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Das blaue Mal

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III. Der farbige Gentleman

Ende August. Die Hamburger Sonne brennt nicht mehr, aber sie wärmt behaglich. Und die gebräunten Herren und Damen, die vor dem Alsterpavillon sitzen oder an ihm vorbei den Jungfernstieg entlang wandeln, freuen sich dieses letzten Sommergeschenkes, das ihnen den Übergang von den Festen an der See oder in den Bergen zum Großstadtleben erträglicher macht.

Carlo Zeller sitzt lässig dahingestreckt in einem Korbstuhl und beobachtet mit Interesse das lebhafte Bild ringsum. Eine blonde deutsche Welt, denkt er, ganz anders als in Wien, wo sich der Okzident langsam mit dem Orient zu mischen beginnt. Prachtvolle, breitschulterige Männer mit von der Sonne fast weißgebleichtem Haar und tiefgebräuntem Gesicht, aus dem die blauen Augen gutmütig und freundlich leuchten. Die Frauen fast ausnahmslos blond, groß, schwer, das Mütterliche schon um die dreißig herum stark betonend, für Wiener Geschmack auf zu festen Füßen wandelnd, zu betont solid und brav. Die Mädchen aber! Schlank und rank mit blitzblauen Augen, aus denen das zurückgehaltene Temperament mit jedem koketten Blick sich verrät. Und sie verstehen zu kokettieren, die Hamburger Mädeln! »Donnerwetter!« entfährt es fast Carlos Lippen, als er sich klar darüber geworden ist, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Mädelblicke ihm gelten und immer wieder da und dort ein junges, schlankes Ding in langsamem Vorbeischlendern den Blondkopf nach ihm kehrt. Schön lebt es sich unter blonden Menschen, und am Ende mag der Narr in Wien, der eine Zeitschrift herausgab, um für die Blonden gegen die Schwarzen zu kämpfen, gar nicht so unrecht haben. Die Gedanken Carlos fliegen nach Wien und von dort über den Ozean. Warm steigt es in ihm auf. Lisl, du gutes, blondes, bald bin ich dort, wo du atmest und lebst! Wie hingebungsvoll und weich sie ihn damals beim Abschied geküßt hatte, wie die Sehnsucht ihrer jungen Sinne sie ihm entgegengetrieben! Hätte er wollen, so würde er sie wie eine reif gewordene Frucht genommen und genossen haben. Aber nein, das hatte nicht sein dürfen, wäre Verbrechen gewesen! Lisl mußte in Ehren errungen, in Sicherheit und Glück gehalten werden. Nun hieß es, drüben kämpfen und ringen, bis er so dastand, daß er Lisl zu seiner Frau machen konnte.

Carlo biß sich auf die Lippen und krampfte, von jähem Zorn erfaßt, die Hände. War Lisl überhaupt noch sein? Warum schrieb sie ihm nicht mehr? In den ersten Wochen Brief auf Brief und dann kein Sterbenswörtchen mehr, keine Antwort auf sein letztes leidenschaftliches Schreiben. Sollte sie drüben einen anderen lieben gelernt haben? Nein, dann würde sie ihm erst recht geschrieben haben. War sie krank? – Unsinn, dann hätte sie ihre Kusine veranlaßt, ihm zu schreiben! Carlo scheuchte mit einer Handbewegung die bösen Gedanken fort. Pah, ein Brief über das Wasser geht leicht verloren, sie mag geschrieben und von ihm keine Antwort bekommen haben, und er hatte eben, als er keine Nachricht mehr bekam, es unterlassen, abermals und immer wieder zu schreiben. Und nun wartete sie und träumte vom Wiedersehen, wie er hier in Hamburg.

Der letzte schräge Sonnenstrahl verschwand plötzlich. Carlo begann zu frösteln, zahlte und stürzte sich in den Menschenstrom. Heute früh war er aus Wien angekommen, morgen vormittag verließ die »Alemannia«, auf der er seine Kajüte hatte, Cuxhaven, also galt es, heute abend noch das berühmte Hamburger Nachtleben kennen zu lernen.

