Wissenssoziologie

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Als wertrationales Handeln bezeichnet Weber jenes Handeln, das sich an bestimmten gesellschaftlichen Werten orientiert (Freiheit, Frieden, Rettung, Tugend, Schönheit), deren Verfolgung zu sehr deutlichen Abweichungen von einer zweckrationalen Mittelabwägung führen kann. Werte werden auch verfolgt, wenn sie nicht zweckmäßig sind. Das wertrationale Handeln fällt also aus dem ökonomischen oder »logischen« Raster heraus. Denn das ethische wertrationale Handeln setzt die soziale Anerkennung gewisser Werte in bestimmten Gemeinschaften voraus, an denen es sich orientiert.

[81]Aus dem Raster des ökonomischen Handelns fällt auch traditionales Handeln, das ausschließlich im Leben einer Gemeinschaft verankert ist. Traditionales Handeln ist ein Handeln, das auf Gewohnheiten und Gewohnheitswissen beruht. Dieses Handeln braucht keineswegs einer expliziten Überlegung zu entspringen, sondern folgt den historisch eingespielten Mustern in Gemeinschaften.

Eine letzte Form ist ein, wenn man so will, kaum von Wissen gesteuertes Handeln, das affektuelle Handeln. Es geht hier um Handlungen, die von den Affekten und Gefühlen der Handelnden geleitet sind. Affektuelles Handeln kann am ehesten mit den »Trieben« verglichen werden kann, die in den irrationalen Ansätzen genannt wurden. Wissenssoziologisch ist es ein Grenzfall des Handelns, da er mit so wenig Wissen wie nur denkbar vorgestellt werden muss.

Die handlungstheoretische Vorgehensweise von Webers »sinnverstehender Soziologie« reibt sich nicht nur mit dem Idealismus einer reinen Geisteswissenschaft, die nur verstehen will. Sie steht auch in Konflikt mit dem materialistischen Bild der Gesellschaft, wie es vor allem von Marx entworfen wurde. Denn Marx hatte ja etwa am Beispiel der Religion zu zeigen versucht, wie das Wissen von den Gesetzen des materiellen Seins bestimmt werde. Wie oben schon erwähnt, behaupteten die so genannten »Vulgärmarxisten« sogar, dass Denken vollkommen von den wirtschaftlichen Verhältnissen determiniert sei. Die Ideen spiegelten nur die ökonomische Situation wider, und die herrschende Religion des Christentums legitimiere deswegen nur die Interessen der herrschenden Klasse und vernebele die ›wirklichen‹ Interessen des arbeitenden Volkes. (Marx selbst war, wie wir wissen, etwas differenzierter.)

Die wissenssoziologisch einschlägigen Aspekte der Weberschen Arbeiten werden nun gerade in seiner Auseinandersetzung mit den zu seiner Zeit gängigen marxistischen und vulgärmarxistischen Vorstellungen deutlich, die um das Basis-Überbau-Modell kreisen. Weber wollte zeigen, dass »Ideen« nicht einfach von der Wirtschaft determiniert werden, dass das Ideelle nicht einfach eine Widerspiegelung der materiellen Verhältnisse sei. Die Ideen haben selbst einen Einfluss auf das wirtschaftliche Handeln.

Es ist bezeichnend, dass auch Max Weber das Verhältnis von Ideen und Wirklichkeit am Beispiel der Religion behandelt. Wie für Durkheim ist auch für Weber die Religion der klarste Ausdruck eines mehr oder weniger »reinen« Wissenssystems. Zudem lässt sich die sozialstrukturelle Bedeutung der Religion vorzüglich historisch rekonstruieren.37

Im Mittelpunkt seines Vergleichs zwischen antikem Judentum, Christentum, Buddhismus, Hinduismus, Taoismus und anderen Weltreligionen stand die Frage nach der »Sonderentwicklung« des christlichen Abendlandes, in der eine eigenartige Form des Kapitalismus, der Wissenschaft, der Musik und anderer Kulturbereiche entstanden war. Diese Form charakterisiert er als moderne Rationalisierung, die für ihn eine besondere gesellschaftlich-geschichtliche Ausprägung der Vernunft darstellt. Eine dieser Besonderheiten der abendländischen Entwicklungen ist die Ausbildung [82]dessen, was er die rationale Form des Kapitalismus nannte. Es war schon seit langem zu beobachten gewesen, dass sich der westliche Kapitalismus weitaus leichter mit dem Protestantismus verband als mit dem Katholizismus. Protestantische Länder waren ökonomisch erfolgreicher, Protestanten hatten durchschnittlich einen höheren Kapitalbesitz, waren weitaus mehr in Führungspositionen von Unternehmen zu finden und maßen der Arbeit einen höheren Wert zu als Katholiken.

