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Das blaue Mal

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Gier nach Leben, nach Frauen, nach Luxus ließ seine Muskeln schwellen, führte ihn ins Traumland des Phantasten, gab seinen dunklen Augen so Kühnes und Träumerisches, daß hier und da ihn sogar ein Blick aus weißem Frauenantlitz nicht ohne Wohlwollen streifte. Sekundenlang nur, um sich dann in die Würde der durch den Anblick eines coloured man beleidigten Frau zurückzuziehen.

Es wurde Abend und Carlo ging bis zur vierzehnten Straße und bog seitwärts ab, um nach der zweiten Avenue zu gelangen. Dort lagen nebeneinander die Wiener und ungarischen Cafés und Restaurants, eins neben dem anderen, so daß dieser Teil der zweiten Avenue im Volksmund die Gulasch-Avenue hieß.

Carlo wußte, daß in diesen, von den naiven, nie zu amerikanisierenden Kindern Wiens und Budapests frequentierten Lokalen kein Verständnis für die Negerfrage herrschte und er dort ein ebenso willkommener Gast sein würde, wie jeder, der in der Lage war, dem Kellner statt ihm mit der Zeche durchzubrennen fünf Cent Trinkgeld zu geben.

Im Café Vindobona umgab sich Carlo mit einem Berg von Wiener und Berliner Zeitungen, aß sich an Nudelsuppe, Rindsgulasch und Apfelstrudel satt, alles zusammen für vierzig Cents, ließ sich einen Mokka servieren, zündete sich eine importierte österreichische Zigarette an und fühlte sich fast wie zu Hause in Wien. Ringsumher hörte man nur Deutsch sprechen, echt wienerisches, mit tschechischem Anklang, mit Budapester Betonung, meistens mit unverkennbar jüdischem Akzent. Es wurde Billard und Tarock gespielt, auf Amerika geschimpft, die neuesten Nachrichten der ›Neuen Freien Presse‹ besprochen, kurzum, hier schlug sich ein Völkchen mehr schlecht als recht durchs Leben, das mitten in Amerika eine mitteleuropäische Insel geschaffen hatte, und hier verdarb und starb, ohne je Englisch zu erlernen und sich im guten und bösen Sinne zu amerikanisieren.

Carlo lächelte ironisch vor sich hin. Eigentlich wurden diese braunhäutigen und dunkelhaarigen Juden in Wien von den weißen Ariern ebenfalls beiseite geschoben, und die Negerfrage hat mit der Judenfrage eine verdammte Ähnlichkeit. Nun, die Juden in Europa haben sich nicht hinunterstoßen lassen, und ich, der ich kein Jude und kein Neger bin, werde es erst recht nicht tun.

* * *

»Mein Name ist Carlo Zeller aus Wien, ich bin erst wenige Wochen im Lande und werde Ihnen dankbar sein, wenn Sie sich bei der Arbeit meiner annehmen wollen!«

Drei junge Mädchen verbeugten sich geschmeichelt, reichten ihm die Hand. Grete Möller, Erna Struve, Lilli Wegner. Grete Möller war eine strohblonde, stattliche, aber schon etwas verblühte Hannoveranerin und seit drei Jahren in Amerika. Erna Struve klein und unansehnlich, vor einem Jahre mit ihren Eltern aus Lübeck gekommen, Lilli Wegner erst einige Monate hier. Ihre Brüder lebten seit Jahren in New York und hatten die verwitwete Mutter und die achtzehnjährige Schwester jetzt nachkommen lassen. Lilli gefiel Carlo gut, sie war mittelgroß, hatte weiche, schmiegsame Bewegungen und gute blaue Augen. Mit ihr hatte er vorläufig auch am meisten zu tun; er diktierte ihr die deutschen Briefe in die Maschine, die er nach kurzen stenographischen Bemerkungen des Generaldirektors entwarf. Französische und italienische Briefe an Buchhändler schrieb er selbst, wenn auch noch etwas unbeholfen auf der Maschine, da er in dieser Abteilung der einzige war, der die Sprachen beherrschte.

Die »International Book Company«, bei der nun Carlo angestellt war, monopolisierte die Einfuhr und Ausfuhr von Büchern und Zeitschriften aus und nach Europa, es war ein gewaltiger Betrieb mit mehr als tausend Angestellten, von denen mehr als drei Viertel die mechanische Arbeit des Verpackens, Adressierens und Rubrizierens zu besorgen hatten. Winzige Rädchen im großen Mechanismus, während Carlo doch mehr schon Feder und Antrieb war.