St. Pauli mit seinen hundert Schänken und Singspielhallen, die mit grellen Lichtern, gellendem Tamtam und riesigen Plakaten die Tausende und Zehntausende von Matrosen aus aller Herren Länder einladen. Denn diese Matrosen sind junges Blut und nach wochenlangem Seeleben ausgehungert nach dem, was ihnen Genuß und Lebensfreude dünkt, und das mühsam erworbene Geld klimpert ihnen lose in den Taschen. Im »Grazienheim« herrschte helle Begeisterung. Ein freches, junges Ding mit langen Knabenbeinen in schwarzen Seidenstrümpfen und fast unverhülltem Oberkörper hatte eben den neuesten Operettenschlager mit kreischender Kinderstimme gesungen und dabei die Zweideutigkeiten durch entsprechende Gesten so trefflich illustriert, daß das Publikum, an Pfeffer und Würze gewöhnt, vor Vergnügen kreischte und johlte. Immer wieder mußte die Soubrette, die sich Amadea di Risitta nannte und sicher in der Berliner Ackerstraße zur Welt gekommen war, sich verneigen und Kußhände werfen, bis sie schließlich nur mehr die langen Beine unter dem niedergegangenen Vorhang vorstreckte und mit ihnen zum Gruß zappelte.

Carlo lachte fröhlich mit. Hier ist man handgreiflicher in der Erotik und derber als in Wien, aber im Kern bleibt es dieselbe Gier nach Lust an Obszönitäten, die alles versprechen und sofortige Erfüllung unmöglich machen. Carlo wollte dieses Thema philosophisch fortspinnen, aber die Sprunghaftigkeit seines Wesens führte ihn auf Abwege, er dachte wieder an die Wiener Frauen zurück, Lisl, keusch und zart, wie eine junge Blume, erschien vor ihm, Sehnsucht und schwüle Sinnlichkeit trübten und zerrissen seine Gedankenreihe, er stürzte hastig ein Glas Wein hinunter und fuhr erschreckt auf, als oben auf dem Podium drei Neger einen mächtigen Lärm schlugen und mit schweren und doch beweglichen Füßen den Boden hämmerten. Eine Pause trat ein, die Künstler mischten sich unter das Publikum, das ihnen die Gläser entgegenstreckte, das kleine Mädel mit den lasterhaften Beinen wurde von zwei behäbigen Männern in Kapitänsuniform in die Mitte genommen, einer der tanzenden Neger schlenderte an Carlo vorbei, fixierte ihn und ließ sich an seinem Tisch nieder.

Carlo fühlte sich irgendwie unangenehm berührt. Der Neger, der von der Anstrengung des Tanzes noch schwitzte, strömte einen scharfen, säuerlichen Geruch aus und Carlo drückte sein mit Kölnischem Wasser durchtränktes Taschentuch an die Nase. Blitzschnell aber flog eine Erinnerung durch sein Hirn. Einmal, nach einem Tennis in Madonna di Campiglio, hatte ihn Hella Bühler mit ihrem feinen Näschen beschnuppert und dann gesagt: »Wissen Sie, Carlo, Sie riechen ganz anders als andere Männer. Nach Muskatnuß, Zimt und Essig möchte man glauben.« Er hatte mit einer Frivolität erwidert. Hella hatte aufgelacht, das war alles. Und nun fiel ihm ein, daß dieser schwarze Kerl an seinem Tisch eigentlich auch nach Muskatnuß, Zimt und Essig roch.

Angewidert, beleidigt, rückte Carlo ab. Und als der Neger ihn in einem schrecklichen Kauderwelsch ansprach und fragte, ob er immer in Hamburg lebe, da erwiderte er fast unhöflich, trocken. Was ging ihn dieser schwarze Kerl an, der aus einer ganz, ganz anderen Welt stammte, mit der ihn nichts verband? Nichts – als ein Tropfen Blut. Verwundert sah Carlo um sich: Wer hatte das von dem Tropfen Blut gesagt? Es war seine eigene Stimme, nur von ihm gehört, gewesen. Carlo schrie zahlen, daß sich die Leute nach ihm umsahen. Verdammter Blödsinn, der Teufel soll diese Hitze und den Qualm holen! Wie benebelt, schlenderte Carlo ins Hotel Atlantic zurück. In der Nacht aber träumte er von seinem schönen, blonden Vater, von Lisl, von einem Neger, der ihn an sich riß, und von einem Spezereiladen, aus dem es schrecklich nach Muskatnuß, Zimt und Essig roch.

* * *

Ein Sonderzug brachte Carlo und die anderen tausend Passagiere der »Alemannia« am nächsten Morgen nach Cuxhaven, wo das Riesenschiff bereit lag und sich die letzten Kolli und Kisten in seinen mächtigen Leib versenken ließ. Carlo besichtigte seine schöne, im Mittelraum nach außen gelegene Kabine erster Klasse, dann ging er auf Deck und mischte sich unter die Abschiednehmenden, Freudigen, Traurigen, Nervösen und Aufgeregten. Die Ankerkette wurde aufgespult, die Schiffskapelle spielte die alte Weise: »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus«, Weinen, Tücherschwenken, Küsse, Zurufe, ein letztes Lebewohl aus hundert Kehlen, und langsam glitt das weiße Haus in die Nordsee hinaus.

