Wissenssoziologie

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Die Tragweite seines Ansatzes wie auch der anderer wissenssoziologisch relevanten Irrationalisten wird in jüngerer Zeit wieder sehr deutlich. Denn seit dem Ende der [64]1970er-Jahre breitet sich eine ausdrücklich irrationalistische Vernunftkritik sehr stark aus, die die Vernunft und den Glauben an rationales Wissen kritisch hinterfragt. Sie behandelt Wissen als etwas, dessen Anspruch auf Wahrheit soziale Gründe hat oder verortet ihre eigentliche Geltung in einer der rationalen Geltung nur bedingt zugänglichen Dimension des unausgesprochenen, selbstverständlichen, tradierten oder triebhaft verankerten Wissens.

1 Xenophanes aus Kolophon, in: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, Fragment 16. Xenophanes nutzt dieses Argument übrigens, um für den Monotheismus zu argumentieren.

2 Mit Montaigne beginnt die Einführung von Franco Crespi und Fabrizio Fornari, Introduzione alla sociologia della conoscenza, Rom 1998

3 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt 1985 (EA 1929). Francis Bacon, 22.1. 1561-9.4. 1626. Philosoph, Schriftsteller, Politiker (Mitglied des Parlaments) und Anwalt, hatte sich zu Karrierezwecken in den Dienst des Königshauses Elisabeths gestellt. 1621 wurde er aus allen Ämtern entlassen.

4 Francis Bacon, Neues Organon der Wissenschaften, Leipzig 1830, S. 32

5 Vgl. hierzu Gunter W. Remmling, Francis Bacon and the French Enlightment Philosophers, in: ders., Towards the Sociology of Knowledge, New York 1973, S. 47-59

6 Eine ähnliche Vorstellung wurde später unter dem Begriff der kognitiven Dissonanz formuliert: Dasjenige, was wir nicht erwarten, nicht wissen oder nicht wünschen, wird auch aus unserer Wahrnehmung ausgeblendet; vgl. Leon Festinger, Henry W. Riecken und Stanley Schachter, When Prophecy Fails, New York 1956

7 Bacon nach Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1961, S. 36

8 Eigentlich hieß Voltaire François Marie Arouet. 21.11.1694–30.5.1778. Er war Schriftsteller und Philosoph.

9 Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie 1, Reinbek 1976, S. 37

10 Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens, Stuttgart u. Wien 1953, S. 13

11 Vgl. Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. 2 Bde, Frankfurt 1978, Bd. 1, S. 61

12 Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, Frankfurt 1978 (EA 1770), S. 352

13 Baron Paul-Henry Dietrich d’Holbach (1723-1789) war ein französischer Philosoph deutscher Abstammung, der mit den wichtigsten Aufklärern (Rousseau, Diderot) in Kontakt war und an der Enzyklopädie mitarbeitete; vgl. Holbach, System der Natur, op. cit., S. 223ff u. 415ff

14 Ebd., S. 130f

15 Claude Adrien Helvétius, De L’esprit, Paris 1959, S. 140

16 Kurt Lenk, Problemgeschichtliche Einleitung, in: ders. (Hg.), Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Frankfurt u. New York 1984, 13-49, S. 19

17 Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, op. cit., S. 12

18 Claude-Adrien Helvétius (1715-1771) war französischer Philosoph sowie Freund von Voltaire und Montesquieu. Er wird sowohl von Nietzsche wie von Marx als prägend bezeichnet.

19 Barth, op. cit. 1961, S. 53

20 Werner Stark, The conservative tradition in the sociology of knowledge, in: Remmling, op. cit., S. 68-77. Fuhrman kennt hingegen nur eine kritisch-emanzipatorische und eine sozialtechnologische Wissenssoziologie. Ellsworth R. Fuhrman, The Sociology of Knowledge in America 1883-1915. Charlottesville 1980

21 Giovanni Battista Vico gilt als Rechts- und Geschichtsphilosoph. Er wurde 1668 in Neapel geboren und starb ebenda im Jahre 1744. Er war ab 1697 Professor für Rhetorik und wurde 1734 Historiograph König Karls von Neapel.