Die Zeit verlief rasch und Carlo war von dem Gefühl, Mensch unter Menschen zu sein, nutzbringende, bezahlte Arbeit leisten zu dürfen, so beglückt, daß er keine Müdigkeit verspürte, als mit dem Glockenschlag sechs alles zum Aufbruch drängte.

Lilli wohnte mit der Mutter und den zwei Brüdern in einem Mietshaus in der ersten Avenue, und fast von selbst ergab es sich, daß Carlo sich ihr anschloß und sie begleitete. Sie legten den nicht allzu weiten Weg zu Fuß zurück; er erzählte ihr mit wenigen Worten von seinen reichen, bewegten Jünglingsjahren in Wien, das Mädchen klagte, daß es sich in der großen Stadt, deren Sprache sie noch nicht beherrschte, ungemütlich fühle, um so mehr, als ihre Brüder ihr fremd seien und sie die Abende immer in der dumpfen, abscheulichen Wohnung verbringen müsse.

»Immerhin,« sagte Carlo leise, »Sie haben doch Ihre Mutter und die Brüder um sich, ich aber bin ganz allein, kenne keinen Menschen, habe niemanden, mit dem ich sprechen und einen Gedanken austauschen könnte.«

Sie waren beim Tor des häßlichen, vierstöckigen Hauses angelangt, und Lilli sah ihn mit großen Augen mitleidig an.

»Wenn Sie sich einsam fühlen, Herr Zeller, dann kommen Sie doch abends nach dem Speisen ruhig zu uns. Die Brüder sind selten zu Hause, und wenn auch, Mutter und ich sitzen doch gewöhnlich in unserem Stübchen und es wird uns sehr freuen, wenn Sie mit uns plaudern wollen.«

Freudig sagte Carlo zu. Als er dann allein nach dem Hotel St. Helena ging, lächelte er dünn vor sich hin:

Vor wenigen Monaten noch hätte ich mich nach diesem kleinen Mädchen in der Baumwollbluse sicher nicht umgedreht, Abend für Abend verbrachte ich in großer Gesellschaft, beim Spiel mit vornehmen Freunden oder in Salons schöner Frauen, die mich gut leiden mochten, deren schlanke, weiße Hände zitterten, wenn ich sie küßte oder gar verwegen meine Lippen auf die Pulsadern drückte. Heute bin ich ein armer Clerk, einer unter Millionen, und werde froh sein müssen, wenn ich einen Abend mit zwei einfachen Frauen, die mir nichts sagen können und meinen Nerven nichts sind, verbringen darf. Wer mir das alles vorausgesagt hätte, wer mir heute voraussagen könnte, wohin mein Weg mich noch führen wird!? – – –

Die nächsten Tage verliefen im Gleichklang der Arbeit, der Generaldirektor nahm zweimal Anlaß, Carlo seine außerordentliche Zufriedenheit auszudrücken, so daß dieser sich immer sicherer fühlte und Vertrauen in die Zukunft faßte. Mißtrauische, ironische Blicke seitens anderer Angestellter, mit denen er auf der Treppe oder in den Korridoren zusammentraf, beachtete er nicht, ließ er an sich abgleiten. In nähere Berührung kam er mit niemandem, außer mit den drei deutschen Mädchen, da das Zimmer, in dem er arbeitete, direkt vom Treppenflur des dritten Stockwerkes betreten werden konnte. Abends begleitete er immer Lilli nach Hause, besucht aber hatte er sie noch nicht, da sie die Einladung nicht mehr wiederholte und er, ohne nachdrücklich nochmals aufgefordert zu werden, nicht kommen wollte.

Am Samstag bekam. Carlo zum erstenmal in seinem Leben selbstverdientes Geld in die Hand, und zwar, obwohl er erst am Mittwoch eingetreten war, den ganzen Wochenlohn von zwanzig Dollar. Er lachte vergnügt in sich hinein, als er neben Lilli die Straße entlang schritt, und dämpfte selbst das Gefühl einer gewissen stolzen Zufriedenheit, indem er sich daran erinnerte, wie er noch vor so kurzer Zeit ganz andere Betrage flüchtigen Launen, schalen, eingebildeten Vergnügungen geopfert hatte.

Die Oktobertage waren warm und sonnig, sie repräsentierten den »Indian Summer« in seiner vollen Glorie, man hatte das Empfinden, einem neuen Frühling entgegenzukommen, und Carlo schlug Lilli vor, morgen nachmittag mit ihm das berühmte Coney Island, das er noch nicht kannte, zu besuchen.