Wie, so fragte sich Weber, kam es dazu? Denn in der Antike wurde die Arbeit noch gering geachtet, die Griechen hassten sie sogar. Erst seit dem Anfang der Neuzeit war im Abendland – und hier eben besonders ausgeprägt unter Protestanten – eine völlig im Kontrast dazu stehende ›Arbeitswut‹ aufgekommen. Sie war mit dem Willen verbunden, den erarbeiteten Reichtum nicht zu verprassen, sondern so zu verwenden, dass sich noch mehr Reichtum ansammelt (daraus also ›Kapital‹ zu schlagen). Um diese Einstellung zu verstehen, betrachtete Weber einen mustergültigen historischen Fall aus der Frühzeit des westlichen Kapitalismus. Dabei fand er die in seinen Augen typische Orientierung, die er als Geist des Kapitalismus bezeichnete: »Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse bezogen.«38

Dieser Geist ist jedoch nicht der eines raffgierigen, protzenden Kapitalismus, der seinen Reichtum zur Schau stellt. Vielmehr weist der kapitalistische Geist im Abendland geradezu asketische Eigenarten auf, denn er sieht sein Ziel im Erwerb von Geld als einen Selbstzweck, der keine unnötigen Ausgaben für Genuss vorsieht. Die Vermögensanhäufung und Erschließung neuer Kapitalquellen ist dem rationalen Kapitalismus die wesentliche Berufspflicht. Um dieses Ziel zu erreichen, verlangt der Geist des Kapitalismus nicht nur aktives, sondern auch rationales Handeln: Doppelte Buchführung und das Rechnungswesen etwa dienen dazu, den ökonomischen Austausch berechenbar und sein Schicksal kalkulierbar zu machen. (Weber spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »ökonomischen Rationalismus«.)

Wessen Kind, so fragte sich Weber, ist dieser Geist? Als geistige Quelle kam der Katholizismus kaum in Frage. Zwar war ihm die kapitalistische Praxis nicht fremd, doch vertrat er das Zinsverbot (das – mit langfristigen Folgen – nicht für Juden galt) und konnte ein so rigides Erwerbsstreben nicht eigentlich begründen.

Eine Ausnahme bildete lediglich das mittelalterliche Mönchstum. Denn schon im Mittelalter hatte sich hinter den Klostermauern das erste methodisch lebende ›Berufsmenschentum‹ des Abendlandes ausgebildet, das seine Zeit streng kontrollierte, diszipliniert war und sein Leben systematisch organisierte.39 Der Berufsgedanke im Sinne der Berufung ist aber ein Produkt der Reformation. Reformation meint hier weniger die Luthers, dessen Vorstellungen in dieser Hinsicht fast noch so traditionalistisch [83]wie die der Katholiken blieben: Der Mensch arbeitet, um zu leben. (Im Sinne seiner Handlungstheorie versteht Weber hier unter Traditionalismus eine allgemeine Handlungsorientierung, die hier auch im religiösen Handeln auftritt, die das täglich Gewohnte als unverbrüchliche Norm für das Handeln nimmt und deswegen auch an herkömmlichen Autoritäten hängt.) Die besondere Betonung des Berufs findet sich deutlich ausgeprägt im Calvinismus und den puritanischen protestantischen Sekten, in denen Weber das fand, was er als die protestantische Ethik bezeichnete.

Als Grundlage dieser Ethik dient im Falle des Calvinismus die Prädestinationslehre, derzufolge das menschliche Leben keinen anderen Sinn hat als den der Verherrlichung Gottes. Gott erscheint dabei als so allmächtig und allwissend, dass er durch keine unserer Handlungen beeinflusst werden kann. Gott weiß nicht nur Vergangenheit und Zukunft, er weiß auch, wer errettet wird. Schon vor der Geburt ist für jede Person bestimmt, ob sie in den Himmel kommen oder in der Hölle enden wird. Kein Rosenkranz, keine Beichte und kein Almosen kann ihr helfen. Selbst gute Werke nutzen den Nichtauserwählten wenig. Gute Werke sollten ohnehin alle vollbringen, ob sie nun auserwählt sind oder nicht.

