Wissenssoziologie

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Die vermeintliche Vorrangstellung der Wissenschaft ist in Schelers Augen einem im engeren Sinne soziologischen Effekt geschuldet: Bei der Ausbreitung der modernen [92]Wissenschaft handele es sich im Grunde um die Durchsetzung einer Klassenphilosophie: Wissenschaft sei die Philosophie der sich im 19. Jahrhundert immer stärker durchsetzenden bürgerlichen Klasse. Selbst Comte betrachte die Wissenschaft ja keineswegs nur als neutraler Beobachter – er trete selbst als Fürsprecher des Bürgertums auf, das in der wissenschaftlichen Kontrolle und Herrschaft der Natur ihre ökonomischen Antriebe befriedigte. Denn dem Bürgertum gehe es um mehr als um die Auffindung bloßer Gesetze. Die Erkenntnis der Gesetze diene einem kalkulierbaren »voir pour prévoir«, einer ihrer Lebensführung gemäßen rationalen Planung der Zukunft.

Abb. 6: Die Schelerschen Wissensformen I

Scheler zufolge ist die Annahme, dass die Wissenschaft die anderen Wissensformen verdrängt und damit die Gleichsetzung der verschiedenen Wissensformen, einer der Gründe für das, was ihm als die Verwirrung seiner Zeit erschien: Religiöses würde als Wissenschaft, Wissenschaft als Religion, Religion als Metaphysik missverstanden. Die drei Formen des Wissens bestehen aber nicht nur gleichzeitig, sie weisen auch beträchtliche Unterschiede auf. Diese Unterschiede werden zuweilen als »substantielle« Merkmale des Wissens aufgefasst: Im Falle der Wissenschaft handelt es sich um Herrschaftswissen, im Falle der Metaphysik um Orientierungswissen und im Falle der Religion um Heilswissen. Scheler trifft jedoch eine genauere soziologische Unterscheidung dieser Wissensformen, die ihre Unterschiedlichkeit durch ihre verschiedenen sozialen Aspekte (und, wie wir später sehen werden, zugrunde liegende Triebe) beschreibt: Jede »Form« des Wissens hat nicht nur einen gesonderten Ursprung und eine spezifische Funktion, sie erfordert auch eigene soziale Rollen und findet ihren Ausdruck in besonderen sozialen Institutionen der Wissensvermittlung. Jede soziale Gruppe (Klasse, Berufe, Stände) hat eigene Weisen der Erzeugung und Tradierung des Wissens. Das gilt besonders für die Institutionen. Deswegen unterscheiden sich Kirchen, die religiöses Wissen vermitteln, wesentlich von wissenschaftlichen Instituten, Weisheit erfüllt andere Funktionen als positives [93]Wissen, und Forscher unterscheiden sich in ihren Rollen grundlegend von religiösen Führern. Die für die jeweilige Wissensform spezifischen Ausprägungen lassen sich wie oben abgebildet (vgl. Abb. 6) gegenüberstellen.

Wie Weber oder Simmel griff auch Scheler in seiner Wissenssoziologie auf Diltheys Lehre der Weltanschauungen zurück, von dem er den Gedanken einer begrenzten Anzahl an Weltanschauungen aufnahm. Allerdings wandte er sich gegen andere Aspekte dieser Lehre. In seinen Augen handelt es sich bei den von Dilthey angeführten Weltanschauungen im Grunde um relativ »künstliche« Bildungsweltanschauungen, also solche, die erst durch einen bewussten geistigen Prozess geschaffen wurden. Dilthey habe jedoch nicht gesehen, dass sich hinter diesen künstlichen Weltanschauungen eine »relativ natürliche Weltanschauung« verbirgt. Damit bezeichnet Scheler eine Art grundlegender kultureller »Mentalität«. Diese Mentalität umfasst Einstellungs-, Wertungs- und Auffassungsformen, die letztlich biologisch in der Triebstruktur des Menschen verankert sind. Trotz dieser festen biologischen Verankerung ist die relativ natürliche Weltanschauung nicht universal gleich bleibend, sondern ändert sich über die Zeit hinweg. Sie variiert auch je nach Sprache, »Rassenmischung« und »Kulturmischung«. Relativ-natürliche Weltanschauungen sind für Scheler gleichsam »organische Gewächse« einer »unbewusst arbeitenden Gruppenseele«. Sie umfassen alles, was in einer Gruppe als selbstverständlich gilt und keiner weiteren Legitimation bedarf. Es gibt also keine den Menschen gemeinsame Grundstruktur des Wissens, wohl aber überall etwas, das in der betreffenden Gruppe als fraglos gegeben gilt. Von dieser Grundlage ausgehend, lassen sich dann die Wissensformen nach dem Grad ihrer Künstlichkeit unterscheiden, wobei die am wenigsten künstlichen auch der relativ-natürlichen Weltanschauung am nächsten sind. Scheler differenziert dabei die oben genannten drei Wissensformen weiter aus in sieben verschiedene Wissensformen: Wissenschaftliches Wissen teilt sich in technologisches und positives Wissen auf, religiöses Wissen in religiöses und mystisches. Das philosophisch-metaphysische Wissen bildet eine eigene Kategorie. Zu den drei Wissensformen kommen nun noch die »niedrigen«, »volkstümlichen« Formen des Wissens, die in Mythen und Legenden und im Volkswissen aufgehoben sind.