Das Mädchen willigte vergnügt ein. Einmal war sie schon mit ihren Leuten dort gewesen, aber damals sei es furchtbar heiß und voll gewesen, ihre Mutter habe Kopfschmerzen von all dem Lärm und Trubel bekommen und so habe sie von all den Karussell- und anderen Vergnügungen eigentlich nichts gehabt.

Zeller erwartete das kleine Mädchen am Sonntag nachmittag beim Haustore, und sie fuhren über die endlose Brooklyner Brücke in der maßlos überfüllten Hochbahn nach Coney Island, dieser riesigen, an der Küste gelegenen Vergnügungsstadt, die fast die einzige Erholung der unteren drei Millionen New Yorks bildet. Betäubender Lärm empfing sie, erstickender Dunst von Menschen, von den fremden Maiskolben, die offen verkauft werden, von tausend Würstelbuden, das Geheul von etlichen hundert Musikkapellen, das Kreischen der Menschen, die hoch oben in der Luft durch tollkühne Hochschaubahnen flogen. Ein Wurstelprater in tausendfacher Vergrößerung, ins Gigantische und Groteske verzerrt.

An der Seite des jungen Dinges, dem Mannheim noch in den Gliedern steckte, umbrandet von einer ausgelassenen Menschenmenge, fühlte sich auch Carlo heute nur als Junge, jauchzend ließ er sich mit Lilli in Gondeln durch die Luft schwenken, bestieg Holzpferde, die einen unbedingt abwarfen, kostete das Vergnügen des Teufelsrades, aus dem man zum Gelächter der Umstehenden hinausgeschleudert wird, und verirrte sich mit seiner Begleiterin für nur zehn Cent unrettbar in einem gigantischen Labyrinth, in dem nur hier und da das Auge eines Gnomen elektrisch aufleuchtete. Als er aber fühlte, wie sich Lilli ängstlich an ihn schmiegte, da loderten seine jungen, ausgehungerten Sinne auf, er schlang den Arm um den weichen Leib des Mädchens und versengte ihre zuckenden, zuerst widerstrebenden, dann hingebungsvoll gereichten Lippen mit seinen Küssen. Bis plötzlich ein elektrischer Pfeil vor ihnen auftauchte und die Dunkelheit zerriß und ihnen wie den anderen Liebespaaren den Weg wies.

Vergebens mahnte Lilli zur Sparsamkeit. Im feinsten Restaurant von Coney Island speisten sie zu Abend. Und hier trat ein kleiner Zwischenfall ein, der jäh die glückliche Stimmung durchbrach. Zwei Herren gingen an ihrem Tisch vorbei, blieben einen Augenblick stehen, und der eine sagte laut zu dem anderen: »Pfui, da sitzt ein weißes Mädel mit einem Farbigen!« Dann gingen sie weiter.

 

Alles Blut wich aus Carlos Gesicht, es färbte sich so aschgrau, daß Lilli, die die englisch gesprochene Bemerkung nicht verstanden hatte, ängstlich ihre Hand auf seinen Arm legte und fragte, ob ihm schlecht geworden sei. Mühsam gewann er seine Fassung wieder, schüttelte den Kopf, zahlte aber rasch und bat Lilli, die vielleicht noch gerne geblieben wäre, mit ihm zu gehen. In beklommenem Schweigen verlief die Rückfahrt, und Lilli wußte sich die Verstimmung Zellers nicht zu erklären.

* * *

Am nächsten Morgen hingen schwere dunkle Wolken am Himmel, und ein Blick auf die Dollaruhr, die er vor wenigen Tagen erst gekauft, zeigte ihm, daß es reichlich spät war. Carlo rasierte sich nicht, zog sich rasch an, trank unterwegs, stehend, einen heißen Kaffee und war knapp vor acht Uhr in der Duane Street, in der das Gebäude der International Book Company lag. Da der Aufzug gerade abfahrtbereit war, so wollte ihn Carlo entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit benützen. Der Fahrstuhl war stark besetzt, immerhin für eine Person mochte noch Raum sein. Gerade wie er sich aber hindrängen wollte, stieß ihn ein baumlanger, stiernackiger Kerl zurück, drängte an ihm vorbei und rief höhnisch:

»Ach was, ein verdammter Nigger hat vor einem weißen Gentleman zurückzustehen.«

Kein Neger läßt sich in Amerika ungestraft einen Nigger nennen. Er betrachtet dieses Wort als Schimpf, will ein »coloured man«, womöglich ein »coloured gentleman« genannt werden. Und es ereignete sich das Merkwürdige, daß auch Carlo nicht das Wort »verdammt«, sondern den »Nigger« als eine unerhörte Beschimpfung, als brennende Schmach empfand. Einen Augenblick setzte sein Herzschlag aus, er bekam jene graue Färbung im Gesicht, die beim Neger wie bei den Mulatten und Terzeronen das Rot- oder Bleichwerden ersetzt, daß Weiß seiner Augen färbte sich rötlich, er duckte sich, sprang den Mann, der schon in der Türfüllung des Aufzugs stand, wie ein Raubtier an, riß ihn heraus, zwei, drei kunstgerechte Faustschläge dröhnten durch die Halle, und der Kerl, der ihn beschimpft hatte, wälzte sich, während ihm das Blut aus Nase und Mund schoß, besinnungslos am Boden.

Die Amerikaner tragen bei solchen Zweikämpfen eine bewunderungswürdige Disziplin zur Schau. Sie mischen sich nicht ein, ergreifen keine Partei, betrachten das als eine Privatangelegenheit, die keinen Dritten angeht. So auch hier. Die hundert Männer und Frauen, die sich angesammelt, bildeten während des kaum eine Minute währenden Kampfes einen Ring um die beiden, und als nun der eine kampfunfähig auf der Erde lag und fortgetragen werden mußte, löste sich die Menschenmenge ruhig auf: nicht ohne bewundernde Blicke für Carlo, der nun schweratmend die Treppen emporging. Ein alter Herr aber meinte, zu den Umstehenden gewendet, vorwurfsvoll: »Ganz recht hat der junge Mann gehabt, wir leben hier nicht im Süden, wo man einen Farbigen Nigger schimpfen darf.«

Carlo kam um reichliche zehn Minuten zu spät in sein Arbeitszimmer, aber niemand hatte Notiz davon genommen. Er begrüßte, als wäre nichts geschehen – die drei Mitarbeiterinnen. Lilli reichte er die Hand und sah nun, daß sie vom Weinen geschwollene Augen hatte. Bestürzt sah er sie an und flüsterte: »Was ist geschehen?« Er bekam jedoch keine Antwort und konnte auch nicht weiter fragen, weil er sich von den zwei anderen Mädchen beobachtet fühlte und eben die zu bearbeitende Korrespondenz hereingebracht wurde. Später, als eine kleine Arbeitspause eintrat, schob ihm Lilli rasch und verstohlen einen mit der Schreibmaschine geschriebenen Zettel zu:

»Carlo! Es war schrecklich! Meine Brüder haben mich mit Ihnen gesehen und mich furchtbar beschimpft und eine gemeine Dirne genannt, weil ich mich mit einem, der von Schwarzen abstammt, herumgetrieben habe. Ich mußte schwören, mit Ihnen nicht mehr anders als dienstlich zu verkehren, widrigenfalls sie mich auf die Straße werfen werden! Ich verstehe das alles nicht, aber die Brüder meinen, daß ein weißes Mädchen hierzulande ärger als eine Straßendirne betrachtet werde, wenn man sie in Gesellschaft eines Farbigen sehe. Raten Sie mir, was ich tun soll, Carlo, aber nur schriftlich, denn ich traue mich nicht mehr mit Ihnen auf der Straße zu sprechen.«

Carlo schluckte Tränen und gallebitteren Speichel herunter und lachte in sich hinein.

Lisl, Lilli, das reiche Mädchen und das arme! Es ist immer dasselbe! Ich weiß, so lange ich in diesem grauenhaften Land bleiben muß, daß ich ganz allein, von allen Menschen abgeschlossen, leben und froh sein muß, wenn man mir das Stück Brot verdienen läßt!

Quer über die Rückseite des Briefes aber schrieb er:

»Was Sie tun sollen? Höchst einfach! Nicht mehr mit mir sprechen und ein braves amerikanisches Mädchen sein!«

Er schob Lilli den Zettel hinüber, setzte sich an den Schreibtisch, schrieb französische und italienische Briefe und arbeitete in so fieberhaftem Tempo, daß ihm die Stunden wie Minuten vergingen. Um fünf Uhr kam ein Officeboy und bat ihn, zum Generaldirektor zu kommen. Der Direktor saß ersichtlich erregt im Drehstuhl, fuhr sich wütend durch das dünne Haar und sagte nach kurzer Pause:

»Leider haben Sie, lieber Zeller, die Verhältnisse richtiger beurteilt als ich! Wirklich haben ein paar elende Schweine, die ich nicht fassen kann, weil ich sie nicht kenne, gegen Sie gehetzt, und nun bekomme ich von der Gewerkschaft der im Buch- und Musikhandel Angestellten diesen Wisch da.«

Er reichte Zeller einen Brief, in dem es hieß:

»Das Sekretariat der Union Nr. 23 wurde verständigt, daß die International Book Company seit kurzer Zeit in ihrem Betrieb einen Mann namens Carlo Zeller beschäftigt, der unter die Kategorie der farbigen Leute einzureihen ist. Dies widerspricht dem Paragraphen 19 unseres mit dem Unternehmen geschlossenen Kollektivvertrages, und wir müssen Sie ersuchen, unverzüglich die Erfüllung dieses Punktes zu bewerkstelligen. Wir machen Sie darauf aufmerksam, daß gemäß den Statuten der Trade Unions eine Weigerung Ihrerseits die Verhängung der Verrufserklärung und des Boykottes über die International Book Company zur Folge hätte.«

Carlo hatte es schweigend gelesen, ruhig, beherrscht gab er dem Direktor den Brief zurück und sagte mit tonloser, müder Stimme:

»Also kann ich wohl gehen, Herr Generaldirektor!«

Dieser sah ihn aus den Brillengläsern verzweifelt an, begann in urwüchsigem Deutschamerikanisch alle Amerikaner zur Hölle zu wünschen, erklärte aber schließlich achselzuckend:

»Ich kann natürlich nichts machen, lieber Freund! Ein Trotzen meinerseits würde nicht nur mich meine Stellung kosten, sondern das ganze Unternehmen gefährden, Ihnen aber sicher nicht nützen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie mir lieber sind als die ganze Bande und ich die Absicht hatte, Sie demnächst zu meinem Privatsekretär zu machen. Nun müssen wir allerdings scheiden. Das Einzige, was ich für Sie tun konnte, ist, daß ich Ihnen das Salär für die ganze Woche angewiesen habe. Damit Sie sich nicht noch den hämischen Blicken irgendwelcher Hunde aussetzen müssen, habe ich den leider so geringen Betrag gleich von der Kasse holen lassen.«

Carlo nahm die zwanzig Dollar, quittierte, reichte dem ersichtlich erleichterten Direktor die Hand, die dieser herzlich schüttelte, und ging ruhig, apathisch die Treppen hinunter. Unten, vor dem Fahrstuhl, klebten dunkelbraune Flecken auf der Diele. Das Blut seines niedergeboxten Gegners. Ein leises, dünnes Lächeln huschte über die zusammengepreßten Lippen Carlos.

»Diese eine Satisfaktion hätte ich mir ja geholt, aber schließlich sind sie doch stärker als ich, und ich kann nicht ganz Amerika niederboxen.«

Langsam, ein wenig unsicher und schwankend, ging Zeller seines Weges. Bis er zu einem »Saloon« kam, einer Kneipe größten Stiles. Einen Augenblick nur zögerte er, dann trat er ein, setzte sich in einen Winkel und begann einen Whisky nach dem anderen zu trinken. Erst als er fühlte, daß noch ein Tropfen ihn zum sinnlos Betrunkenen machen würde, ging er in die feuchte, kühle und unfreundliche Nacht hinaus, zum Hafen hinunter und blickte mit brennenden Augen einem Schiffe nach, das ostwärts gegen Europa zog.

* * *

Der November war gekommen und Carlo saß, trotzdem ein feiner Sprühregen fiel, auf einer Bank im Battery-Park. Äußerlich vernachlässigt, unrasiert, den Rock hochgeschlagen, weil er keinen Kragen trug. Seit seinem tragischen Abgang von der »International Book Company« hatte er Arbeit nicht mehr gefunden, auch kaum noch gesucht, da er ja doch wußte, daß nirgends unter Weißen lange seines Bleibens sein würde. Als die paar Dollars aufgebraucht waren, verkaufte er nach und nach alles an Kleidungsstücken, was er noch am Leibe trug, sein toilette necessaire, zwei Paar Schuhe, einige deutsche und französische Bücher, die er aus Wien mitgebracht, weil er sie liebte, schließlich sogar seinen Rasierapparat. Nur die kleine Styria-Repetierpistole besaß er noch, und von ihr wollte er sich unter keiner Bedingung trennen, weil sie ihm als letzter Ausweg erschien. Heute morgen hatte er die letzten fünf Cent für eine Tasse Kaffee ausgegeben und nun stand er fröstelnd und hungrig auf, um sich irgendwie zu sättigen.