22 Wie Max Adler argumentiert, »hindert der scheinbar theologische Ausgangspunkt Vicos ihn ganz und gar nicht, das Prinzip der Kausalbestimmtheit als die eigentliche Methode seiner neuen Wissenschaft mit aller Entschiedenheit auszusprechen.« Max Adler, Die Bedeutung Vicos für die Entwicklung des soziologischen Denkens, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus XIV (1929), S. 280-304, S. 291

23 Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Nationen, Frankfurt 1981, S. 30

24 Seine Methode der inneren Analyse menschlicher Tatsachen erinnert in manchen Punkten an die Verstehensmethode Diltheys und gilt als einer der Ausgangspunkte für den Historismus, auf den wir später eingehen werden.

25 Diese Vorstellung beeinflusste auch Wilhelm von Humboldt und mit ihm eine lange Tradition in der Linguistik, die von der Prägung des Denkens durch die Sprache ausgeht. Eine neuere Variante dieser Vorstellung findet sich im Konzept der »linguistischen Ideologie«, das Michael Silverstein geprägt hat. Dabei handelt es sich um die in die Sprache eingeschriebenen sozialen Perspektiven, die im Gebrauch der Sprache wie eine Ideologie wirkten. Michael Silverstein, Language structure and linguistic ideology, in: P. Clyne, W. Hanks und C. Hofbauer (Hg.), The Elements: A Parasession on Linguistic Units and Levels. Chicago 1979, S. 193-247

26 Johann Gottfried von Herder wurde 1744 in Mohrungen geboren und starb 1803 in Weimar. Er war Dichter, Philosoph und Theologe, der vor allem für seine Sprach- und Literaturphilosophie bekannt wurde. Er übte einen starken Einfluss auf die Romantik aus.

27 Eine Folge dieses Gedankens war die Erforschung der Sprachentwicklung und ihrer Gesetze, aber auch die Suche nach volkstümlichem Erzählgut, wie es die Gebrüder Grimm etwa in den Märchen fanden. Dieser von Vico abgeleitete Herdersche Gedanke ist dann auch Teil der verschiedenen europäischen nationalistischen Bewegungen geworden, die damit die modernen Nationen »erfanden«; vgl. dazu auch Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität, Frankfurt u. New York 2004

28 Jean Duvignaud, Préface, in: ders. (Hg.), Sociologie de la connaissance, Paris 1979, S. 9

29 Widerspruch fand Condorcet besonders bei Saint Simon, der für Marx von Bedeutung werden sollte. Auch Saint Simon ging von einer Konstanz des Verhältnisses zwischen den sozialen Institutionen und den Ideen aus, hielt sie beide jedoch für gleichgewichtig. Die kollektiven Anstrengungen beziehen sich sowohl auf die Erzeugung materieller Güter wie auf die Erzeugung von Wissen und moralischen Lehren.

30 Antoine Nicolas Condorcet, Sketch of the Progress of the Human Mind, in: Peter Gay (Hg.), The Enlightment. A Comprehensive Anthology, New York 1973, S. 805

31 Auch Marx zitiert – wenigstens ein Mal – Vico, den er wohl aus Frankreich kannte.

32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde 1770 in Stuttgart geboren und starb 1831 in Berlin. Er hatte in Tübingen studiert und war Professor in Berlin.

33 Eine detailliertere Darstellung der Dialektik bietet Joachim Israel, Der Begriff Dialektik. Erkenntnistheorie, Sprache und dialektische Gesellschaftswissenschaft. Reinbek 1979.

34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg 1955, §260; hier wie in den folgenden Zitaten wurden die Kursivsetzungen Hegels nicht übernommen.

35 Hegels berühmter Satz »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« (aus der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. § 14) hat deswegen auch eine soziologische Bedeutung: Normen und Werte sind nicht mehr aus der Perspektive einer besonderen Gruppe zu erfassen (Staatsmänner, Gelehrte, Priester), sondern aus der Perspektive aller, die erkennen, dass sie diese Ordnung selbst erzeugt haben.