Wehmütig, mit zuckenden Lippen lehnte Carlo über der Reling. Einsam und allein löste er sich von europäischer Erde los. Unbedeutend und nichtssagend erschienen ihm nun die losen Freundschaften, die ihm in Wien das Leben so angenehm gemacht hatten. Kaum daß er sich im Augenblick der Namen all der Männer und Frauen erinnerte, mit denen er sein väterliches Erbe verpraßte, seine Jünglingsjahre verbraucht hatte. Und auch von ihnen mochte wohl keiner seiner gedenken, kein Brief, kein Kartengruß, keine Depesche befand sich für ihn in dem Berg von Abschiedsgrüßen, der auf dem Tisch des Speisesaales wohlgeordnet lag. Das Gefühl tiefer Verlassenheit, des ganz und gar auf sich selbst Gestelltseins überkam ihn, vergebens wollte er das Bild Lisls hervorzaubern, es verblaßte und verrann vor seinen Augen, und ein leiser Schauer schüttelte seinen schlanken Körper.

Wohin steuerte sein Lebensschiff, welcher Zukunft glitt er entgegen?

Der Leuchtturm von Cuxhaven verschwand im Nebel, die Wogen der Nordsee wurden schwer und schwerer, grau brausten und rollten sie an das Schiff heran, ein leichter Sprühregen ging nieder und trieb die Passagiere unter Deck. Und während Carlo seiner Kabine zuschwankte, hörte er, wie ein Bootsmann auf die Frage einer Dame gleichmütig erwiderte: »Jawohl, wir bekommen Wetter!«

Das war so ziemlich die letzte Erinnerung, die Carlo an die Reise an Bord der »Alemannia« hatte, denn eine Viertelstunde später packte ihn die Seekrankheit mit allen ihren Martern und Schrecken, um ihn durch volle acht Tage, während deren sich der Ozeanriese durch Sturm und Wetter kämpfte, im Banne zu halten.

* * *

Bleich und schlanker noch als sonst, die schwermütigen dunklen Augen tiefliegend, stand Carlo im blauen, leichten Cheviotanzug, elegant, durchaus Dandy, an Deck und starrte, vom Fieber der Erwartung ergriffen wie alle um ihn her, dem Hafen von New York entgegen. Da lag links das grüne, flache Ellis Island, jene unselige, von Martern erfüllte Insel; auf der die armen Zwischendeckler und die irgendwie verdächtigen Kajütenpassagiere zum erstenmal Zeit bekommen, darüber nachzudenken, ob die mächtige Freiheitsstatue nicht im Laufe eines Jahrhunderts aus einem köstlichen Symbol zu einem nichtssagenden Bauwerk geworden sei. Hinter der Freiheitsstatue aber schoben sich, nun schon in greifbarer Nähe, ungeheuere Häuser, die Wolkenkratzer, die Hochburgen des neuzeitlichsten Merkantilismus, die Überwinder von Raumnot und Enge. Und scharfen Ohren war es, als würden sie aus dem entgegenflimmernden Chaos von Stein das Branden des Völkermeeres, den Puls der Sechsmillionenstadt hören.

 

Carlos Gestalt straffte und dehnte sich.

Dort lag das Leben, sein Leben. Dort winkte Kampf und Preis. Dort mußte sich erweisen, ob er als Überflüssiger untergehen, als einer von Millionen mitschwimmen, als Begnadeter oben bleiben würde. Dort würde es gelten, ob er alles, was er gelernt und erlebt, die Sprachen, die er beherrscht, die Erziehung, die er genossen, die Intelligenz, die ihn schärfer sehen und denken ließ als andere, in gute Münze würde umsetzen können.

Der Gong rief zum Luncheon. Carlo verzehrte mit Appetit seine einzige und letzte Mahlzeit an Bord der »Alemannia«, da er infolge seiner Seekrankheit nie bei Tisch erschienen war. Die anderen Passagiere aßen hastig, würgten nur rasch ein paar Bissen hinunter, schon aus dem behaglichen Gleichklang des Schiffslebens gerissen, schon in Gedanken bei den Angehörigen, im Bureau, auf der Börse.

Nun hieß es, die Prüfung der Einwanderungskommission zu bestehen. Im Nu bei den amerikanischen Bürgern erledigt, ein indiskretes, lächerliches Verhör bei Nichtamerikanern.