Scheint es zunächst rätselhaft, wie diese schier fatalistische Prädestinationslehre als Grundlage für den Geist des Kapitalismus dienen sollte, so betont Weber gerade mit dem Begriff der Ethik ja nicht die Lehre, sondern ihre Folgen für das praktische Handeln. Die Prädestinationslehre stellt die Menschen im Alltagsleben nämlich vor das Problem: Wie kann ich wissen, ob ich zu den Auserwählten gehöre? Woran sollte ich das erkennen? Als Zeichen, so mutmaßten die Calvinisten, müsste der materielle Erfolg dienen. Denn wie ein kranker Baum keine Früchte trägt, so müssten auch die Nichtauserwählten im Leben erfolglos bleiben. Wer dagegen fleißig seiner Berufung folgt und dabei Erfolg hat, der sollte dies doch als Zeichen seiner Erwähltheit verstehen dürfen! Die Prädestinationslehre, für die das diesseitige Leben keine Rolle spielt, hat somit zur Konsequenz, dass die Calvinisten hart arbeiteten, ihr Geld wieder investierten und den daraus entstandenen Wohlstand als Symbol für ihre Erwähltheit sahen. Der Gedanke der notwendigen Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben »gab damit den breiten Schichten der religiös orientierten Naturen den positiven Antrieb zur Askese«.40 Die Prädestinationslehre führt also zu dem, was Weber die aktive oder innerweltliche Askese nennt, also eine Askese, die auf Handeln in dieser Welt zielt.

Um den Erfolg zu sichern, wird diese Form der aktiven oder innerweltlichen Askese mit einer besonderen Rationalität verbunden: der rationalen Planung und systematischen Organisation dieses Handelns. Eingebaut in ein religiöses System, bezieht es sich auf die gesamte Lebensführung, die nun systematisch beobachtet und geplant wird. Dies wird etwa deutlich im religiösen Tagebuch, in dem die in der Gnade gemachten Erfolge eingetragen wurden, und zwar oft in Gestalt einer gewissermaßen [84]tabellarisch-statistischen Buchführung des Lebens. Hervorzuheben ist dabei, dass diese Planung und Kontrolle des Lebens nun von der Person selbst ausgeübt wird. Aus dem Versuch der individuellen Bewährung folgt also der Antrieb zur methodischen Kontrolle des eigenen Gnadenstandes in der Lebensführung.

 

Um die Besonderheit des calvinistisch geprägten Denkens hervorzuheben, ist eine kontrastierende Gegenüberstellung zum Katholizismus nützlich, wie sie Stark vorgenommen hat:41

Abb. 4: Katholizismus und Calvinismus

Von dieser protestantischen Ethik zum Geist des Kapitalismus ist noch ein weiterer Schritt nötig: In dem Maße, wie die rationale und gezielte Arbeit zur Anhäufung innerweltlicher Güter als Zeichen des Gnadenstandes zur Selbstverständlichkeit wird, bedarf sie der religiösen Legitimation durch die theologischen Lehren nicht mehr (mit denen sie ohnehin nur sehr mittelbar verbunden ist). Damit löst sich die protestantische Ethik sozusagen von ihren religiösen Wurzeln. »Mit zunehmendem Einströmen in den Alltag und in die Massenreligiosität wird der düstere Ernst der Lehre immer weniger ertragen, und als caput mortuum blieb schließlich im okzidentalen asketischen Protestantismus jener Beitrag zurück, den speziell auch diese Gnadenlehre in der rational kapitalistischen Gesinnung: dem Gedanken einer methodischen Berufsbewährung im Erwerbsleben, als Einschlag zurückgelassen hat.«42 Der reine Gelderwerb konnte nun mit einem »pharisäisch guten Gewissen« betrieben werden, ohne dass er noch mit einem ›höheren‹ religiösen Sinn verbunden werden musste: Aus der protestantischen Ethik war der »Geist des Kapitalismus« geworden. Jetzt erst ist auch die »reine« Form des zweckrationalen Handelns möglich.