36 Ebd., § 270

37 Ebd., § 258

38 Auguste Comte wurde 1798 in Montpellier geboren und starb 1857 in Paris. Ursprünglich Mathematiker und Physiker, gilt er als einer der Begründer der Soziologie. Bekannt wurde er auch als Begründer des Positivismus, der jede Metaphysik ablehnt.

39 Später setzt der im Alter religiös gewordene Comte den Fetischismus mit der Theologie gleich.

40 Schon die Physiokraten hatten drei Klassen unterschieden, nämlich die »produktive Klasse«, die Klasse der Grundeigentümer und die »sterile Klasse«. Comte konnte sich vor allem auf die frühsozialistischen Lehren von Saint Simon (dessen Sekretär er war) stützen, der die Gesellschaft in Produzierende und Nichtproduzierende einteilte, wobei er die erste Kategorie als »Industrielle« bezeichnete.

41 Auguste Comte, Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, München 1973, S. 88

42 Raymond Aron, Hauptströmungen des klassischen soziologischen Denkens. Bd. 1, Reinbek 1979, S. 110

43 Comte, op. cit., S. 67

44 Aron, op. cit., S. 77

45 Denn für Comte hätten die wichtigsten Fortschritte des menschlichen Geistes von einem überlegenen Geist vorausgesehen werden können, da sie einer Art gottgegebenen Notwendigkeit folgen; Auguste Comte, Soziologie, Stuttgart 1974, S. 470f

46 Vgl. Peter Hamilton, Knowledge and Social Structure. An Introduction to the Classical Argument in the Sociology of Knowledge, London u. Boston 1974, Kap. 2 und 3

47 Ludwig Feuerbach wurde 1804 in Landshut geboren. Er studierte u.a. Philosophie bei Hegel. Er lehrte an verschiedenen Orten, erhielt jedoch – auch aufgrund seiner religionsphilosophischen Schriften – nie eine Professur und starb 1872 in der Nähe Nürnbergs.

48 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Bd. I, Berlin 1956, S. 51

49 Diese wissenssoziologischen Thesen sind, wie eingangs schon bemerkt, keineswegs Neuschöpfungen, sondern finden sich sogar schon bei den Vorsokratikern wie auch in anderen Fällen der internen oder externen Religionskritik. So meint etwa Xenophanes: »Doch wähnen die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme und Gestalt wie sie […] wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.« Xenophanes aus Kolophon, in: Diels, op. cit, S. 14f

 

50 Sinngemäß: Der Mensch ist des Menschen Gott.

51 Karl Marx kam 1818 in Trier in einer alten Rabbinerfamilie zur Welt. Er studierte Recht, Nationalökonomie und Philosophie in Berlin. Unter dem Einfluss von Feuerbach wandte er sich von Hegel ab. Während er seine Kritik der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entwarf, lebte er zunächst in Paris, dann in Belgien und schließlich in London, wo er auch im Jahre 1883 starb.

52 Friedrich Engels kam 1820 als Sohn eines pietistischen Textilfabrikanten bei Wuppertal zur Welt. 1844 begegnete er Karl Marx, den er später auch finanziell unterstützte.

53 In den »Pariser Manuskripten« entwickelte Marx den Begriff der Entfremdung, der für seine gesamte Wissenssoziologie zentral ist. Und hier bildet er seine Form des Materialismus aus, namentlich durch die Verbindung der idealistischen Philosophie mit den ökonomischen Vorstellungen von Kapital, Arbeit und Privateigentum. In der mit Engels gemeinsam verfassten »Deutschen Ideologie« nimmt er diese Argumente auf. Daneben entfaltet er eine langatmige Kritik an Bauer, Strauss und Stirner, die uns hier nicht zu interessieren braucht. Trotz der Hervorhebung der »Deutschen Ideologie« sollte man beachten, dass Marx im Laufe seiner Arbeit deswegen immer stärker die ökonomischen Aspekte in den Vordergrund hebt, weil er von ihnen eine wissenschaftliche Begründung seiner Thesen erhoffte.