Carlo, in New York geboren, war amerikanischer Staatsbürger, der dieses Vorrecht auch nicht durch jahrzehntelange Entfernung aus den Staaten verlieren konnte, und er hatte wenig mehr zu tun, als seine Papiere vorzuweisen und etliche gleichgültige Fragen zu beantworten. Aber sein klassisches, schulgerechtes Englisch fiel dem Vorsitzenden der Kommission auf, und freundlich fragte er:

»Sie sind drüben erzogen worden, Mister Zeller?«

Carlo bejahte. Der Beamte sah ihm nun voll ins Gesicht, stutzte, wollte noch etwas fragen, unterdrückte aber die Worte und flüsterte einem der Beisitzenden etwas zu, was Zeller nicht verstand. Dann war er entlassen und konnte wenige Minuten später in Hoboken das gelobte Land betreten, in dem Milch und Honig so ungleichmäßig verteilt sind, wie anderwärts.

In der abscheulichen riesigen Zollhalle, in der das Reisegepäck untersucht wurde, standen die Angestellten der Hotels, um ihre Gäste zu empfangen. Carlo hatte von Hamburg aus sein Zimmer im vornehmen St. Regis bestellt; der uniformierte Hotelbote übernahm sein Gepäck, verlud es auf ein schmuckes Autotaxi, und auf einer Dampffähre von ungeheueren Dimensionen ging es hinüber von New Jersey nach New-York.

Wüster Lärm umbrandete den Ankömmling. Die Massen der Fußgänger schienen nicht zu gehen, sondern zu laufen, die kleinen Zeitungsjungen brüllten dahinfliegend ihre Ausgaben aus, die Automobile füllten in Reihen von drei und vier die Straßen, immer glaubte man, daß im nächsten Augenblick aus den rasenden, schreienden, schimpfenden Menschen, den hupenden Automobilen, den pfeifenden und klingelnden Straßenbahnwagen ein untrennbarer Knäuel entstehen müsse, immer hatte man das Empfinden: So, jetzt geht es nicht weiter, jetzt stößt alles zusammen, ineinander, durcheinander! Und immer wieder löste sich das Chaos in Fortbewegung auf, glitt der Strom der Menschen, der Wagen und Traine weiter, in die Hauptstraßen hinein, aus ihnen in die Quergassen hinaus, hinüber, herüber.

Nun war der Broadway am Union Square erreicht, und Carlo griff sich an die Stirne, weil er glaubte, die Besinnung verlieren zu müssen. Das Getriebe wuchs hier um die dritte Nachmittagsstunde ins Gigantische. Schwarz von Menschen und Wagen war der Broadway, es sah wie Revolution, wie Kampf und Aufstand aus. Der Fahrdamm von Automobilen, großen und kleinen, leichten Ponnywagen und mächtigen Sechszylindern, Lastautos und winzigen Landaulettes bedeckt, und an der achtzehnten Straße stieß von links und rechts ein Menschenstrom heran, um durch den Autopark durchzubrechen, bis ein überlebensgroßer Schutzmann den Holzknüttel hob, alles stillstand, sich eine Gasse zwischen den Wagen bildete und der Menschenstrom herüber und hinüber brauste.

Sommerliche Hitze, ohne Sonne, die nicht Raum fand, ihre Strahlen zwischen die hundert Meter hohen Häuser zu werfen. Carlo fieberte vor Erregung. Er ertrug es nicht länger, stillzusitzen und bewegungsloser Statist in diesem Welttheater zu bleiben. Er war hier an der zwanzigsten Straße, also nur mehr etwa zwanzig Straßen vom Hotel entfernt. Aus seinen Reisebüchern wußte er, daß dies etwa zwanzig Gehminuten bedeutete. Er gab dem Hotelboten, der neben dem Chauffeur saß, die Weisung, mit dem Gepäck in der Halle auf ihn zu warten und den Chauffeur zu entlohnen, und sprang, als die Wagen wieder an der Kreuzung hielten, rasch und behend aus.

Von der dreiundzwanzigsten Straße an änderte sich das Bild. Es gab mehr Promenierende als Dahinstürmende, die Menschen wurden ersichtlich eleganter, die Damen überwogen die Herren. Rayon der Warenhäuser, der vornehmen Welt der Theater, Konditoreien und Varietes. Jedes zweite Haus ein Warenpalast, jedes vierte ein Theater, ein Kino, eine Singspielhalle.