Abb. 7: Die Schelerschen Wissensformen II

[94]Die Herausstellung dieser zwei Pole der niedrigen und der höheren Wissensformen bildet die Grundlage für Schelers Unterscheidung zwischen Gruppenseele und Gruppengeist: Die Gruppenseele ist die relativ natürliche Weltanschauung, wie sie sich unreflektiert in Volksliedern, Volkssprache, Sitten, Gebräuchen und der Volksreligion manifestiert. Der Gruppengeist dagegen besteht aus bewussten »künstlichen Konstruktionen« oder »gebildeten« Weltanschauungen, Kultur, Staat, gebildete Sprache, Kunst, Wissenschaft. Ist die Gruppenseele ein Teil des gesamten sozialen Systems und somit unpersönlich, so gehört der Gruppengeist zur herrschenden Klasse.

Wissensformen sind keineswegs neutrale kognitive Strukturen. Sie greifen zwar nicht selbst aktiv in die Welt ein, beeinflussen aber das Anschauen, Denken und Werten. Die verschiedenen Wissensformen sind für sich eigenständig, kommen aber nur dann zur Geltung, wenn sie soziale Träger (wie Weber sagen würde) finden. Wie schon Marx oder Weber, geht es auch Scheler im Kern seiner Wissenssoziologie um den Zusammenhang, ja die Korrelation von Sozialem und Ideen, den »Zusammenhang von gesellschaftlicher Kooperation, Arbeitsteilung, Geist und Ethos einer führenden Gruppe mit der Struktur von Philosophie, der Wissenschaft, ihrer jeweiligen Gegenstände, Ziele, Methoden, ihren jeweiligen Organisationen in Schulen, Erkenntnisgesellschaften«.53 Wie wir gleich sehen werden, sind es für Scheler erst die sozialen Träger, die bestimmte Ideen umsetzen. Ideen werden also wissenssoziologisch erklärt, indem sie auf jeweils herrschende soziale Interessenperspektiven zurückgeführt werden, die er als Realfaktoren bezeichnet. Allerdings begnügt sich Scheler hier nicht mit einer sozialen Formenlehre, die er dann mit den Wissensformen korrelierte.

Wie wir schon oben im Zusammenhang mit seiner Kritik an Comtes Vorrangstellung der Wissenschaft gesehen haben, sieht Scheler die »sozialen Interessen« sehr tief in – instinktiven oder kollektiven – Trieben verankert. Deswegen müssen wir uns kurz mit seiner Trieblehre beschäftigen, bevor wir zu den Realfaktoren zurückkehren können.