54 Karl Marx und Friedrich Engels, Thesen über Feuerbach, in: Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 5f

55 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 27 u. S. 38

56 Diese Unterscheidungen trifft Jürgen Ritsert, Ideologie. Theoreme und Probleme der Wissenssoziologie. Münster 2002. Auch hinsichtlich des Ideellen unterscheidet er mehrere Bedeutungen: Darunter werden Handlungsregeln, Normen, schriftlich oder mündlich überlieferte Inhalte und schließlich Werte wie Wahrheit, Schönheit und Sittlichkeit verstanden.

57 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 29

58 Darunter fasst Marx diejenigen Kräfte, die in den Dienst der Produktion gestellt werden: körperliche und geistige Fähigkeiten der Menschen, Naturkräfte und -stoffe sowie die Kräfte, die aus der sozialen Anlage der Produktion resultieren.

59 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 31

60 Ebd.

61 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 47

62 Karl Marx und Friedrich Engels, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1982, S. 93

63 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 46

64 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 47

65 Ebd., S. 33

66 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Studienausgabe. Bd. 2: Geschichte und Politik, Frankfurt 1966, S. 34-121

67 Georg Assmann u.a. (Hg.), Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1977, S. 509

68 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 32

69 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 33. Eine detaillierte Darstellung der Entfremdung bietet Istvan Meszaros, Der Entfremdungsbegriff bei Marx, München 1973.

70 Wie leicht zu erkennen, knüpft Marx beim Gedanken des Fetischismus der Ware an die Religionskritik an, wie wir sie etwa von Holbach kennen: Hausgemachte Produkte der Menschen erscheinen ihnen als fremde Mächte, die sie in ihrer vermeintlichen Ohnmacht verehren.

71 Marx, Das Kapital. Bd. 1, op. cit., S. 85

72 Alexander A. Bogdanov, Die Entwicklungsformen der Gesellschaft und die Wissenschaft, Berlin 1924; Otto Bauer, Das Weltbild des Kapitalismus, in: O. Jenssen (Hg.), Der lebendige Marxismus. Jena 1924

73 Gunter W. Remmling, Marxism and Marxist Sociology of Knowledge, in: ders., op. cit., S. 135152, S. 143. Während sich die Positivisten vor allem auf die Spätschriften von Marx stützen, halten die »Historizisten« die Frühschriften in hohen Ehren.

74 Friedrich Nietzsche wurde 1844 in Sachsen geboren. Er studierte in Bonn und Leipzig klassische Philologie und wurde 1869 als außerordentlicher Professor an die Universität Basel berufen. 1889 erlitt Nietzsche einen Zusammenbruch und verbrachte die letzten elf Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 1900 in geistiger Umnachtung. Er kam zwar aus einem protestantischen Pfarrhaus, kritisierte das Christentum jedoch sehr heftig. Nietzsche schloss an den Arbeiten von Arthur Schopenhauer an, der in seiner »Kritik der Vernunft« anstrebt, die Vernunft aus ihrem religiöschristlichen Rahmen zu befreien.

75 Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt 2002, S. 24

76 Es ist zu bedenken, dass Nietzsche in seiner Auffassung der Erkenntnis auch vom Materialismus (in diesem Fall Friedrich Albert Langes) beeinflusst war, von dem er die Auffassung übernahm, dass unsere Sinnenwelt ein Produkt unserer körperlichen Organisation sei, so dass die Welt wie eine Art Black Box erscheint, die nur in ihren Wirkungen auf uns erkennbar sei.

77 Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, op. cit., S. 226

78 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Gesamtausgabe (hgg. v. G. Collin und M. Montinari), Berlin u. New York 1973, § 109

79 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, München 1973, S. 37 (§14)

80 Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: ders., Vom Umsturz der Werte, Bern und München 1972, S. 38

81 Vgl. dazu auch Horst Baier, Die Gesellschaft – Ein langer Schatten des toten Gottes, in: Nietzsche-Studien 10-12, S. 6-33

82 Barth, Wahrheit und Ideologie, op. cit., S. 218

83 Der Wille zur Wahrheit findet jedoch auch andere, weniger friedliche soziale Formen: als Eroberung und Kampf mit der Natur, als Widerstand gegen regierende Autoritäten und als Kritik des in uns Schädlichen.

84 Sigmund Freud (1856-1939), Wiener Arzt und Neurologe, ist der weltberühmte Begründer der Psychoanalyse, in der das Unbewusste in die psychologische Forschung und Therapie einbezogen werden sollte.