Carlo blickte aufmerksam um sich. Beobachtete voll Interesse die fast durchwegs blau wie er gekleideten Männer, mit Cäsarenköpfen, bissigem, viereckigem Kinn, ungeheuer betonter Energie und wassergrauen Augen. Für das ungeübte Auge zum Verwechseln ähnlich, so daß man nicht weiß, hat einem eben dieser da einen Stoß mit dem Ellbogen versetzt oder jener. Ein einheitlicher Yankeetyp aus hundert Rassen herausgearbeitet durch die Wucht der Maschinen des Lebens.

Aus dem mächtigen Bronzeportal eines Warenhauses strömte die Weiblichkeit in allen Nuancen und Altersstufen. Carlo blieb stehen und musterte. In Wien hatte er einmal festgestellt, daß von zehn vorbeigehenden Frauen eine hübsch, von hundert eine schön ist. Hier lehrte ihn der erste rasche Blick anders. Fast alle, die jung sind, sind hübsch, grazil, schlank, und jede zehnte wenigstens schön.

Vergebens suchte Carlo nach Wiener Art die Blicke der Frauen aufzufangen. In Wien drehte sich jedes junge Ding nach ihn um, warf ihm jede Dame einen raschen Blick zu. In Hamburg war es nicht anders gewesen. Hier glitten die kühlen, staubgrauen oder durchsichtig braunen Augen gleichgültig über ihn, durch ihn hinweg.

Carlo lächelte dünn. Jedes Land hat seine Art des Kokettierens, man muß nur herausbekommen, welche.

Aus einer Konditorei mit italienischem Namen trat ein Paar. Er ein blonder Nußknacker wie die anderen, sie eine faszinierende Schönheit mit mahagonirotem Haar. Sie gingen stadtaufwärts, Carlo also ihnen nach, neben ihnen her. Er konnte den Blick von dieser libellenhaften Figur, dem Alabaster dieser Wangen, dem brennenden Rot der vollen, geschwungenen Lippen nicht wenden. Die Schöne fühlte den Blick, erwiderte ihn und ließ die Augen über Carlo gleiten, nüchtern, kalt, abwägend, doch plötzlich runzelte sie die Brauen und wandte sich zu ihrem Begleiter, dem sie einige Worte zuflüsterte, worauf dieser stehen blieb, Carlo wütend anstierte und ihm ein herrisches: »Was wollen Sie?« zurief.

Carlo, fremd im Land und durchaus nicht zum Raufen aufgelegt, verschwand im Gewühl und ärgerte sich, daß er fühlte, wie rote Farbe in das helle Braun seiner Wangen schoß.

* * *

Hotel St. Regis. Ein Koloß, an dem der europäische Geschmacksbegriff irre wird. Überwältigend und imponierend. Eine dutzendstöckige Stadt mit Blumenladen, Barbieren, Buchgeschäften, Eisenbahnbureaux, Schuhputzern, Hallen, Sälen, Cafés, Restaurants, Bars, Schwimmbädern und sonstigen Bequemlichkeiten für 5600 Menschen. Die mächtige Halle in Lärm und Bewegung getaucht mit unmittelbarem Übergang zu diskreter Stille, lautloser Vornehmheit, lärmschluckenden Teppichen.

Jetzt ganz freudig, ganz berauscht vom Sauerstoff einer neuen, rastlosen Welt, schlenderte der junge, aus zwei Welten entsprossene, in Tropenglut gezeugte, in New York geborene, in Wien erzogene Pilger in guter Haltung durch die Halle, an alten und jungen uniformierten Negern vorbei nach dem Hotelbureau.

»Mein Name ist Carlo Zeller. Mein Gepäck dürfte vor wenigen Minuten hergebracht worden sein. Welches ist meine Zimmernummer?«

Höfliche Verbeugung des geschniegelten Direktors im Cutaway.

»Jawohl, Herr Zeller, Nummer 934 im neunten Stockwerk. Zimmer mit Badezimmer. Falls es nicht konveniert, kann sofort der Umtausch stattfinden. Hier der Schlüssel, Herr Zeller.«

Ein gelber Sonnenstrahl zittert durch das halbdunkle Bureau, der Direktor wird schon von anderen Ankommenden, fragenden, nervösen Damen belagert, Carlo wendet sich dem Aufzugrondeau zu, in dem Lift neben Lift blitzschnell auf- und niedergleiten. Er hört jedoch, wie ein hagerer Mann mit altersroten Backen im breiten schlechten Südstaatenenglisch den Direktor anfährt:

»Was ist los? Der Kerl soll hier wohnen?«

Weitere Worte verschlingt der Lärm. Und nun geschieht Unerwartetes.

Carlo, der eben den Fahrstuhl besteigen will, fühlt sich am Arm erfaßt. Verstört steht der Direktor neben ihm und glotzt ihm ins Gesicht.