Die Schliche der Arbeitslosen kannte er längst, wußte, wie sich der Vagant, ohne verhungern zu müssen, durchschlug. An mehreren Biersalons schlich er vorbei, spähte hinein, bis er einen fand, der so voll war, daß er sein Vorhaben ruhig ausführen konnte. Er betrat den großen, ausschließlich von Männern erfüllten Raum. An der Bar tranken die Leute ihr schäumendes Bier oder ihren Whisky mit Soda, dann gingen sie zu dem Büfett gegenüber der Bar, belegten Brotschnitte, die in Körben lagen, mit Wurstscheiben, Käse, Heringsstücken, aßen so viel, als sie wollten, um dann abermals an der Bar ein Bier zu trinken oder fortzugehen. Amerikanischer Freilunch, den die Brauereien den Kneipen liefern, damit die Gäste durch das scharfe, minderwertige Zeug Durst bekommen. Immerhin eine wahre Wohltat für den, der nur fünf Cent besitzt und sich mit seinem Glas Bier am Freilunch sättigen will.

Carlo mischte sich in das Gedränge um die Bar, machte dann kehrt und ging zum Büfett, wo er in aller Ruhe etwa zehn Brote mit Wurst und Käse herunterschlang.

Nun war er satt, wenn auch sicher nicht auf lange, den brennenden Durst konnte er an einem Brunnen am Batterypark löschen und dann stadtaufwärts bis zum »Cooper Union Institut« auf zerrissenen Stiefelsohlen wandern und dort im großen Bibliotheksaal sich hinter Büchern und Zeitschriften vergraben, bis es sechs Uhr wurde.

Nochmals einen Saloon aufgesucht, dort nach spärlichen Käseresten gefahndet und dann hinunter den langen Weg nach dem Hotel St. Helena.

Als Carlo sich an der Office des Hotels vorbeischleichen wollte, um todmüde seine Kammer aufzusuchen, wurde er angehalten. Breitspurig stand der Clerk vor ihm.

»Mister Zeller, tut mir leid, Sie haben kein Zimmer mehr bei uns. Seit acht Tagen haben Sie nicht gezahlt, Sachen haben Sie nicht, Ihren leeren Koffer halte ich zurück als Deckung für die acht Dollar, die Sie uns schulden!«

Carlo wollte um Aufschub bitten, Vorstellungen erheben, darauf hinweisen, daß er zwei Monate hindurch regelmäßig gezahlt habe, aber er brachte kein Wort hervor, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, achselzuckend machte er kehrt und ging in den grauen Abend hinaus.

Während er müde und planlos durch die jetzt menschenleeren Straßen der unteren City ging, fühlte er von Zeit zu Zeit nach der rückwärtigen Hosentasche, in der seine Pistole verborgen war. Er kam an einem hellerleuchteten Trödlerladen vorbei und blieb stehen.

Für die Pistole würde ich zwei Dollar bekommen. Könnte in einer Herberge ein Bett mieten, mich morgen satt essen und würde abends genau so dastehen wie heute! Nein, in dieser bösen, feindseligen Welt ist die Pistole mein letzter Freund. Von ihm trenne ich mich erst dann, wenn sie ihre Pflicht getan und mir aus der kalt gewordenen Hand fällt.

Er ging westwärts zu dem Handelskai am Hudson. Eben wurde ein Frachtschiff beladen. Männer rollten schreiend und fluchend Ballen und Kisten zum Kran, der zehn, zwölf davon auf einmal, zu einem mächtigen Bündel verschnürt, hob, kreischend in die Luft schwenkte und dann mit einer Wendung in den Bauch des Schiffes gleiten ließ.

Am mächtigen Tor des Güterschuppens hing ein Zettel: »Morgen früh Abfahrt des ›S. S. Missouri‹ nach Rotterdam. Heizer werden noch angenommen. Freie Fahrt und zwanzig Dollar.«

Atemlos stierte Carlo die Inschrift an.

 

Er mit seinen jungen, gestählten Kräften würde die Höllenarbeit bei den Kesseln vielleicht überstehen. Und zwanzig Dollar – damit konnte er in Rotterdam einen Anzug kaufen und bequem nach Wien fahren.