An der »protestantischen Ethik« entzündete sich eine heftige Debatte, die von einiger wissenssoziologischer Relevanz ist, da sie die Frage der Korrelation thematisiert.43 Vor allem von marxistischer, materialistischer Seite wurde Weber nicht nur [85]der Vorwurf einseitiger historischer Datenauswahl gemacht; zudem hielt man ihm vor, seine Betonung der Rolle religiöser Ideen sei einseitig. (Wie bedeutsam diese Auseinandersetzung war, lässt sich schon daran erkennen, dass die Auseinandersetzung unter dem Titel der »Protestantismus-These« bis heute anhält.) Warum, so konnte nämlich gefragt werden, ist denn der Kapitalismus im halb-protestantischen England so erfolgreich, während er sich im stärker calvinistischen Schottland weitaus langsamer entwickelte?

Allerdings war sich Weber selbst des Bezugs auf das Basis-Überbau-Problem bewusst; er räumte wohl ein, dass er in seiner Protestantismus-Studie lediglich eine Seite der »Kausalbeziehung«44 hervorgehoben und den Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung auf das Schicksal der religiösen Gedankenbildung vernachlässigt hatte. Schottland mag also über die geistigen Voraussetzungen der Entwicklung zum Kapitalismus verfügt haben, doch fehlten entscheidende ökonomische und soziale Voraussetzungen, wie etwa ein entwickeltes Finanzsystem, Kommunikations- und Transportmöglichkeiten, ein entwickeltes Rechtssystem usw. Schon in der »Protestantischen Ethik« hatte Weber angekündigt, dass er diesem Problem, wie sich die »gegenseitigen Anpassungsvorgänge und Beziehungen beider gestaltet haben«, später nachgehen wollte.45 Tatsächlich machte er sich auch in einem breit angelegten Vergleich, der »Wirtschaftsethik« der Weltreligionen, daran, »beiden Kausalbeziehungen so weit nachzugehen, als notwendig ist, um die Vergleichspunkte mit der weiterhin zu analysierenden okzidentalen Entwicklung zu finden.«46 Mit dem Ziel, die Sonderentwicklung des Westens hin zu einer entzauberten rationalisierten Kultur zu erklären, verglich er die Weltreligionen, d.h. für ihn die fünf großen und religiös bedingten Systeme der Lebensreglementierung, welche besonders große Mengen von Bekennern um sich zu scharen gewusst haben: die Ethik des Konfuzianismus, des Hinduismus, des Buddhismus, des Christentums und des Islam. (Ein geplantes Kapitel über den Islam blieb unvollendet; dafür enthält die Untersuchung eine breite Darstellung des antiken Judentums, das ihm gewissermaßen als Vorstufe der abendländischen Entwicklung gilt.) Diesem (unabgeschlossenen) Werk können wir hier nicht einmal in groben Zügen gerecht werden. Es sollen nur einige für das Verständnis der wissenssoziologischen Aspekte von Webers Werk wichtige Merkmale hervorgehoben werden.

Dazu zählt, dass Weber in der Entwicklung der verschiedenen Kulturen bestimmte Züge findet, die einander sehr ähneln. Dabei setzt er in allen Fällen mit der anfänglichen Entstehung der jeweiligen Zivilisation ein, ohne auf deren Wurzeln näher einzugehen. Die Entwicklung dieser Zivilisationen bewegt sich dann zu verschiedenen Zeiten durch dieselben Stadien. Dabei durchläuft jede dieser Zivilisationen eine feudale Periode, in der sich ein je unterschiedlich gearteter Adelsstand vom [86]jeweiligen Bauernstand absetzt. Das sich danach ausbildende Händlertum führt zur Verstädterung der Kultur. Ist der Beginn der kulturellen und religiösen Entwicklung durch Zauber und Wunder charakterisiert, so hat die Verstädterung die Ausbildung von Märkten, einer Schicht von Gebildeten und einer Bürokratie zur Folge. Die städtischen Institutionen können sich schließlich bis zu jenem Punkt entwickeln, der Webers Gegenwart bildet.