Der Begriff des Triebes mag heute etwas unvertraut, ja anrüchig klingen – wie auch andere Aspekte der Sprache Schelers (etwa seine Rede über »Rassen«). Scheler knüpft damit sehr ausdrücklich an die irrationalistische Tradition insbesondere Nietzsches an, die wir weiter oben behandelten. Mit dem Begriff der Triebe begründet auch Scheler das Wissen in den irrationalen Merkmalen des menschlichen Wesens, die ja schon Gegenstand seiner anthropologischen Überlegungen waren. Schelers Trieblehre unterscheidet sehr grundlegend drei verschiedene Triebe: den Sexual- und Fortpflanzungstrieb, den Machttrieb und den Nahrungstrieb. Aus diesen Trieben leitet er drei gesellschaftliche Formen ab: die Macht des Blutes, den Willen zur Macht und den ökonomischen Profit. So martialisch dies auch klingen mag, kann man unter der Macht des Blutes die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen erkennen, die das Ordnungsprinzip der meisten einfacheren Gesellschaften sind. Der Wille zur Macht dominiert in feudalen Gesellschaften, in denen die allmähliche Ausbildung, Spezialisierung und Zentralisierung des politischen Willens erkennbar wird. Und der ökonomische [95]Profit schließlich steht im Vordergrund der modernen kapitalistischen Gesellschaft, die Schelers Gegenwart beherrscht. Man kann daran schon erkennen, dass Scheler hier eine historische Abfolge im Auge hat: Auf die ›Phase des Blutes‹ folgt die feudale und auf diese die ökonomische. Dabei betont er, dass in diesen Phasen lediglich ein Trieb jeweils das Übergewicht hat, während aber die anderen durchaus ebenfalls noch wirksam sind. (Allerdings lässt Scheler den Zusammenhang zwischen biologischen und sozialen Triebkräften weitgehend ungeklärt.)

Die gesellschaftlichen Ausprägungen dieser Triebe nun bilden für Scheler die Grundlage für die in der Geschichte und der Gesellschaft wirksamen Realfaktoren. Dazu zählen für ihn die politischen Machtverhältnisse, ökonomischen Produktionsverhältnisse, Rassenmischungen und Rassenspannungen (dazu würde man heute wohl ethnische Konflikte sagen). Die »Realfaktoren« entsprechen im weiteren Sinne also dem, was wir heute im Bereich der »Sozialstruktur« verorten würden. Die verschiedenen Formen des Wissens, die wir oben schon kennen gelernt haben, fallen unter die »geistigen« Faktoren der sozialen Sphäre. Scheler nennt sie Idealfaktoren. Diese Unterscheidung bildet denn auch die Grundlage für Schelers wissenssoziologisches Modell der Beziehung von Realfaktoren auf Idealfaktoren.

Die Parallele zwischen dem Konzept der Ideal- und Realfaktoren zu Marx’ Basis-Überbau-Modell ist wohl einer der Gründe, die Plessner dazu anregten, die deutsche Wissenssoziologie als eine »Theorie des schlechten Gewissens gegenüber Marx« zu bezeichnen.54 Allerdings trifft das auf Scheler nur teilweise zu, verbarg sich doch hinter diesem vordergründig soziologischen Konzept eine philosophische Metaphysik, die den »Geist« und die »Natur« als zwei getrennte Sphären betrachtete: Auch wenn der Mensch geistig und triebhaft zugleich sei und es Übergänge zwischen beiden Sphären gebe, so handele es sich doch um zwei getrennte Sphären, die lediglich miteinander interagieren könnten. Dies gelte für einzelne Handlungen, in denen beide Sphären aufeinander treffen, es gelte aber ebenso für die Gesellschaft und die Geschichte. Ideen und die reale Wirklichkeit der Objekte bestünden also getrennt voneinander; sie berührten sich allein im Reich des Sozialen.

 