Stiert ihn unentwegt an, ringt nach Worten.

»Pardon, mein Herr, ein bedauerlicher Irrtum – es ist kein Zimmer für Sie frei.«

Carlo versteht nicht.

»Wie, das Zimmer ist nicht frei? Nun, dann geben Sie mir eben ein anderes, ich kapriziere mich durchaus nicht auf Nummer 934.«

Das geschmeidige Gesicht des Direktors wird brutal, bissig.

»Nein, nicht so, es ist überhaupt kein Zimmer frei! Sie müssen anderswo wohnen. Wir werden Ihnen die Fahrt mit dem Autocab vergüten.«

Carlo stampfte mit dem Fuß auf. Ein paar Neugierige sammeln sich an.

»Was soll das. Sind Sie verrückt. Ich habe doch mein Zimmer per Kabel von Hamburg aus bestellt.«

Hilfesuchend blickt der Direktor um sich, ein paar Herren meckern vergnügt, eine Lady seufzt: »shocking!«

Da taucht ein Riesenkerl mit niedriger Stirne und Backenknochen wie ein Pavian neben ihm auf, legt ihm die Hand auf die Schulter und raunt ihm zu:

»Yes, junger Mann, kein Aufsehen! Sie bekommen Ihr Gepäck und gehen in ein anderes Hotel! Verstehen Sie denn nicht? Hier sind Farbige unerwünscht.«

Um Carlo dreht sich die Welt. Er fühlt, wie ihm der Jähzorn in den Schädel springt, weiß, daß er jetzt aschgrau im Gesicht wird, blutige Flecken tanzen vor seinen Augen. Er holt aus, schleudert den Riesen von sich, daß er gegen die Gitter des Fahrstuhls taumelt, ballt drohend die Faust und brüllt, daß es die Halle entlang klingt:

»Gesindel, blödes, das einen, der nicht aussieht, wie Ihr, für einen Farbigen hält! Gut, ich gehe, aber wer mich jetzt noch anrührt, bekommt meine Faust ins Auge!«

Der Direktor ist ins Bureau geflüchtet, die Umstehenden weichen zurück, der Riese brummt mit schiefem Blick:

»Hauptsache, daß Sie gehen!« wagt aber nicht, dem, der zum Sprung geduckt dasteht, näher zu kommen.

Tiefatmend, am ganzen Körper zitternd, steht Zeller vor dem Portal und läßt es wortlos geschehen, daß sein Koffer und die Handtasche wieder auf ein Auto verladen werden. Fragend beugt sich der Chauffeur zu ihm. Er weiß nicht, was er ihm sagen soll, bis ihm einfällt, daß Waldorf-Astoria eines Ranges mit dem St. Regis sein müsse. Wie er aber einsteigen will, steht ein blonder, behäbiger, älterer Herr neben ihm und gibt ihm einen Wink.

»Auf ein Wort, junger Mann, kommen Sie ruhig um die Ecke herum. Ich möchte Ihnen etwas zu Ihrem Nutzen sagen!«

Verwirrt, erschüttert, verstört folgt ihm Carlo.

Der behäbige Herr beginnt nun Deutsch, gutes Deutsch des Kaufmannes von der Waterkant, zu reden.

»Hören Sie, junger Mann, ich habe die Szene da mitgemacht. Bin kein Yankee und nicht mit Vorurteilen vollgeladen, sondern komme selbst aus Bremen und halte mich hier nur geschäftlich auf. Ich möchte Ihnen raten, fahren Sie nicht ins Waldorf. Sie werden auch dort kein Zimmer bekommen.«

Wieder loderte in Carlo der Zorn siedeheiß empor.

»Um Himmels willen, warum denn nicht?«

»Ja, sehen Sie, junger Mann, hierzulande merkt Ihnen jeder auf den ersten Blick an, daß Sie schwarzes Blut in den Adern haben. Stimmt doch wohl auch, nicht wahr?«

Tonlos, wie im Traum befangen, erwiderte Carlo:

»Schwarzes Blut? Das kann man nicht sagen. Meine Mutter war wohl ein Mischling, aber mein Vater ein deutscher Universitätsprofessor und ich selbst bin in Wien groß geworden und habe heute zum erstenmal Amerika betreten.«

 

Der Bremer Herr pfiff durch die Lippen.