Im Fokus dieser historischen Betrachtungen steht die »Wirtschaftsethik«. Mit diesem Begriff macht er klar, dass es ihm bei der Betrachtung der Religion nicht um die theologischen Lehren geht, sondern um die das wirtschaftliche Handeln leitenden Motive, deren Ursprünge er in den psychologischen und pragmatischen Zusammenhängen der Religionen sucht. Zur Analyse der jeweiligen Wirtschaftsethik zieht er nun auch die ökonomischen, geographischen und vor allem sozialen Verhältnisse heran. In seiner Untersuchung des Konfuzianismus erörtert er zum Beispiel die »soziologischen Grundlagen der chinesischen Gesellschaft«: Er stellt die große Rolle der Städte heraus, die Bedeutung des Binnenhandels und der Geldwirtschaft. Dadurch kann er zeigen, dass sich in China zwar ein »innenpolitischer Beutekapitalismus« entwickelt hatte.47 Trotz der Vermehrung des Edelmetallbesitzes und des enormen Bevölkerungswachstums war es jedoch nicht zu einem rationalistischen Kapitalismus westlicher Prägung gekommen. Die Ursache dafür sieht er auch hier in sozialstrukturellen Tatbeständen: im Charakter der chinesischen Stadt, die mehr Fürstenresidenz als Markt gewesen sei, und in der tragenden Bedeutung, die die chinesische Gesellschaft der Sippe zuschrieb. Die Entwicklung eines rationalen Kapitalismus wurde aber ebenso aus religiös-weltanschaulichen Gründen verhindert, denn die Kaufleute mussten sich an einem magischen Taoismus orientieren, weil der von einem spezialisierten Literatenstand getragene Konfuzianismus für sie kaum zugänglich war.

Weber folgt in seiner Argumentation nicht einem simplen sozialstrukturellen Determinismus: Die Ausbildung der Rationalität ist keineswegs nur von der Ausbildung von Städten, dem Bedeutungswachstum des Bürgertums und der Schwächung zentraler politischer Autoritäten abhängig. Vielmehr stellt sich für Weber immer auch die Frage: Welche Lebensorientierung vermittelt die Religion, wie etwa der Konfuzianismus? Bei aller Hochachtung vor den intellektuellen Leistungen des Konfuzianismus als einem »Rationalismus der Ordnung« lautet Webers Antwort, dass der Konfuzianismus doch nie eine sozial machtvolle Prophetie entwickelt und nie nach der besonderen religiösen Qualifikation gefragt hatte. Im Grunde ist der Konfuzianismus eine »innerweltliche Laiensittlichkeit«, die Anpassung an die Welt, ihre Ordnung und Konventionen verlangt.

Wie schon in der Protestantismus-Studie beschäftigt sich Weber aber auch hier nicht mit der direkten Bedeutung religiöser Lehren, sondern damit, welche Orientierung der Konfuzianismus vermittelt. Die soziologische Rolle der Religion liegt also [87]nicht in ihrer Theologie, sondern darin, »was im praktischen Leben der Gläubigen geltende Moral« ist, »wie also die religiöse Orientierung der Berufsethik praktisch wirkte«.48 Die jeweilige Ethik einer Religion ist nicht Teil ihrer »Lehre«. Sie ergibt sich vielmehr daraus, dass die Lehre aus der Perspektive der im Alltag Handelnden betrachtet wird, in ihre typischen Handlungspläne eingebettet wird und damit die »letzten Werte« für Handlungsorientierungen begründet.

Die Größe, auf die sich die untersuchten »Kausalfaktoren« auswirken, besteht also in den Handlungsorientierungen der Menschen. Dabei sollte beachtet werden, dass Weber hier nicht einzelne, individuelle Orientierungen im Sinn hat. Auch wenn er häufig Einzelfälle betrachtet, so versucht er, das daran Typische herauszustellen. Dabei achtet er einmal auf die typischen Interessen sozialer Gruppen, die sich aus ihrer Lage in der jeweiligen sozioökonomischen Struktur und den daraus resultierenden Anforderungen für ihre Lebensführung ergeben. Diese Interessen können sich dann mit bestimmten »wahlverwandten« religiösen Lehren verbinden, die Handelnden eine typische Orientierung geben. So wurde das Christentum, das anfangs die »Lehre wandernder Handwerksburschen« war, in den Zeiten seines Aufschwunges eine städtische, bürgerliche Religion. Und die Orientierungsleistung der protestantischen Ethik hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass die Prädestinationslehre aus der Perspektive bürgerlicher Mittelschichten betrachtet wurde, die die Möglichkeit zur freien Berufsarbeit, zur Selbstkontrolle und die Neigung zum Handel hatten. Deswegen konzentriert er sich auch in der Untersuchung anderer Religionen auf die Lebensführung derjenigen sozialen Schichten, die die praktische Ethik der jeweiligen Religion am stärksten beeinflussten: Der Konfuzianismus ist im Grunde die Standesethik einer literarisch gebildeten Führungsschicht, insbesondere der der Mandarine. Trägerschicht des Hinduismus sind vedisch gebildete Brahmanen, eine erbliche Kaste literarisch Gebildeter. Der Buddhismus wird von wandernden Bettelmönchen getragen. Der Islam zählte in seinen Anfängen kriegerisch-welterobernde Glaubenskämpfer zu seiner Trägerschicht, neben die im islamischen Mittelalter das ›Bruderschaftswesen des Kleinbürgertums‹ trat. Und das Judentum, ursprünglich die Religion eines »Pariavolkes«, wurde seit dem Mittelalter von einer literarisch-ritualistisch geschulten Intellektuellenschicht geprägt.