Mit dem Konzept der Idealfaktoren und Realfaktoren stellt Scheler ein Modell für die Berührung dieser zwei Sphären vor: In diesem Modell bilden die einzelnen Sphären sozusagen eigenständige, geschlossene Regelkreise, in denen sie vor allen Dingen im je eigenen Regelkreis wirken: Im Bereich der Idealfaktoren wirken Mythen auf Mythen oder etwa auf die Religion oder die Metaphysik, aus Religion kann Wissenschaft werden usw. Auf diese Weise entfalten die Ideen ihre Bedeutung innerhalb der intellektuell-kulturellen Sphäre, also des Regelkreises der Idealfaktoren. Für sich genommen sind die Inhalte der Ideen somit recht unabhängig von der Struktur der Gesellschaft. Dasselbe gilt auch für die Realfaktoren: Wirtschaftliches [96]Handeln wirkt auf wirtschaftliches oder auch politisches, ohne dass es den sinnhaften Ausrichtungen der Idealfaktoren folgen müsste. Ideen und Weltanschauungen werden erst dann ›realisiert‹, wenn sie mit den Realfaktoren verbunden werden. In seinem »Gesetz der Kausalfaktoren« nennt Scheler drei Arten von »Beziehungen« zwischen diesen Regelkreisen: Die Beziehungen der Idealfaktoren untereinander, also die immanente Ordnung und Entwicklung von Wissen und Denken; die Beziehung der Realfaktoren untereinander (also die soziale Ordnung und Dynamik), und schließlich die Beziehungen zwischen den dynamischen und statischen Aspekten der Idealfaktoren und Realfaktoren untereinander.55 Weil die Verbindung als punktuelle Überbrückung beider Regelsysteme erscheint, vergleicht Scheler diese Stellen mit Schleusen: »Erst da, wo sich die ›Ideen‹ irgendwelcher Art mit Interessen, Trieben, Kollektivtrieben oder, wie wir letztere nennen, ›Tendenzen‹ vereinen, gewinnen sie indirekt Macht und Wirksamkeitsmöglichkeit; z.B. als religiöse, wissenschaftliche Ideen.«56 Dabei sind die Realfaktoren ausschlaggebend, aber nicht determinierend: Sie üben die Funktion einer Schleuse aus, sie entscheiden darüber, welche Ideen realisiert werden können. Die Idealfaktoren haben von sich aus keine »Kraft« oder »Wirksamkeit«. Idealfaktoren können die Form der Realfaktoren nicht bestimmen, die sich völlig blind für Sinn entwickeln, und diese haben keinen Einfluss auf die Inhalte der Idealfaktoren. Diese bestimmen lediglich, ob sich bestimmte Ideen und Werte in einer historischen Situation durchsetzen können. Mit diesem »Schleusentheorem« entwickelt Scheler eine ausgeprägt korrelationistische Wissenssoziologie.57 Die zentrale Aufgabe dieser Wissenssoziologie besteht darin, die Orte zu finden, an denen die materiellen Faktoren mit Teilen des ideellen Reiches in Berührung kommen, und die Folgen zu bestimmen, die diese Berührung auf beide Seiten hat.

Die Durchsetzung einzelner Ideen verdankt sich vor allem der »herrschenden Interessenperspektive« der sozialen Gruppen, »dass der soziologische Charakter alles Wissens, aller Denk-, Anschauungs-, Erkenntnisformen unbezweifelbar ist, und dass zwar nicht der Inhalt alles Wissens und noch weniger seine Sachgültigkeit, wohl aber die Auswahl der Gegenstände des Wissens nach der herrschenden sozialen Interessenperspektive, und die ›Formen‹ der geistigen Akte, in denen Wissen gewonnen wird, stets und notwendig soziologisch, das heißt durch die Struktur der Gesellschaft mit bedingt sind.«58 Entscheidend dafür ist, wer herrscht, also insbesondere die [97]Eliten. Wie auch Pareto hält Scheler die Eliten für die wichtigsten Träger wenn schon nicht des Wissens, so wenigstens der Entscheidungen über das, was als Wissen wichtig ist oder werden soll. Die Eliten sorgen für die Verbreitung von in der Geschichte aktualisierten Ideen. Eliten nehmen Elemente aus der absoluten Welt der Ideen auf und verbreiten sie in der Masse. Ob sie angenommen werden, ist von zwei Faktoren abhängig: ihrem allgemeinen kulturellen Ethos (wie es von Weber schon analysiert wurde) und ihrer die Realfaktoren bestimmenden Triebstruktur. Die Wirkung der Realfaktoren auf die Idealfaktoren kommt dann zur Entfaltung, wenn sich die »Triebstruktur der Führer der Gesellschaft« und der Ethos der herrschenden Gruppe zu einer dominanten Form des »geistigen Wertevorziehens« verbinden. »So fordert der Inhalt der Ideenlehre Platos weitgehend die Form und Organisation der platonischen Akademie. Auch die Organisation der protestantischen Kirchen und Sekten ist primär bestimmt vom Glaubensinhalt selbst, der eben nur in dieser und keiner anderen sozialen Form existieren kann. Und schließlich fordert der Gegenstand und die Methode der positiven Wissenschaft notwendig die internationale Form der Organisation; der Inhalt und schon die Aufgabe einer Metaphysik dagegen die kosmopolitische Form der Kooperation des Zusammenwirkens von individual verschiedenen unersetzlichen und unvertretbaren Volksgeistern respektive ihrer Vertreter.«59

Dieser Wissenssoziologie legt Scheler eine Reihe von verbindlichen Axiomen zugrunde. Zum einen geht er vom sozialen Charakter allen Wissens aus. Zwar folgen die Regeln und Inhalte des Denkens eigenen Gesetzen, ihre Auswahl jedoch folgt den Interessen und der Macht soziale Gruppen. Zudem sind die Formen des Wissens selbst notwendig von der Struktur der Gesellschaft, ihren Institutionen und ihren Gruppenstrukturen, bestimmt. Die Bestimmung folgt aus der wechselseitigen Wirkung der beiden ›Regelkreise‹ von Ideal- und Realfaktoren.