85 Sigmund Freud, Totem und Tabu. Gesammelte Werke. Bd. 9, Frankfurt 1968 (4. Aufl.), S. 81

86 Ebd., S. 91; Vgl. auch Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Gesammelte Werke 16, Frankfurt 1968 (3. Aufl.)

87 Sigmund Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen, in: Gesammelte Werke. Bd. 7, Frankfurt 1964 (4. Aufl.), S. 138f; unter einer Neurose versteht er eine krankhafte Fehlentwicklung des Seelenlebens, die durch unverarbeitete seelische Konflikte verursacht wird. In der Zwangsneurose äußern sie sich in Zwangsgedanken oder -handlungen.

88 Sigmund Freud, Werke aus den Jahren 1925-1931, in: Gesammelte Werke. Bd. 14, London 1948, S. 340

89 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Antiödipus, Frankfurt 1981

90 Vilfredo Pareto wurde als italienischer Staatbürger 1848 in Paris geboren und starb 1923 bei Genf. Er war Professor für Nationalökonomie in Lausanne und Mitbegründer der Lausanner Schule für Grenznutzen.

91 Vilfredo Pareto, Ausgewählte Schriften, München 1975, S. 121

92 Vilfredo Pareto, Trattato di sociologie generale, Mailand 1964, § 1397

93 Ebd., § 1400

94 Carlo Mongardini, Paretos Soziologie um die Jahrhundertwende, in: Pareto, Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 5-54, S. 25

95 Vilfredo Pareto, System der allgemeinen Soziologie. Eine Einleitung. Texte und Anmerkungen von Gottfried Eisermann, Stuttgart 1962, S. 107

96 Crespi und Fornari, Introduzione, op. cit., S. 89

97 Pareto nach Mongardini, Paretos Soziologie, op. cit., S. 37

98 Ebd., S. 48f

99 Georges Sorel, Über die Gewalt, Innsbruck 1928

100 Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, op.cit., S. 18

101 Ebd., S. 19


[65]BDie moderne Wissenssoziologie

Die Ausbildung der Soziologie als Wissenschaft und die Ausbreitung dessen, was man als Moderne bezeichnet, sind aufs Engste miteinander verknüpft. Nicht nur zeitlich entwickelt sich die wissenschaftliche Institutionalisierung der Soziologie parallel zur kulturellen Moderne in der Literatur, der bildenden Kunst oder der Musik. Überdies kann man die Soziologie – und hier insbesondere ihre »klassischen Vertreter«, also Durkheim, Weber oder Simmel – zu den wichtigsten Diagnostikern der Moderne rechnen. Ihre soziologischen Analysen waren mit ausschlaggebend für das Selbstverständnis ihrer eigenen Gesellschaft als einer modernen. Wie Durkheim betont, vergrößert sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung immer rascher, immer mehr Aufgaben werden an immer spezialisiertere Institutionen abgegeben, deren Arbeitsweise kaum mehr zu verstehen ist. Institutionelle Spezialisierung ist Teil einer umfassenden Rationalisierung, also der kognitiven und praktischen Verfügbarmachung der Wirklichkeit, ihrer Berechnung und zweckorientierten Beherrschung und damit verbundenen starken Bürokratisierung. Die Moderne steht in einem engen Zusammenhang mit dem (rationalistischen) Kapitalismus, dessen Produktivität den Wunsch nach Neuem geradezu als ethische Grundhaltung erfordert. Die Soziologien, mit denen wir es im Folgenden zu tun haben, sind also eng mit der Moderne verknüpft.

Die Wissenssoziologie wird häufig mit ihren klassischen Vertretern Mannheim, Scheler, Jerusalem gleichgesetzt, die auch den Namen prägten. Allerdings finden sich Vorläufer schon vor dem Aufkommen der Bezeichnung Wissenssoziologie, die zuweilen den Begriff der Soziologie der Erkenntnis benutzten. Auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes gab es, wie das Beispiel Paretos zeigt, deutliche Bestrebungen zur Ausbildung einer Wissenssoziologie. Wir werden sehen, dass im angelsächsischen Raum vergleichbare Anstrengungen unternommen wurden. Die »Klassiker« der Soziologie verfolgen diese wissenssoziologischen Fragestellungen ebenfalls. Weil sie die Moderne mit bestimmt haben, ist ohne sie die Wissenssoziologie nicht zu begreifen.