Weber ging also nicht schlicht davon aus, dass die Eigenart der jeweiligen Religiosität eine Folge der sozialen Lage derjenigen sozialen Gruppen ist, die als Trägerinnen dieser Religion auftreten, dass sie also nur eine Ideologie oder Widerspiegelung ihrer materiellen Interessenlagen sei. (Es scheint, als habe Weber auch den Begriff der »Träger« von Ideen, Weltanschauungen und Wissen geschaffen.) Seiner Auffassung nach hat die jeweilige Trägerschicht zwar Folgen für die Religion, andererseits aber üben Religionen ihren Einfluss auch auf sehr heterogene Schichten in jeweils unterschiedlicher Art aus. »Interessen (materielle und ideelle) nicht: Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: Die ›Weltbilder‹, welche durch [88]›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte. Nach dem Weltbild richtete es sich ja: ›wovon‹ und ›wozu‹ man erlöst sein wollte – und nicht zu vergessen – konnte.«49 Die Ideen und die pragmatischen Handlungsbedingungen stehen nicht in einem Verhältnis der Logik, wie bei Paretos logischen Handlungen, sondern in einem Verhältnis der Sinnadäquanz: Die Idee der Menschenliebe kann sich in einer auf Leibeigenschaft aufbauenden Gesellschaft nur partiell verwirklichen.

Abb. 5: Zusammenhang zwischen religiöser Lehre und sozialer Lage (Max Weber)

So sehr das Verhältnis zwischen Ideen und sozialen Trägern einer Korrelation gleicht, so sehr ist Weber doch bemüht, beide Ebenen miteinander in eine Beziehung zu setzen. In der Tat kommen beide Ebenen in der Lebensführung und im Handeln zusammen. Dieser Zusammenhang zwischen (religiösem) Wissen und sozialen Strukturen gilt nicht nur im groben Vergleich der Kulturen, sondern auch innerhalb der Kulturen. Die Lebensführung ist vor allen Dingen an die Arbeitsweise der jeweils Betroffenen gebunden. Das Bauerntum etwa zeichnet sich durch eine traditionelle Religiosität aus, die vor allem von der Bedrohung durch die Natur geprägt ist. Bauern neigen deswegen zu magischen Praktiken. Je stärker eine Kultur vom Bauerntum geprägt ist, umso mehr widersteht sie einer ethischen Rationalisierung. Ganz anders dagegen ist die Religion der Kaufleute, die eine diesseitige Denkweise pflegen und deswegen zu einer rationalen ethischen Gemeindereligiosität neigen. Auch mystische Formen treten bei ihnen auf. Der nüchterne Rationalismus [89]zeichnet das Beamtentum aus, während die Handwerker die größten Gegensätze kennen. In all diesen Fällen scheint es für Weber eine deutliche Korrelation zwischen der religiösen Orientierung und der Art der Tätigkeit der Betroffenen zu geben, die wiederum mit ihrer sozialen Lage aufs Engste verknüpft ist.

 

Aufgrund der beschriebenen Entwicklung stehen jedoch die modernen Gesellschaften unter dem Druck der zunehmenden Rationalisierung. Unter Rationalisierung versteht Weber nicht mehr das Fortschreiten der Vernunft, wie Hegel es getan hatte. Rationalisierung beinhaltet für ihn Prozesse der Bürokratisierung, der Spezialisierung von Wissen und dessen zunehmender Strukturierung, die dem Individuum keineswegs nur zu Gute kommen müssen. Die Rationalisierung ist verknüpft mit einer zunehmenden Entzauberung: Immer mehr Lebensbereiche der Menschen werden den magischen und religiösen Deutungen entzogen und der rationalen Systematisierung, Beobachtung und Kontrolle unterworfen – es kommt zu einer zunehmenden zweckrationalen Kontrolle über Natur, Gesellschaft und Kultur.

