottverdammte Village reicht völlig, um jeden unerschrockenen Strandräuber vor Angst erstarren zu lassen. Hast Du bemerkt, dass die Sonne NIEMALS IN MEIN APARTMENT REINSCHEINT? Kannst Du Dir vorstellen, was das bedeutet – wie sich diese ständige Dunkelheit auf einen Menschen auswirkt? Kannst Du Dir vorstellen, dass ich Leute kenne, die in einer Bar LEBEN – und dorthin auch ihre Post bekommen? Es gibt Menschen hier, die so einsam sind, dass ich es selbst nicht aushalte, mit ihnen zu reden. Gott, was für ein tragisches Paradox.

Ich bin jetzt auf eine Antwort gestoßen – natürlich eine sehr allgemeine, aber immerhin eine Antwort. Ich habe entweder großes Glück oder ich bin sehr verrückt, dass ich sie in jungen Jahren gefunden habe, wie auch immer, ich hab sie. Ich werde Dir das alles genauer erklären, wenn ich mehr Zeit habe.

Dieses Apartment, nebenbei bemerkt, scheint direkt aus einem »Low Bohemia«-Film zu stammen. Ich hab es von einem arbeitslosen Liedermacher übernommen, der ohne Tageslicht schon halb verkümmert war. Der offizielle Mietvertrag läuft immer noch über einen Drogenabhängigen, der vor zweieinhalb Jahren aus der Stadt gezogen ist, und der jederzeit zurückkehren und wieder einziehen könnte – wer weiß, was dann los wäre. Vielleicht sollte ich mich besser auf den Weg machen und im Swimming Pool des Owl Creek wohnen. Geldsorgen – Schulden, wie üblich.

Das wär’s. Du hast noch gar nicht gesagt, wann Du herkommst, fällt mir gerade ein, dann beim nächsten Mal.

Bis dann,

Hunter

AN HUME LOGAN:

Thompson ist gerade dabei, sich mit der existenzialistischen Philosophie von Jean-Paul Sartre auseinanderzusetzen, als sich ein Freund aus Louisville und ehemaliger Mitstreiter bei der Athenaeum Literary Association zu Wort meldet, der sich von Thompson Ratschläge für sein Leben und seine Laufbahn erhofft.

22. April 1958

Lieber Hume,

Du fragst mich um Rat: Ach, das ist nur menschlich, aber auch gefährlich – und eine zweischneidige Angelegenheit! Einem anderen Menschen Ratschläge zu erteilen, der fragt, was er mit seinem Leben anstellen soll, rührt an Dinge, die fast schon etwas Egomanisches an sich haben. Wer glaubt zu wissen, was für einen anderen das Richtige und einzig Wahre ist und mit zitterndem Finger den rechten Weg zu weisen versucht – sowas würde nur ein Verrückter tun.

Verrückt bin ich nicht, und ich schätze Deine Aufrichtigkeit, mit der Du Dich an mich wendest. Ich bitte Dich nur, Dir bewusst zu machen, dass jeder Rat gleichzeitig immer etwas über den Menschen erzählt, von dem er stammt. Was für den einen die Wahrheit ist, mag für den anderen den Untergang bedeuten. Ich sehe das Leben nicht mit Deinen Augen, so wie Du es auch nicht mit meinen siehst. Wollte ich versuchen, Dir einen persönlichen Rat zu geben, wäre das so, als würde ein Blinder einen Blinden führen.

Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:

Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern

Des wütenden Geschicks erdulden oder, sich

Waffnend gegen eine See von Plagen …

(Hamlet, Shakespeare)

Ja, das IST die Frage: sich mit der Strömung treiben zu lassen – oder zu schwimmen und ein Ziel vor Augen zu haben. Es ist eine Entscheidung, die wir alle, ob bewusst oder unbewusst, einmal in unserem Leben treffen müssen. Wie wenige Menschen es gibt, die das begreifen! Denk an irgendeine Entscheidung, die Du einmal getroffen hast und die sich auf Dein späteres Leben ausgewirkt hat: Ich mag falsch liegen, doch es ist für mich kaum vorstellbar, dass es nicht auch hier am Ende eine Entscheidung zwischen den beiden Grundhaltungen ist, die ich vorhin genannt habe: sich treiben lassen oder schwimmen.