Was aber dann? Was würden seine Freunde sagen, wenn er verkommen, schäbig, zugrunde gerichtet mit rissen Händen und mageren Gliedern vor ihnen stehen und sie um Hilfe bitten würde?

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Nein, lieber hier verrecken wie ein Hund, als in dem üppigen, schwelgerischen Wien als Bettler von der Gnade anderer leben zu müssen.

Carlo stieg eine Steintreppe hinunter, die zum Wasser führte, und sah in die schlammigen, schwarzgrauen Fluten, die dem Meere zubrausten.

Wenn ich mich vornüber beuge und mir eine Kugel in die Schläfe jage, so ist alles vorbei. Ein Nigger weniger auf der Welt, das ist alles!

War es seine erregte Phantasie, war es Wirklichkeit? Die Wellen rissen eine Leiche mit sich, die Leiche eines Mannes mit ausgebreiteten Armen. Von Grauen erfüllt, beugte sich Carlo weiter vor, sah ein grünlich aufgedunsenes Gesicht mit aufgerissenen Augen, sah die schlammigen, weißen Haare, den offenen Mund.

»Nein, das doch nicht,« murmelte Carlo vor sich hin, »dazu habe ich noch Zeit, morgen, übermorgen, wenn ich nicht mehr weiter kann!«

Dunkle Nacht, frisch einsetzender Regen mit Flocken vermischt. Dumpfes Kältegefühl ließ Carlo rascher gehen, fast laufen. Er rannte stadtaufwärts, kam zur Welt Houston Street, richtete instinktiv, von seltsamer Neugierde getrieben, die Schritte den Straßen zu, die, wie er wußte, fast ausschließlich Neger beherbergten.

Mein Volk, dachte er hämisch grinsend, die Menschen, zu denen ich gehöre, unter denen ich, wenn ich nur wollte, sicher ganz gut mein Leben fristen könnte.

Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Wohin gehört der Mensch? Dorthin, wo er von den anderen gestellt wird. Nun, hier stellt man mich zu den Farbigen. Also gehöre ich von Rechts wegen zu ihnen, ist es vielleicht nur kindischer Hochmut, wenn ich trotze und zu denen will, zu denen ich nicht gehöre. Wie wäre es, wenn ich morgen zu einer der Zeitungen der Farbigen gehen und ihr meine Dienste anbieten würde? Neger, die so gebildet sind wie ich, wird es nicht viele geben, wahrscheinlich würde ich mit offenen Armen aufgenommen werden!

Aber diese Gedanken waren spielerisch angeflogen und Carlo lächelte über sie hinweg. Ein schmerzliches Lächeln, denn er empfand heftigen Hunger, war unsagbar müde, begann beim Gehen zu straucheln und fühlte, wie seine Augenlider schwerer und schwerer wurden.

* * *

Vor einem Restaurant stand in der Türfüllung breit und behäbig ein Neger mit einer knallgrünen Krawatte, einem mächtigen falschen Diamanten am rechten Zeigefinger und goldenen Zähnen, die in die Nacht hinaus gähnten.

Carlo fühlte sich so elend, daß er mitten im Lichtkegel der offenen Türe stehen blieb und sich an die Mauer lehnte.

»Krank, Mister?« fragte der dicke Neger teilnahmsvoll und seine kohlschwarzen Kinderaugen glotzten den Fremden neugierig an. Und Carlo kam sich so jammervoll, so hilfsbedürftig vor, daß er fast unbewußt die Worte hervorstammelte:

»Ich bin müde, hungrig und habe kein Obdach!«

Der schwarze Wirt griff in die Hosentasche, überlegte, nahm dann Zeller am Arm und sagte ruhig:

»Sie sollen sich satt essen! Kommen Sie herein!«

Und er führte Zeller an einen Tisch, klatschte in die Hände und flüsterte einer schwarzen, noch dickeren Frau mit mächtigen Korallen in den Ohren ein paar Worte zu. Bald darauf watschelte die Negerin, die Frau des Wirtes, mit einem Teller Suppe, Brot, Butter und einer Schüssel Fleisch herbei und sagte, während sie von einem Ohr bis zum anderen grinste:

»So, essen Sie sich ordentlich satt, junger Mann! Und nicht traurig sein! Ist schon mehr als einer niedergebrochen und dann doch noch reich wie Vanderbilt geworden!«

Diskret entfernte sie sich ebenso wie ihr Gatte, und es schien Carlo, als wenn auch die anderen schwarzen Gäste, die den Vorgang beobachtet hatten, nun ostentativ wegschauen würden, um ihn beim Essen nicht zu stören.