Eine solche Entwicklung skizziert Weber sehr anschaulich an der Musik. Westliche Musik zeichnet sich durch zwei Elemente aus: Ihre systematische Rationalität steht in dauernder Spannung zu ihrer Melodik. Die Rationalisierung der Musik bedeutet eine technische und soziale Transformation. Die sozialen Veränderungen betreffen die sozialen Gruppen der Musiker, Komponisten und Instrumentenbauer. Die technischen Veränderungen beinhalten die Verfeinerung der Resonanzkörper, die die Grundlage für die modernen Streichinstrumente darstellen. Diese Veränderungen gehen zum einen auf praktische Entwicklungen zurück, wie etwa die Erzeugung einer standardisierten Notation. Auf der anderen Seite hängen sie mit sozialen Faktoren zusammen. In Ermangelung eines Marktes war das Kloster lange Zeit der einzige Ort, an dem eine systematische Entwicklung stattfinden konnte. Hier wurde die Orgel eingesetzt und im Rahmen der religiösen Wissensproduktion verfeinert: Um 1200 umfasste sie drei Oktaven; im 13. Jahrhundert gab es theoretische Abhandlungen darüber, und um 1400 spielte sie eine zentrale Rolle in allen (nun ins Zentrum rückenden) Kathedralen. Der kontrollierte Einsatz des Blasebalgs eröffnete dann die Möglichkeit der Kombination mit polyphonen Stimmen. Das hat damit zu tun, dass die Konstrukteure von Orgeln auch diejenigen waren, die sie spielten. Allerdings war die Orgel Teil einer kirchlichen Tradition, in der die Experten spielten. Dies wurde in dem Maße bedeutungslos, wie die Laien selbst in den Vordergrund traten (im Protestantismus). Mit der Befreiung von der Gildenorganisation im 16. Jh. lösten sich die Musiker von der kirchlichen Bindung. Die Einrichtung musikalischer Rollen an den Höfen führte zum Ausbau musikalischer Funktionen in Orchestern. Hier fand der nächste Schub der Rationalisierung statt: Die standardisierten Streichinstrumente entstanden. Schließlich löst das Klavier eine Innovationswelle aus: Sie macht die Musik zugänglich für die bürgerlichen Mittelklassen, die zur weiteren Rationalisierung der Musik wesentlich beitragen.

Die Rationalisierung beschränkt sich keineswegs auf die Musik, sondern macht sich in den unterschiedlichen »Wertsphären« – und zwar durchaus unterschiedlich stark – [90]bemerkbar. (Wertsphären nennt Weber die verschiedenen, jeweils eigene Werte verfolgende Institutionsbereiche). Diese Rationalisierung weist jedoch nicht mehr nur die Fortschritts-optimistische Seite des Comteschen positiven Zeitalters auf; auch die Hoffnung auf eine Gesellschaft der Vernunft Hegels oder der kommunistischen Gesellschaft teilt Weber nicht mehr. Er befürchtet vielmehr die Heraufkunft einer Gesellschaft, die durch eine immer bessere Bürokratie alle Aspekte des menschlichen Lebens unter die Fuchtel der nüchternen Kontrolle stellt und sie nur noch als spezialisierte Fachmenschen auf ein Sonderwissen reduziert, das keinerlei transzendente Tiefe mehr aufweist. So bedenklich diese Rationalisierung auch scheint, erst sie scheint jenes »reine« Wissen zu schaffen, das keinen Glauben mehr braucht.


Die deutsche Wissenssoziologie

Der Begriff der Wissenssoziologie wurde 1909 vom schon erwähnten österreichischen Soziologen Jerusalem geprägt, der damit den Neo-Kantianismus und den Positivismus miteinander versöhnen wollte. 1921 sprach auch Max Scheler von der »Soziologie der Erkenntnis«.50 1924 gab er dann einen Sammelband heraus, der die Wissenssoziologie im Titel führte und sich die systematische Erforschung der Produktion, Verteilung und Aneignung des Wissens zum Ziel setzte. Damit steht der Titel für eine Forschungsrichtung, die man als deutsche Wissenssoziologie bezeichnet. Es ist von einer deutschen Wissenssoziologie die Rede, weil ihre Autoren (allen voran Max Scheler und Karl Mannheim) in deutscher Sprache schrieben. Deutsch ist sie auch, weil sie den Stempel der besonderen Zustände der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg trägt. Zeichnete sich das ökonomisch beachtliche deutsche Bürgertum schon im Kaiserreich durch eine, im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien, schwache politische Position, so dass die Institution des Parlamentarismus und der Liberalismus nie recht heimisch wurden, so schwächte die Kriegswirtschaft die kleinen Handwerker, Bauern und Geschäftsleute nachhaltig. Der Mittelstand wurde deklassiert, so dass starke soziale Spannungen auftraten. Nach dem 1. Weltkrieg waren diese mit einer rapiden Vermehrung und Ausbreitung unterschiedlicher Weltanschauungen verknüpft, die sich sehr aggressiv entluden. Gleichzeitig breiteten sich die unterschiedlichsten kulturellen Strömungen aus, divergierende und konkurrierende literarische und künstlerische Stilrichtungen, die sich in der bewegten Weimarer Republik entfalten konnten.