Doch wenn man kein Ziel hat – lässt man sich dann nicht am besten einfach treiben? Das wäre eine weitere Frage. Ohne Zweifel ist es besser, das Dahintreiben zu genießen als ziellos umherzuschwimmen. Wie also findet man ein Ziel – nicht irgendwo in den Sternen, sondern als etwas Reales, Greifbares? Wie kann sich ein Mensch sicher sein, dass er nicht einem »Big Rock Candy Mountain«6 hinterherjagt, einer verlockenden Zukunft, die süß zu sein scheint, doch nach kaum etwas schmeckt und keinen Nährwert hat?

Die Antwort – und auf gewisse Weise die Tragik des Lebens – besteht darin, dass wir versuchen, uns über das Ziel klar zu werden und nicht über uns selbst. Wir setzen uns ein Ziel, das bestimmte Dinge von uns verlangt – und danach richten wir uns. Wir passen uns den Erfordernissen eines Konzepts an, das nicht gültig sein KANN. Nehmen wir an, als Du jung warst, wolltest Du ein Feuerwehrmann werden. Ich gehe davon aus, dass es damit längst vorbei ist. Und warum? Weil sich Dein Blickwinkel geändert hat. Nicht der Beruf des Feuerwehrmanns hat sich geändert, sondern Du selbst. Jeder Mensch ist die Gesamtsum­me seiner Reaktionen auf das, was ihm widerfährt. Und dies ist etwas, das sich verändert und vielfältiger wird, Du wirst ein anderer, und entsprechend ändert sich Dein Blick­winkel. Das geht ewig so weiter. Jede Reaktion ist ein Lernprozess; jede wichtige Erfahrung ändert Deinen Blickwinkel.

Es wäre also albern, unser Leben auf ein Ziel zu richten, das immer wieder eine andere Gestalt annimmt. Stimmt’s? Wie könnten wir erwarten, auf diese Weise jemals etwas anderes herzubringen als gallopierende Neurosen?

Man sollte sich deshalb bei der Frage nach dem richtigen Leben nicht mit Zielen beschäftigen, zumindest nicht mit konkreten Zielen. Man bräuchte haufenweise Papier, um dieses Thema erschöpfend zu behandeln. Weiß Gott, wie viele Bücher über »die Bestimmung des Menschen« und verwandte Themen schon geschrieben wurden, und Gott allein weiß, wie viele Menschen darüber schon sinniert haben. (Wenn ich schreibe: »Gott allein weiß«, dann übrigens nur im Sinne einer Redewendung.) Es bringt nicht viel, wenn ich nun eine Antwort auf den sprichwörtlichen Punkt bringen wollte; denn ich muss zugeben, dass ich nicht kompetent genug bin, um den Sinn des Lebens in ein oder zwei Absätzen abhandeln zu können.

Um den Begriff »Existenzialismus« werde ich lieber einen Bogen machen, Du kannst ihn aber ruhig im Hinterkopf behalten, es ist ein Schlüsselbegriff. Auch solltest Du Dir mal von Sartre Das Sein und das Nichts sowie einen kleinen Band mit dem Titel Existenzialismus: von Dostojewski bis Sartre vornehmen. Das sind aber nur Vorschläge. Wenn Du aber grundsätzlich mit dem zufrieden bist, wer Du bist und was Du tust, dann rühre diese Bücher besser nicht an. (Man soll keine schlafenden Hunde wecken.)

Aber noch mal zurück zum Thema. Bestenfalls wäre es nicht besonders klug, wenn wir auf konkrete Ziele bauen würden. Wir wollen keine Feuerwehrmänner oder Bank­leute oder Polizisten oder Ärzte werden. WIR STREBEN DANACH, WIR SELBST ZU WERDEN.

Aber versteh mich nicht falsch. Ich meine nicht, dass wir nicht auch Feuerwehrmänner, Bankleute oder Ärzte SEIN könnten – doch wir sollten ein solches Ziel auf unsere Persönlichkeit ausrichten, und nicht umgekehrt. In jedem Menschen bilden Erbanteile und Umwelteinflüsse eine Kombination, die ein Wesen mit bestimmten Fähigkeiten und Bedürfnissen entstehen lässt – dazu gehört auch das tief sitzende Bedürfnis, dem eigenen Leben BEDEUTUNG zu verleihen. Ein Mensch muss etwas SEIN; er muss Spuren hinterlassen. So wie ich es also sehe, stellt sich das Ganze etwa folgendermaßen dar: Der Mensch muss einen Weg gehen, der es ihm erlaubt, seine FÄHIGKEITEN so effektiv wie möglich zur Befriedigung seiner BEDÜRFNISSE einzusetzen. Dadurch erfüllt er ein Verlangen (sich eine Identität zu schaffen, indem er in einem klar abgesteckten Rahmen auf ein klar definiertes Ziel hinarbeitet), er vermeidet es, seine Talente zu verschleudern (indem er einen Weg geht, der seiner persönlichen Entwicklung keine Grenzen setzt), und er erspart sich den Schrecken, mitansehen zu müs­sen, wie das Ziel seinen ursprünglichen Zauber verliert, je mehr er sich ihm annähert (statt sich zu verbiegen, um jenen Anforderungen zu genügen, die das Ziel mit sich bringt, hat er umgekehrt die Zielvorgaben seinen eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen untergeordnet).