Ein Beispiel für die wechselseitige Bedingung von Realfaktoren und Idealfaktoren bietet die Reformation. Deren geistige Revolution führt Scheler, ähnlich wie schon vor ihm Max Weber, auf die Entstehung einer neuen Klasse, des bürgerlichen Unternehmertums zurück, das einen eigenen Ethos der Lebensführung entwickelte und damit die ständische Ordnung und die sie stützenden kirchlichen Autoritäten herausgefordert hatte. Das wiederum beeinträchtigte die Vorstellung einer objektiv gültigen Ordnung und führte zu jenem Dualismus zwischen Geist und Körper, wie wir ihn bei Luther (etwa in der Lehre vom inneren und äußeren Menschen) und später noch Descartes (in der Zweiteilung in Denken und körperliche Wirklichkeit) finden.

Ausgehend von der Scheidung der Wirklichkeit in Real- und Idealfaktoren untergliedert Scheler die Aufgabe der Wissenssoziologie noch weiter. Die Erforschung der Idealfaktoren und ihrer Verbindung untereinander ist für Scheler zentraler Gegenstand des Zweigs der Soziologie, den er »Kultursoziologie« nennt.60 Die Kultursoziologie [98]habe sich also mit den internen Entwicklungen des Geistes zu beschäftigen. Die Erforschung der Realfaktoren ist Gegenstand der »Realsoziologie«.

Eine bedeutsame Verknüpfung von Ideal- und Realfaktoren zeigt sich bei der sozialen Verteilung des Wissens. In der Tat sind die Inhalte des Wissens in Schelers Augen sozial ungleich verteilt. Was der einzelne Mensch in einer Gesellschaft weiß, ist von seiner sozialen Lage abhängig. Ebenso ist seine Teilhabemöglichkeit am Erleben anderer von seiner Gruppenzugehörigkeit abhängig. Dabei lässt sich die Wissensstruktur grob durch die Ausdifferenzierung besonderer (höherer) Wissensformen und die sozialen Unterschiede des Wissens charakterisieren. Die Wissensstruktur moderner Gesellschaften entspricht einem oben abgestumpften Wissenskegel, dessen Höhe den Abstand des Wissens der Unterklassen von dem der Oberklassen veranschaulicht. Die Höhe nehme mit der Breite der Basis ab, so dass die zunehmende Wissensuniformierung mit der Abnahme der Höhe des Kegels bezahlt werde.

Eine besondere Dimension in dieser Wissensstruktur ist die Klassenstruktur der Gesellschaft. So zeigt Scheler in seiner Analyse der klassenbedingten Denkarten (die hier Wissensformen, Denk- und Werthaltungen umfassen), wie nicht nur das Wissen des Einzelnen, sondern auch die Art zu denken von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse als der bedeutendsten Determinante besonderer Wissensformen abhängt. Scheler unterscheidet dabei grob zwischen einer um das Bürgertum kreisenden Oberklasse und einer um die Arbeiterschaft konzentrierten Unterklasse. Er listet die folgenden Denkarten auf, die durch die Klassenzugehörigkeit bedingt werden (bei diesen verschiedenen klassenbedingten Denkarten handelt es sich freilich nur um »Tendenzen« bzw. »klassenbedingte Neigungen unterbewusster Natur«). Gewinnt die Oberklasse ihre Orientierung aus der Vergangenheit, so ist die Unterklasse an der Zukunft orientiert. Entsprechend sieht die Unterklasse die Dinge im Werden, bleibt realistisch, wo die Oberklasse idealistisch ist, und hält soziale Unterschiede für etwas, das von den sozialen Milieus abhängt, während die Oberklasse vieles als angeboren ansieht. Die ganze Reihe der Unterschiede findet sich in der folgenden Auflistung kurz zusammengefasst (vgl. Abb. 8).