Kollektives Bewusstsein, prälogisches Denken und soziale Repräsentationen

Einen wesentlichen Beitrag zur Fundierung der heutigen Wissenssoziologie wurde von der französischen Soziologie geleistet. Hier war es vor allem EMILE DURKHEIM, der französische Begründer der Soziologie, der die Fragen der Wissenssoziologie aufwarf und mit seinen Schülern anging.1 Durkheim zielte auf eine Theorie des [66]Wissens, die den Umstand berücksichtigt, dass der Mensch ein soziales Wesen ist – also eine soziologische Theorie des Wissens. Um den soziologischen Charakter seiner Theorie des Wissens (oder der Erkenntnis) zu verstehen, ist es hilfreich, an ein Zitat des österreichischen Soziologen Ludwig Gumplowicz zu erinnern, dessen Werk Durkheim während seines Deutschlandaufenthaltes kennenlernte. Nach Gumplowicz ist es der größte Irrtum anzunehmen, »der Mensch denke. Aus diesem Irrtum ergibt sich dann das ewige Suchen der Quelle des Denkens im Individuum und der Ursachen, warum es so und nicht anders denke, woran dann die Theologen und Philosophen Betrachtungen darüber knüpfen oder gar Ratschläge erteilen, wie der Mensch denken solle. Es ist dies eine Kette von Irrtümern. Denn erstens, was im Menschen denkt, das ist gar nicht er, sondern die soziale Gemeinschaft. Die Quelle seines Denkens liegt gar nicht in ihm, sondern in der sozialen Umwelt, in der er lebt, in der sozialen Atmosphäre, in der er atmet, und er kann nicht anders denken als so, wie es aus den in seinem Hirn sich konzentrierenden Einflüssen der ihn umgebenden sozialen Umwelt mit Notwendigkeit sich ergibt.«2

Sehr vehement vertritt auch Durkheim eine solche »soziologische Erkenntnistheorie«, die das, was im Bewusstsein als Denken geschieht, weniger als Ergebnis psychischer Prozesse, denn als Ausdruck sozialer Prozesse ansieht. Die Verbindungen zwischen einzelnen Vorstellungen bilden die Verbindungen zwischen den Individuen, ihre sozialen Strukturen, ab.3 Durkheim stellt also die These der Sozialität des Wissens in den Mittelpunkt dieser Untersuchungen. Wissen und Denken sind demnach mehr kollektive als individuelle Vorgänge. Es ist weniger so, dass er die Gesellschaft als eine Ausweitung des individuellen Denkens betrachtet. Durkheim sieht vielmehr individuelles Denken als Ausführung gesellschaftlicher Wissensprozesse »en miniature« an.

 

Diesen Kerngedanken seiner Wissenssoziologie entwickelt er sehr ausführlich am Beispiel der Religion.4 In der positivistischen Tradition Comtes betrachtet er sie als Vorform wissenschaftlichen Wissens, aus der sich alle späteren Formen des Wissens entwickeln. Religion ist also gleichsam grundlegend für das Wissen – oder zumindest für die Kategorien des Wissens. Religion, also das »Primitivste aller sozialen Phänomene«, ist für Durkheim die Form, in der sich die Gesellschaft ihrer selbst bewusst wird. Um sie zu erforschen, betrachtet er konsequent die einfachste Form der Religion, die er auch als die grundlegendste ansieht, da sie alle Elemente späterer Religionen und Wissensformen in sich enthält. Der Totemismus gilt ihm als diese elementarste Form.5

[67]Sozialstrukturelle Merkmale des Totemismus sind Exogamie (also Regeln, die die Heirat zwischen verschiedenen Totemgruppen vorschreiben), totemistische Tabus, totemistische Embleme, religiöse Vorstellungen über das Totem und damit verbundene Rituale, die besonders mit dem Glauben an ein Abstammungsverhältnis von dem jeweiligen Totem zusammenhängen. Als Totemgruppen gelten Klane, die zugleich Verwandtschaftsgruppen sind, in denen das Inzesttabu gilt. Klane sind auch die Gruppen, die mit jeweils einem Totem in Beziehung stehen. Sie treten als Kultgemeinschaften auf und bitten die Götter um Schutz, Jagdglück und gute Ernte. Durkheim sah den Totemismus sogar als Voraussetzung für die Existenz der Klanstruktur an (eine, wie sich zeigen sollte, überzogene These).