 

Kurz gesagt, er hat sein Leben nicht einem abstrakten Ziel geopfert, sondern hat sich für einen Lebensweg entschieden, von dem er WEISS, dass er ihn mit Freude erfüllen wird. Das Ziel ist absolut zweitrangig; was zählt, ist ein gangbarer Weg. Und es versteht sich eigentlich von selbst, dass ein Mensch diesen Weg selbst bestimmen MUSS; überließe er das einem anderen, würde er einen der wichtigsten Aspekte des Lebens fallen lassen – den entschiedenen Willensakt, der den Menschen erst zum Individuum macht.

Angenommen, Du hängst der Vorstellung an, zwischen acht Pfaden wählen zu können (die natürlich bereits alle eine Bestimmung haben). Und angenommen, Du kannst in keinem dieser acht Pfade einen rechten Sinn sehen. DANN – und das ist das Wesentliche, was ich meine – MUSST DU EINEN NEUNTEN PFAD FINDEN.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Das Leben, das Du bisher geführt hast, hat sich bisher in einem recht eng gefassten Rahmen bewegt, eine Existenz, die eher vertikal als horizontal verläuft. Deshalb ist es nicht besonders schwer, Deine momentane Gefühlslage nachzuvollziehen. Aber ein Mensch, der seine ENTSCHEIDUNGEN immer wieder hinauszögert, wird bald in der Situation sein, dass es andere sind, die Entscheidungen für ihn treffen.

Wenn Du Dich jetzt also unter die Desillusionierten einreihst, dann bleibt Dir nichts anderes übrig, als die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind – oder Du machst Dich ernsthaft auf die Suche nach einer Alternative. Doch hüte Dich davor, Dich auf die Suche nach Zielen zu begeben; finde eine Lebensweise, die Dir entspricht. Überlege Dir, wie Du gerne leben würdest, und schau Dich DANN erst nach einer Betätigung um, mit der Du Dir Deinen Lebensunterhalt verdienen kannst.

Du meintest aber: »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll; und ich weiß auch nicht, wonach ich überhaupt suche.« Und hier liegt der Hund begraben. Lohnt es sich denn, sein bisheriges Leben aufzugeben, um sich nach etwas Besserem umzusehen? Ich weiß es nicht – lohnt es sich? Das kannst nur Du entscheiden. Die ENTSCHEIDUNG, SICH AUF DIE SUCHE ZU BEGEBEN, wäre bereits ein erster großer Schritt.

* * * * * * * * * * * *

Ich muss mich bremsen, sonst schreibe ich hier am Ende gleich ein ganzes Buch. Ich hoffe, dass dies alles hier nicht so verwirrend ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Und vergiss nicht, dass es sich um MEINE ART handelt, die Dinge zu betrachten. Ich glaube zwar letztlich, dass ich mich allgemein verständlich ausdrücke, aber Du bist vielleicht anderer Meinung. Jeder muss sich seine eigenen Glau­bensgrundsätze schaffen – dies sind nun einmal meine.

Wenn Dir irgendetwas davon unsinnig erscheint, lass es mich bitte in jedem Fall wissen. Ich will Dich nicht »auf die Reise« schicken, um Walhall zu finden, sondern nur darauf hinweisen, dass man die Wahlmöglichkeiten, die einem von seinem Leben vorgegeben werden, nicht hinnehmen muss. Das Leben ist größer – niemand sollte GEZWUNGEN sein, für den Rest des Lebens etwas zu tun, das ihm widerstrebt. Wenn das bei Dir der Fall sein sollte, bleibt Dir nichts anderes übrig, als Dir einzureden, Du hättest KEINE WAHL gehabt. Und da wärst Du dann nicht der einzige.

Das wär’s soweit. Wir hören voneinander,

Dein Freund …

Hunter