Die Klassenbedingtheit ist jedoch kein Grund für einen unüberwindbaren Relativismus des Wissens: »Die Klassenvorurteile, und auch die formalen Gesetze der Bildung von Klassenvorurteilen sind vielmehr für jedes Individuum der Klasse prinzipiell überwindbar.« Denn »gäbe es wirklich keine Instanz im menschlichen Geiste, die sich über alle Klassenideologien und ihre Interessenperspektiven zu erheben vermöchte, so wäre alle mögliche Wahrheitserkenntnis Täuschung«.61 Die verschiedenen Denkweisen nämlich sind nicht falsch. Es handelt sich vielmehr um partielle Wahrheiten und damit Ausschnitte einer umfassenden Wahrheit (die sich Scheler als ein die Geschichte transzendierendes Reich der Ideen vorstellte).


Oberklasse
Wertprospektivismus des ZeitbewusstseinsWertretrospektivismus
WerdensbetrachtungSeinsbetrachtung
mechanische Weltbetrachtungteleologische Weltbetrachtung
Realismus (Welt als Widerstand)Idealismus (Welt als Ideenreich)
MaterialismusSpiritualismus
Induktion, EmpirismusAprioriwissen, Rationalismus
PragmatismusIntellektualismus
Optimistische Zukunftsansicht und pessimistische RetrospektionPessimistische Zukunftsaussicht und optimistische Retrospektion (»die gute alte Zeit«)
Widersprüche suchende, dialektische DenkartIdentität suchende Denkart
milieutheoretisches Denkennativistisches Denken

Abb. 8: Schelers Analyse klassenbedingter Denkarten

Die Wissenssoziologie erfüllt in Schelers Augen nicht nur die Funktion, die soziale Mitbedingung der Erkenntnis und des Wissens zu rekonstruieren. Sie ist für ihn auch ein wichtiges politisches Instrument: Sie erlaube die Lösung der ideologischen Konflikte seiner Zeit. In seinen Augen kam der Wissenssoziologie die Aufgabe zu, zwischen den sich befehdenden sozialen und ideologischen Gruppen zu vermitteln, indem sie falsche Vorurteile zerstörte. Zu diesem Zwecke sollte eine Weltanschauungsanalyse die Begrenztheit der einzelnen ideologischen Positionen und ihre Klassenbedingtheit aufzeigen. Eine neue Elite, so Scheler, könnte dann in die Lage versetzt werden, die Wahrheit aus jeder einzelnen sozialen Perspektive auszuwählen und damit ein soziales Programm für alle Bürger zu schaffen. Auf diese Weise glaubte Scheler auch, den Relativismus umgehen zu können und die Grundlage für eine neue, rationale Kulturpolitik zu schaffen.

Auch wenn Scheler sehr stark auf die irrationalistische Tradition zurückgriff, so blieb er doch der aufklärerischen Tradition verbunden. »Indem beide [Max Scheler und Karl Mannheim] von dieser Disziplin auf der Grundlage einer schonungslosen Aufdeckung der sozialen Bedingtheit partikularer Weltansichten und Vorurteile eine Einsicht in die ›Wahrheit‹ sowie eine grandiose Synthese aller partiellen Wahrheiten durch die Elite erwarteten, knüpften sie an die von Marx heftig kritisierte Tradition der »philosophes« an, durch eine ›von oben‹ durchzuführende Erziehung die ›gute‹ Gesellschaft verwirklichen zu können.«62

 

Wenn von den Begründern der deutschen Wissenssoziologie die Rede ist, werden Max Scheler und Karl Mannheim häufig in einem Atemzug genannt. Dabei wendet sich schon der jüngere Mannheim sehr scharf gegen Scheler, dem er vorwirft, unbemerkt die Inhalte der katholischen Tradition in seine Phänomenologie und damit [100]auch seine Wissenssoziologie einzuschmuggeln.63 Daneben stört ihn, dass Scheler die Realfaktoren durch die Bezugnahme auf die »Triebe« psychologisiert und dadurch von wirklichen sozialen Wirkkräften abkoppelt. Vor allem aber widerstrebt ihm die Zweiteilung der Welt in Real- und Idealfaktoren, die einer Trennung von »Sein« und »Sinn« gleichkomme. Sein und Sinn seien jedoch nicht getrennt, sondern kämen immer nur gemeinsam in dynamischen historischen Verbindungen vor.

KARL MANNHEIM64 hat dennoch einige Gemeinsamkeiten mit Scheler. Wie Scheler arbeitete er vor dem Hintergrund der sich heftig bekämpfenden Ideologien seiner Zeit, und so verfolgte er in nachgerade klassischer wissenssoziologischer Manier die Frage nach den sozialen Bedingungen bestimmter Weltanschauungen.65 Und ähnlich wie bei Scheler handelt es sich bei ihm vorwiegend um philosophische Analysen, in denen er an Diltheys Arbeiten anschloss.66 Durch seine radikale Kritik der herkömmlichen (individualistischen) Erkenntnistheorie jedoch begründet er die Wissenssoziologie als eine eigenständige kritische Theorie des Denkens, Erkennens und Wissens.