»Da haben wir es also! Wenn Ihre Mutter eine Mulattin war und Ihr Vater ein Deutscher, so sind Sie eben ein Terzerone, das ist nach hiesigen Begriffen so gut und schlecht ein Farbiger, wie ein echter Vollblutnigger. Es nutzt nichts, junger Mann, ersparen Sie sich weitere Kränkungen und gehen Sie nicht ins Waldorf. Selbst wenn der Hotelier Sie aufnehmen wollte, er kann und darf nicht, weil er sonst Skandal mit seinen Gästen bekommt. Dumm genug, das gebe ich zu, aber es ist nun einmal hierzulande so!«

Carlo fiel in sich zusammen, sein Herz und sein Körper bebten, und heiser kam es aus seiner Kehle:

»Ich verstehe das nicht – warum hat man mich in Europa immer für einen Spanier oder einen Italiener oder dergleichen gehalten, und hier –«

Der Behäbige lächelte freundlich.

»Lieber Freund, hier haben die Leute eben Übung und erkennen den Mischling auch in der dritten und vierten Kreuzung auf den ersten Blick, an der Hand, an den Augen, an allem. Und werden sie es nicht am Gesicht erkennen, so ganz sicher am blauen Mal, das Sie unbedingt an Ihren Fingernägeln haben.«

Mechanisch streckte Carlo die Finger aus und sah auf allen Nägeln den bläulichen Halbmond an der Wurzel der Nägel ...

»Ja aber, wo soll ich denn absteigen, wenn man mich nirgends aufnimmt?«

»Nirgends wäre zu viel gesagt! Versuchen Sie es in einem der kleineren deutschen Hotels, im ›Belvedere‹ vielleicht, dort ist man nicht so heikel. Am besten wäre es freilich, Sie würden in ein« – der alte Herr wurde verlegen und nervös! »Na, eben in ein spezielles Hotel für Farbige gehen, wie es deren sicher ein Dutzend in New York gibt!«

»Niemals!« schrie Carlo empört auf. »Ich habe mit Negern nichts zu tun, ich bin ein akademisch gebildeter Deutscher und mindestens so gut wie irgendein Amerikaner.«

Aber er sprach ins Leere, denn der freundliche Herr war verschwunden. Und Carlo ging zum Auto zurück und gab als Ziel das Hotel »Belvedere« an. Dort, in diesem zweitklassigen, aber sauberen Hotel, das sehr an europäische erinnerte, wurde Zeller freundlich empfangen und – bekam kein Zimmer. Der Besitzer musterte den Ankömmling, zuckte die Achseln und sagte mit besonders betonter Liebenswürdigkeit:

»Mein Herr, es tut mir aufrichtig leid! Zu jeder anderen Zeit wäre es mir ein Vergnügen gewesen, Sie als Gast bei mir zu sehen. Aber gerade jetzt geht es nicht, denn ich habe vier Zimmer mit einer Familie aus New Orleans besetzt, die jedes Jahr im September hier wohnt. Und Sie wissen ja, – diese Leute aus dem Süden sind eigentümliche Menschen – wirklich, es geht nicht, in meinem Interesse ebenso wie in Ihrem geht es nicht!«

Nicht mehr Zorn, nicht mehr blinde Wut stieg in Carlo auf, sondern dumpfe Verzweiflung. Er kam sich wie besudelt, wie mit Kübeln Kot beworfen vor und sah an sich herunter, um die Schwären und Krätze zu finden, die ihn zum Ekel der Menschen machten. Seine Lippen zitterten, während er vor sich hinmurmelte:

»Mein Gott, was soll ich nur tun, ich kann doch nicht in ein Negerhotel gehen!«

Mit herzlichem Mitleid strich ihm der Hotelier über den Arm.

»Das würde auch ich Ihnen nicht zumuten, mein Herr, wirklich nicht, denn ich sehe, daß Sie ein Gentleman sind. Aber es gibt einen Ausweg. Fahren Sie stadtabwärts in die zweite Straße, Ecke Canalstreet. Dort befindet sich das Hotel St. Helena, dessen Besitzer ein Franzose ist. In diesem halbwegs sauberen Haus wohnen fast ausschließlich Südfranzosen, Spanier, bessere Italiener, und dort wird Sie kein Mensch mit scheelen Augen ansehen.«

Und schon entfernte sich eilig und scheu der Besitzer des Hotels Belvedere, denn eben kam die Familie aus New Orleans, an der Spitze ein weißhaariger Herr mit Whiskynase und buschigem Schnurrbart, die Treppe herab. Carlo Zeller aber fuhr ins Hotel St. Helena.