Erst als er fertig war, setzte sich der Wirt zu ihm, ein paar andere Neger taten desgleichen, die Wirtin brachte Bier, und plötzlich saß Carlo mitten unter denen, die nach Ansicht der Amerikaner seine Genossen waren. Sein Humor regte sich, er fand die ganze Situation grotesk und burlesk, außerdem aber durchaus nicht unbehaglich. Nun befand er sich unter Leuten, die ihm sicher keine Kränkung zufügen, ja wahrscheinlich sogar Verständnis für seine Leiden haben würden. Und auf die Fragen der Neger erzählte er kurz von seinem Leben und den traurigen Erfahrungen, die er in Amerika gemacht.

Die Neger steckten die Köpfe zusammen, sahen ihn fast ehrfürchtig an, er hörte, wie der eine dem anderen zuraunte: »Er ist ein Studierter, ein gelehrter Mann, drüben hat er nur unter Weißen gelebt.«

Aber sein Leid konnten sie doch nicht erfassen. Der Wirt wiegte bedächtig das wollige Haupt.

»Es wird sich ganz leicht ein guter Job für Sie finden. Gebildete Leute wie Sie, die Sprachen sprechen, findet man nicht leicht unter uns. Vorläufig könnte ich Sie ganz gut bei mir gebrauchen als Kellner und um in der Küche zu helfen, weil sich meine Alte sonst zu Tode schindet. Was, Mammi? Aber ich will auch mit dem Direktor der Schule nebenan sprechen, sicher weiß er etwas für Sie. Wie gesagt, mit der Bildung steht es bei uns noch recht schlecht.«

Carlo schüttelte verzweifelt und mutlos den Kopf. Wie sollte er sich verständlich machen, ohne die Leute zu beleidigen? Endlich sagte er zögernd:

»Gentleman, Sie müssen mich recht verstehen! Nicht als ob ich glauben würde, ich sei, weil mein Vater ein Weißer war, etwas Besseres als jeder andere, der nur schwarzes Blut hat. Nein, aber ich bin nun einmal unter Weißen aufgewachsen, habe mich nie anders als jeder Europäer gefühlt, und will mich nicht durch brutale Gewalt irgend wohin drängen lassen, wohin ich nach meiner Ansicht nicht gehöre.«

Fassungslos sahen die Männer einander an.

»Ja, aber wenn die Weißen Sie doch nicht unter sich leben lassen wollen und Sie es unter den Farbigen gut haben können?«

Ein seltsam anzusehender Vollblutneger mit schneeweißem Haar und Brille war eingetreten, hatte stehend den größten Teil der Unterhaltung angehört. Er wurde nun als Reverend Jonas angesprochen, sehr ehrerbietig behandelt und aufgefordert, Platz zu nehmen. Der Methodistenpastor lehnte ab, sah Carlo groß an und sagte:

»Junger Mann, gehen Sie ruhig nach Europa zurück und genießen Sie dort die Rechte, die man Ihnen einräumt, weil man von dieser Seite der Rassenprobleme dort nichts weiß. Wenn Sie aber hier bleiben wollen, dann müssen Sie sich in unser Lager begeben und Neger werden! Nie werden Sie hier ein weißes Weib freien können, und Ihre Kinder würden ja doch wieder zurückkehren zu den Farbigen! Ich weiß ganz gut, im Innern Ihres Herzens verachten Sie den dummen, plumpen Neger. Überwinden Sie sich, helfen Sie ihn zu erziehen, statt zu verachten, und Sie werden manch Goldkörnchen unter der schwarzen Haut blinken sehen und erfahren, daß der Neger dankbar sein kann, wie kein anderer.«

Reverend Jonas ging wieder, die anderen nickten, ohne die Worte ganz erfaßt zu haben, Carlo wurde nachdenklich, in jähem Wechsel begannen die Gedanken in seinem Hirn zu kreisen.

Das Gespräch wandte sich von Carlo ab, den Interessen der anderen zu. Geschäftliche Dinge wurden besprochen, von kleinen Veränderungen erzählt, die sich in der Nachbarschaft ereignet. Der Barbier Sam Lincoln habe sich unvermutet mit der Tochter des Schuhhändlers Washington Robbin verheiratet, die Frau des Tischlers Soundso Zwillingen das Leben geschenkt, die aber, obwohl sie wie ihr Gatte Vollblut seien, durchaus wie Mulatten aussehen. Man lachte grinsend und erzählte dann einander allerlei schlüpfrige Geschichten.