Wie Scheler sieht auch Mannheim den Positivismus als einen Vorläufer der Wissenssoziologie. Der Positivismus, wie er etwa bei Comte zum Ausdruck kommt, ist jedoch noch unzureichend, weil er sich weigert, Sinn als Element der Erklärung anzusehen und damit jede Form der intellektuell-geistigen Erklärung ablehnt. Mannheim nimmt auch auf Max Weber Bezug, dessen Vorgehensweise in seinen Augen jedoch ebenfalls unbefriedigend bleibt, weil dieser eine nicht-relativistische Vorstellung der Wahrheit vertritt. Der wichtigste Ausgangspunkt seiner »dynamischen« Wissenssoziologie ist deswegen der Historismus, weil Mannheim von einer historisch veränderlichen Wahrheit ausgeht. Die Entstehung der Wissenssoziologie ist für ihn selbst ein historisches Ereignis, das erst möglich wurde durch eine zuvor noch nie dagewesene Relativierung des Wissens zu seiner Zeit.67 Der Gegenstand dieser Wissenssoziologie ist die Verbindung zwischen Weltanschauung und sozialer [101]Wirklichkeit, oder, noch allgemeiner, das Verhältnis zwischen der unvermeidlich verschieden gearteten Bewusstseinsstruktur unterschiedlicher Subjekttypen und ihrer sozio-historischen Situation.

Dieses Verhältnis war auch schon von Alfred Weber, einem seiner Lehrer, als Gegenstand der Kultursoziologie angesprochen worden. »Wie«, so hatte Alfred Weber gefragt, »hängen soziale Formen und Kultur, Daseinsgestaltung und Kulturgestaltung, vitaler Inhalt und Kulturtendenzen zusammen? Wie bauen sich auf den Lebensformen die Gehäuse und Medien auf, in denen sich das Geistige auswirkt? Welche Schichten tragen die verschiedenen geistigen Tendenzen, und mit welchem Lebenseingestelltsein hängt dies dann zusammen? Was ist die Kulturbedeutung dieser oder jener Lösung, Bindung, inneren oder äußeren Gestaltung der großen lebentragenden Kräfte?«68 Kultursoziologie bedeutete also, die Verbindung zwischen soziokulturellen Kontexten und kulturellen Produkten dadurch zu erfassen, dass man die gesamten Bedeutungen betrachtet, die eine Weltanschauung für die intentionalen Akte eines Bewusstseins hat.

Die aus Webers Kultursoziologie ererbte Aufgabenstellung, sich nicht nur auf soziale Strukturen zu beschränken, sondern auch geistige und kulturelle Gebilde – also Sinn – zum zentralen Gegenstand der Soziologie zu machen, stellt einen wesentlichen Zug von Mannheims Wissenssoziologie dar. Jede vom Menschen vollzogene Handlung oder jedes von ihm oder ihr geschaffenes Handlungsprodukt, also jedes »Kulturgebilde« zeichnet sich durch Sinn aus. Um diesen Sinn zu analysieren, unterscheidet er drei herausragende Dimensionen: den objektiven Sinn, den intendierten Ausdruckssinn und die dokumentarische Interpretation. Veranschaulichen wir uns diese Dimensionen an einem Beispiel. Wir sehen eine Person in einem Fluss, die »Hilfe!« ruft. Wir brauchen die Person nicht kennen, wir müssen nichts über sie wissen – und doch können wir den objektiven Sinnzusammenhang verstehen, in dem das geschieht: Der Ruf und seine Herkunft aus dem Fluss genügen dafür. Das ist, was Mannheim als den objektiven Sinn bezeichnet. Dieser objektive Sinn ist aus der Perspektive einer immanenten Betrachtung zu erhalten: Das Subjekt erkennt den Sinn und identifiziert ihn, es geht im Sinngehalt gleichsam auf. Anders steht es dagegen mit der zweiten Sinnschicht, die Mannheim den intendierten Ausdruckssinn nennt. »Diese zweite Art von Sinn ist im Unterschiede von der ersten dadurch charakterisiert, dass sie keineswegs jene Ablösbarkeit vom Subjekt und dessen realen Erlebnisstrom besitzt, sondern nur darauf bezogen, nur aus diesem ›Innenweltbezug‹ heraus ihren völlig individualisierten Sinn erhält.«69 So könnte es sein, dass ich die Person, die »Hilfe!« ruft, kenne und weiß, dass sie nicht schwimmen kann. Der Ausdruckssinn stellt den Bezug des Erfahrenen [102]zu den Erlebnissen und Intentionen des Produzenten her, durch die wir dann das Ausgedrückte (den Hilferuf) deuten. Daneben weist jedes Kulturgebilde noch eine dritte Sinnschicht auf, die Mannheim die dokumentarische Interpretation nennt: Im Mittelpunkt steht hier nicht das, was die Person ausdrücken wollte oder was der Ausdruck, den sie verwendet, bedeutet, sondern das, was sie sozusagen unbeabsichtigt noch mitteilt: Ihre Miene, ihre Gebärden, ihr Sprachrhythmus – ihr gesamter »Habitus«.70 Durch die Tat dokumentiert sich etwas, das von der Person gar nicht beabsichtigt sein muss. Das, was sich hier dokumentiert, kann sehr allgemeine Züge tragen: Es kann vom kulturellen und sozialen Hintergrund der Person zeugen, der sich in ihrer Handlung ausdrückt: ihre Sprache, ihr Akzent, ihr Dialekt usw.