Die Wissenssoziologie gilt als die Disziplin, die diese ideologische und politische Zerrissenheit thematisieren und überwinden helfen sollte. Man sieht diese Entwicklung schon an den Themenstellungen. Hatten Durkheim und Weber noch die Religion als Musterbeispiel der Wissenssoziologie behandelt, rückt diese allmählich (bei Scheler weniger, bei Mannheim sehr stark) in den Hintergrund. In den Vordergrund [91]treten dafür – neben den schon seit dem Historismus behandelten philosophischen Weltanschauungen – nun (vor allem bei Mannheim) die politischen Ideologien.

MAX SCHELER wurde als Philosoph für seine Arbeiten im Bereich der Phänomenologie und der philosophischen Anthropologie bekannt.51 Er ist hier aber als einer der Begründer der Wissenssoziologie hervorzuheben. Die Bedeutung der Wissenssoziologie für ihn ist daran zu erkennen, dass er hoffte, diese würde die klassische philosophische Erkenntnistheorie ersetzen. In seiner theoretischen Einführung »Versuche einer Soziologie des Wissens« setzte er die Wissenssoziologie deswegen neben die Erkenntnistheorie, die Logik und die Entwicklungspsychologie.

Wie Comte unterscheidet auch Scheler drei Hauptformen des Wissens: Religion, Metaphysik (worunter er philosophische und religiöse Denksysteme verstand, wie die von Buddha über Laotse, Platon bis zu Hegel und Marx) und Wissenschaft. Doch hatte Comte ja (wie später auch Durkheim) die positive Wissenschaft als die fortgeschrittenste Form des Wissens angesehen. Comtes Dreistadiengesetz zufolge stellt die Rationalität des Positivismus die endgültige und überlegenste Phase der menschlichen Geschichte dar, die auf die Phase der Philosophie, der Metaphysik und der Religion folgt. Religiöses Wissen ist für Comte die »primitivste« Form des Wissens, Wissenschaft die fortgeschrittenste und rationalste. Scheler nun greift diese positivistische Vorstellung an. Auch die Wissenschaft, so wendet er ein, ist keineswegs nur Inbegriff der Rationalität. Sie gründet vielmehr in einer irrationalen Form der Erkenntnis, die ihre Wurzel im Herrschaftsstreben hat. Diese Wurzel führt die Wissenschaft dazu, dass sie Natur nicht nur betrachten, sondern halten und erfassen will, das Objekt also zu fixieren sucht. In diesem Sinne ist die Wissenschaft von einem Herrschaftsstreben geleitet, das zur Lebensfeindlichkeit des gesamten westlichen wissenschaftlichen Denkstils beiträgt. Sofern sie von einem Herrschaftsstreben getrieben ist, liegt auch der Wissenschaft ein eigener Trieb zugrunde. Daraus folgert Scheler, dass die unterschiedlichen Erkenntnissysteme gleichwertig sind, da sie nur jeweils von unterschiedlichen Trieben geleitet werden. (Diese Vorstellung der Triebe wird weiter unten erläutert werden.) Ihre Gleichwertigkeit führt auch zur Gleichzeitigkeit: Es ist irrig anzunehmen, die Wissenschaft würde Religion und Metaphysik ersetzen. Vielmehr können die verschiedenen Erkenntnissysteme gleichzeitig existieren: Die Ankunft der Wissenschaft führt also nicht notwendig zum Ende der Religion oder der Magie.52 Religion, Metaphysik und die positiven Wissenschaften sind voneinander unabhängige und gleichwertige Formen, die nicht dasselbe Ziel verfolgen.