Die symbolische Bedeutung des Totems rührt daher, dass es für jeden Klan ein Zeichen ist, mit dem seine Zusammengehörigkeit ausgedrückt wird: Jeder Klan besitzt ein besonderes Abbild des Totems. Das kann ein Stein oder ein Stück Holz sein, auf dem der jeweilige ›Gott‹ des Clans abgebildet ist. Dieser ›Gott‹ ist also keineswegs bloß eine abstrakte Idee. Er tritt vielmehr in Gestalt bestimmter Pflanzen oder Tiere auf. Jeder Clan verfügt im Totem gewissermaßen über ein Gruppenemblem. Allerdings sind auch strenge Verbote mit dem Totem verbunden. Klan-Mitglieder dürfen die Tiere von der Gattung ihres Totems nicht verspeisen, sie müssen an rituellen Festlichkeiten teilnehmen, sie dürfen untereinander keinen Geschlechtsverkehr haben. Diese Verbote werden sehr scharf kontrolliert, und Brüche streng geahndet.

Das Totem als Symbol repräsentiert somit die gemeinschaftliche Struktur des Klans. Damit verbunden ist seine religiöse Funktion, die wir hier nicht weiter vertiefen wollen. Wissenssoziologisch folgenreich ist vielmehr der Gedanke der Repräsentation, den Durkheim hier vorschlägt. Eine wesentliche Rolle spielen zunächst die religiösen Repräsentationen der Gesellschaft, in denen sich die soziale Organisation der Gesellschaft widerspiegelt. Diese Repräsentationen sind für die Gesellschaft das, was die mentalen Phänomene für das Individuum sind. Tatsächlich bauen sie auf den Handlungen und Reaktionen der Individuen auf, gehen aber über diese hinaus. Die Welt der Repräsentationen steht also nicht einfach auf der materiellen Basis, die sie determiniert, sondern erhebt sich über sie. Die kollektiven Ideen und Repräsentationen, in denen das kollektive Leben repräsentiert wird, nehmen ein eigenständiges Leben an, ja es ist für Durkheim letzten Endes das Denken, das die Gesellschaft und damit die Wirklichkeit schafft.

Durkheim nimmt also die Frage des Verhältnisses von Wissen und Gesellschaft auf eine eigene Weise auf: Die Struktur des Wissens stellt eine Art Widerspiegelung sozialer Strukturen dar. Man könnte auch sagen: In den kollektiven Repräsentationen drücken sich die objektiven Bedingungen der Gesellschaft aus.6 Um diese objektiven Bedingungen zu erfassen, die wir als Sozialstruktur bezeichnen würden, spricht Durkheim von einer sozialen Morphologie. Was er darunter versteht, kann [68]an der Struktur der von ihm untersuchten Klane veranschaulicht werden: Die Klane der von ihm untersuchten australischen Ureinwohner sind nämlich jeweils Teil eines Stammes, der sich in zwei Hälften, die so genannten »Phratrien«, teilt. Jede Phratrie umfasst mehrere Klane, also Totemgruppen. Daneben ist jede Phratrie zusätzlich in zwei ›Heiratsklassen‹ eingeteilt: Die Mitglieder jeder Klasse können jeweils nur Mitglieder einer bestimmten Klasse aus einer anderen Phratrie heiraten.