Eine solche dokumentarische Interpretation lässt sich nicht nur auf eine einzelne Handlung, sondern auch auf andere Kulturgebilde anwenden. So zeigt Mannheim am Beispiel der bildenden Kunst, wie sich hier im einzelnen Werk ein Umfassenderes ausdrücken kann: In Pinselstrich, Grundierung oder Farbenführung kann sich der ganze Stil einer Klasse, einer Kultur, einer Epoche dokumentieren. Das Kulturgebilde kann das Dokument eines »Kunstwollens« sein; haben wir es aber mit einer Handlung zu tun, so kann sie als Dokument einer Wirtschaftsgesinnung angesehen werden. Aus der anderen Perspektive betrachtet: Diese allgemeinen gesellschaftlichen Formen finden ihren Niederschlag in dem einzelnen Kulturgebilde. Kulturerscheinungen haben also jenseits des Bewusstseins der einzelnen Individuen einen Sinn, der sich aus ihrem Zusammenhang und ihren wechselseitigen Verweisungen ergibt.71

Abb. 9: Drei Arten des Sinns nach Mannheim

[103]Die dokumentarische Interpretation setzt entweder eine verdeckte Intention oder ausgebaute soziohistorische Deutungszusammenhänge voraus. Genau diese Verbindung stellt das Zentrum der Mannheimschen Wissenssoziologie dar, die in gewisser Weise die Stilanalyse der Kulturgebilde auf Wissen, Denken und Weltanschauungen übertrug.72

Wie Sinn von Kulturobjekten etwas anderes dokumentiert, geht Mannheim auch in seiner Wissenssoziologie davon aus, dass sich im Wissen das soziale Sein dokumentiert. Besonders deutlich wird das an seinem Begriff der Ideologie, der sich sehr stark von dem der herkömmlichen Ideologienlehre unterscheidet. Mannheim geht davon aus, dass soziale Gruppen »so intensiv mit ihren Interessen an eine Situation gebunden sein können, dass sie schließlich die Fähigkeit verlieren, bestimmte Tatsachen zu sehen, die sie in ihrem Herrschaftsbewusstsein stören könnten.«73 Aus dieser Situationsgebundenheit entsteht die Ideologie. Unter Ideologie versteht Mannheim also, dass Ideen nicht einen Sinn aus sich heraus haben, sondern aus der Perspektive derer, die sie verwenden, betrachtet werden müssen. Ideologie ist jedoch keineswegs mehr nur ein Begriff der sozialwissenschaftlichen Beobachter. Vielmehr ist der Begriff in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen selbst am Werke: Es sind die gesellschaftlichen Gruppen selbst, die sich gegenseitig unter Ideologieverdacht stellen. Das Besondere an Mannheims Begriff der Ideologie besteht darin, dass es sich hier nicht mehr um etwas handelt, das, wie noch bei Marx, hinter den Köpfen der Leute wirkt. Ideologien werden nicht nur von den Wissenssoziologen, sondern von den Leuten selber gemacht.

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