Im Hotel St. Helena, das in seiner häßlichen Fassade an ein Stundenhotel letzten Ranges erinnerte, empfing ihn ein zerlumpter Nigger mit einem freundschaftlichen Grinsen, für das ihm Carlo am liebsten einen Faustschlag gegeben hätte, und geleitete ihn in die Office, wo ihm ein schwammiger, fetter Herr mit olivfarbenem Gesicht und Pockennarben ohne weitere Umstände den Zimmerschlüssel gab und drei Dollars im vorhinein für den Tag verlangte.

Das Zimmer lag im dritten Stock und war erfüllt von peinlichen Gerüchen, Hitze und dem Gestank nach kalt gewordenem Tabakrauch. Carlo riß das Fenster auf und beugte sich auf die lärmende Straße hinaus. Wohin er blickte, sah er nichts als verwahrloste, schmutzige Häuser, verstaubte Fenster, Feuerleitern, auf denen Kübel mit Unrat, zerbrochenem Geschirr, leere Konservenbüchsen lagen. Unten aber drängten sich die Menschen, kreischten die Straßenbahnen, heulten die Hupen der Automobile.

Tief aufatmend zog sich Carlo ins Zimmer zurück. Aus dem Nebenraum erscholl das leise Weinen eines Weibes, unterbrochen von brutalen französischen Schimpfworten aus männlicher Kehle. Im Korridor sang irgendein Bediensteter einen amerikanischen Gassenhauer mit stumpfsinnigem Text und süßlicher Melodie. Carlo schüttelte sich und setzte sich verstört auf die mit einem roten, unsagbar schmutzigen Überwurf bedeckte Chaiselongue, schlug die Hände vors Gesicht und grub die Nägel in die Stirne, um nicht laut aufzuheulen.

Das also war der Empfang in der Neuen Welt, so begrüßte ihn seine eigentliche »Heimat«! Wie ein wüster Traum kam ihm all das vor, was er seit zwei Stunden erlebt. Wohl hatte ihm sein Vater von dem Haß der Amerikaner gegen die Neger erzählt, wohl hatte er hie und da in den Wiener Zeitungen von den Greueltaten des Richters Lynch gelesen, aber nie war ihm das sonderlich nahe gegangen, weil ihm bei dem Worte Neger immer ein kohlschwarzer Hoteldiener, ein Liftboy oder allenfalls ein Minstrelsänger im Varieté erschienen war. Nie hatte er sich als Neger oder als Negerstämmling empfunden, nie geahnt, daß das Wort »Coloured people« – farbiges Volk – auf ihn Anwendung hätte.

Carlo streckte die feinen, schlanken Finger aus und besah seine Nägel. Die Erbschaft der Mutter, das blaue Mal, leuchtete ihm gespenstisch zehnfach entgegen. Es war in Wien oft aufgefallen, aber nie als Schandmal. Mehr als ein liebes Mädel hatte das blaue Mal geküßt, und als seine Braut, die blonde Lisl, zum erstenmal zärtlich seine Hand gestreichelt, hatte sie verwundert ausgerufen:

»Wie interessant! Das kommt sicher vom südlichen Blut!«

Lisl! Carlo sprang auf und weichere Gedanken kamen über ihn. Nur nicht verzagen, morgen würde er Lisl aufsuchen, sich ihrem Onkel und den übrigen Familienmitgliedern vorstellen, und sie würden alle zusammen lachen über die grotesken Erlebnisse von heute. Denn Lisls Onkel, Herr Ortner, war ja selbst von Geburt Österreicher, und wenn seine Frau auch Amerikanerin war, so würden sie sicher vorurteilslose, moderne Menschen sein, nicht viehisch ungebildete Hotelkommis, die sich an veraltete, überwundene Regeln hielten.

Er öffnete die Koffer, machte sorgfältig Toilette, kühlte den heißen Kopf, indem er in das Waschbecken ein Stück Eis aus dem Krug tat, tränkte sein Taschentuch mit Kölnischwasser und verließ, fast wieder gut aufgelegt, das Hotel. Auf der Straße aber erinnerte er sich, daß er seit mittags nichts genossen, Hunger und Durst kamen ihm zum Bewußtsein, und rasch suchte er im Notizbuch die Adressen erstklassiger Restaurants, die ihm ein Wiener Freund, der sich vor kurzem in New York aufgehalten, gegeben. Delmonico, Martin, Sherrie. Rasch orientierte sich Carlo, dann bestieg er eine Straßenbahn, die stadtaufwärts fuhr, ließ sich wieder von dem Treiben am Broadway erschüttern und stieg mitten im Lebemannsviertel von New York, das man nach dem zartesten, schmackhaftesten Ochsenstück Tenderloin nennt, aus, um im Restaurant Sherrie zu speisen.