Abb. 3: Räumliche Anordnung der Phratrien und Klane

Diese Struktur der sozialen Organisation nun kommt auch in den kognitiven Kategorien zum Ausdruck: Die Zweiteilung in Phratrien nämlich wird auf die Natur ausgedehnt: Sonne, Mond und Sterne gehören einer der beiden Phratrien an, auch andere Gestirne, Tiere und Pflanzen werden nach diesem Muster klassifiziert. Selbst die Himmelsrichtungen werden nach der Verteilung der Phratrien und Klane im Dorf gegliedert. Die Repräsentationen des Sakralen sind ebenfalls an die soziale Struktur gebunden. Die Vorstellung eines gemeinsamen Gottes setzt voraus, dass über die Klane hinaus eine gemeinsame Einheit des Stammes besteht, und die Vorstellung eines universalen Gottes ist das Ergebnis der Interaktion zwischen verschiedenen Stämmen.

Ein Beispiel dafür bietet die Raumaufteilung eines australischen Aborigines-Stammes, die in der Abbildung abstrakt wiedergeben ist. Man sieht, wie die einzelnen Klane im Raum aufgeteilt sind (dabei liegen verwandte Klane nebeneinander) und sich auf die zwei Phratrien (Gamutch und Krokitch) verteilen. Damit sind die verschiedenen Einheiten zugleich schon den unterschiedlichen Himmelsrichtungen zugeteilt. Dieser Ordnung folgen auch bestimmte Handlungen: So wird ein Wartwut [69](6) mit dem Kopf nach Nordwesten bestattet (der mit dem warmen Wind verbunden ist). Die Sonnenleute (1) werden mit dem Kopf nach Sonnenaufgang beerdigt, ihnen ist auch die Sonne zugeordnet – und entsprechendes gilt für die anderen Klane.

Beachtenswert ist, dass nicht einfach die Inhalte der Klassifikationen, sondern ihre Struktur, die Logik von Klassifikationen wie die Logik insgesamt sozialer Natur ist. Klassifikationen setzen hierarchische Modelle voraus, für die weder die erfahrbare Welt noch unser Geist als Modell dient. Dieses Modell leitet Durkheim aus der sozialen Morphologie ab. Es sind soziale Gruppen, die den Rahmen für die Klassifikation der Totems abgeben, die ihrerseits wieder die Grundlage für die Klassifikation der anderen Dinge bieten. Dabei geht es hier nicht nur um die substantiellen Verteilungen von Dingen, sondern um die Logik des Denkens selbst. Die grundlegenden logischen Kategorien, wie etwa »und«- oder »oder«-Verbindungen, Teil-Ganzes-Verhältnisse, Schlüsse usw. haben in seinen Augen soziale Entsprechungen: So ist der Stamm der logische Vorläufer des Genus, die Phratrie der Vorläufer der Spezies und von der Einheit der Gesellschaft aus können wir uns die Einheit des Universums und das oberste logische Ganze vorstellen. Die Verbindung bestimmter Objekte mit bestimmten sozialen Gruppen führte zur Einteilung dieser Objekte mit diesen menschlichen Wesen. Frauen, Feuer und gefährliche Dinge können so bei den Aborigines in einer »logischen« Kategorie landen, wie bei uns etwa Autos, Fahrräder und Mopeds zu einer Kategorie gehören. Dabei sollte man beachten, dass es sich hier nicht nur um eine kognitive Einteilung handelt; wie im gesamten sozialen Leben sind auch hiermit Emotionen verbunden.

Die sozialen Wurzeln von Kategorien können auch an der Zeit beobachtet werden. Die Zeit basiert für Durkheim auf den Phasen der Zusammenkunft und Verteilung menschlicher Gruppen. Die Einteilung in Tage, Wochen, Monate und Jahren entspricht der periodischen Wiederkehr religiöser Zeremonien und sozialer Aktivitäten. Kalender sind in diesem Sinne Ausdruck der sozialen Zeit. Wie wir gesehen haben, macht sich auch die Kategorie des Raumes an der räumlichen Verteilung fest, ja Durkheim vermutet sogar, dass selbst die Kategorie des Widerspruchs sozial bedingt sei, da sie auf Macht und Auseinandersetzung beruhe. Damit entwickelt Durkheim eine regelrechte soziologische Theorie des Wissens: Wissen ist grundlegend soziohistorisch, ja selbst die elementaren Kategorien des Denkens basieren auf sozialen Strukturen.