Wissenssoziologie

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Durch die Entfremdung vom eigenen Produkt entsteht das, was Marx den Fetischcharakter der Ware nennt: Die Ware ist eigentlich das Produkt des Arbeiters, das aber, durch die Enteignung des Mehrwerts, als eigenes und unabhängiges Gut erscheint. Weil sie von ihrer Herstellung abgekoppelt sind, können Waren dann auch verehrungswürdige fetischistisch-religiöse Züge annehmen.70 »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selber, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge vorspiegelt, daher auch das gesamte gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen […]. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.«71

Die Entfremdung betrifft nicht nur Produkte und Waren, sondern die gesamte sinnliche Außenwelt, die Natur. Die sinnliche Außenwelt hört auf, ein zur Arbeit gehörendes Objekt zu sein, weil sie als Ware betrachtet wird, und sie hört auf, die physische Grundlage der Lebenserhaltung der Arbeiter zu sein. Die Natur wird zu einem reinen Produktionsfaktor. Schließlich schlägt die Entfremdung auf die Arbeiter zurück, die ihre Individualität im Arbeitsprozess verlieren und nurmehr auf ihre animalischen Funktionen reduziert werden. In einer kapitalistischen Gesellschaft werden somit Waren produziert und zugleich der Arbeiter zu einer Ware gemacht.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Marx’ Materialismus einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklung der Wissenssoziologie geliefert hat. Auch wenn Marx’ Glaubenssystem gescheitert ist, enthält sein wissenschaftliches Modell eine bedeutsame und grundlegende wissenssoziologische Erkenntnis: Dass alle Vorstellungen von sozialen Gruppen abhängen und in einer engen Beziehung mit den typischen [53]Interessen dieser Gruppierungen stehen. Diese Erkenntnis regte Marx dazu an, die Grundlagen der Bewusstseinsformen zu identifizieren. Für Marx ist Wissen ein Ausdruck der jeweils vorherrschenden sozialen, vor allem aber ökonomischen Verhältnisse. Es gehört zum »Überbau«, der die ökonomische und soziale »Basis« der Gesellschaft widerspiegelt. Zum Überbau zählt die Religion, aber auch die Philosophie oder die Kunst. Seine gesellschaftliche Basis bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft. Kennzeichnend für die Basis ist vor allem die vorherrschende Art der Produktion (z.B. agrarisch oder industriell) und die damit verbundenen Verhältnisse der Produzenten (Bauern, Arbeiter) zu denen, die über die Mittel der Produktion verfügen (feudaler Adel, Unternehmer). Man kann dieses Modell auf folgende Weise illustrieren:

Abb. 2: Basis-Überbau-Modell

Wie schon erwähnt, lässt Marx durchaus einige Fragen offen. So muss gefragt werden, in welcher Weise soziale und wirtschaftliche Aspekte aufeinander einwirken. Können wir wirklich von einer Determination des Denkens durch die Wirtschaft reden? Und wenn nicht, auf welche Weise fassen wir dann die »Dialektik« oder »Wechselwirkung«, die wir hier bildlich mit Pfeilen andeuten. Wie das Schaubild zeigt, rechnet Marx die ideologischen Phänomene – also Recht, Politik, Kunst, Ethik, Philosophie, Wissenschaft etc. – pauschal einer Ebene zu. Man muss fragen, ob dies statthaft ist. Sollte man nicht zwischen den verschiedenen Überbauphänomenen unterscheiden? Bedenkt man etwa die Rolle der rechtlichen Regelung des Eigentums [54](und seiner Bedeutung für die bürgerliche Ökonomie), dann muss man doch einräumen, dass auch die Aspekte des Überbaus (politische Aspekte des Klassenkampfes, Verfassungen der herrschenden Klasse, Rechtsprechung, religiöse Ideen und ihre dogmatische Ausformung) tiefen Einfluss auf die historische Entwicklung der Produktionsverhältnisse und die damit verbundenen Klassenkämpfe ausüben. Offen bleibt also vor allem die wissenssoziologisch zentrale Frage, in welchem Verhältnis Basis und Überbau stehen. In der langen und ereignisreichen Wirkungsgeschichte der marxistischen Theorie gab es zahlreiche Versuche, dieses Verhältnis näher zu bestimmen. Ein prominentes Beispiel für ein deterministisches Verständnis dieses Verhältnisses bietet der russische Physiker, Philosoph und Soziologe Alexander A. Bogdanov. Er betrachtete soziale Anpassung als dasselbe wie biologische Anpassung. Variationen der sozialen Formen sind für ihn durch natürliche Veränderungen determiniert. Die wichtigsten Formen der sozialen Anpassung sind technisch und ideologisch, wobei ideologische Anpassungen von technischen determiniert seien. Eine andere deterministische Fassung stammt von Otto Bauer, der seine empirische Interpretation der Genese von Weltanschauungen auf Marx zurückführte. Weltanschauungen seien vor allem von der Arbeitserfahrung des Menschen bestimmt. Bürger in kapitalistischen Gesellschaften zeichneten sich durch eine gemeinsame Arbeitserfahrung aus, die vor allem im Planen von Arbeit besteht, die andere verrichten. Deswegen entwickeln sie eine Weltanschauung, in der ein umfassender Plan enthalten ist, wie im Idealismus. Die Arbeiter dagegen hätten eine Arbeitserfahrung, die sie in unmittelbaren Kontakt mit der materiellen Natur bringen. Deswegen sei ihre Weltanschauung materialistisch.72

Solch deterministische Konzeptionen werden von Remmling dem »positivistischen« Zweig des Marxismus zugeschrieben. Sie gelten dem anderen, »historizistischen« Zweig als »vulgärmarxistisch« – ein Vorwurf, der sicherlich eine große Zahl der späteren marxistischen Literatur treffen dürfte.73 Zu diesen Historizisten zählt etwa die Theorie Georg Lukács’, an den wiederum eine ganze marxistisch orientierte Linie der Diskussion anschließt, die wir im Zusammenhang mit der kritischen Theorie wieder aufnehmen werden. Der Frage nach dem Verhältnis von Basis und Überbau, also das Thema der Korrelation von Wissen und Gesellschaft, die in beiden Linien aufgeworfen wird, werden wir im Folgenden immer wieder begegnen.


Die Triebe und der Irrationalismus des Wissens

Im Großen und Ganzen gehen die geschichtsphilosophisch angelegten Konzepte, wie die oben dargestellten, von der Annahme einer steten Fortschreitens der Vernunft und der Ausweitung des menschlichen Wissens aus. Diese Annahme bildet das Fundament des westlichen Fortschrittsglaubens, den die Aufklärung begründete und der zum Allgemeinwissen geworden ist. Gegen diese Vorstellung zunehmender Rationalität regte sich jedoch schon im Zuge der Aufklärung massiver Widerstand von Seiten der konservativen, antiaufklärerischen Denker (in Deutschland etwa Justus Möser, der den hiesigen Konservativismus begründet), die sich für den Erhalt der traditionellen Strukturen einsetzten. Die Kritik wandte sich vor allem gegen die Annahme der Vernünftigkeit des Menschen, die als Motor den Fortschritt der menschlichen Vernunft antreiben sollte. Im Widerspruch dazu behauptete eine Reihe von Intellektuellen die grundlegende Unvernünftigkeit, den Irrationalismus des Menschen. Vernunft und Wissen erscheint für sie bestenfalls aufgesetzt. Für die Wissenssoziologie sind diese Intellektuellen deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie den naiven Glauben an die schlichte Gültigkeit von Wissen und Wahrheit angreifen (der noch unsere »Wissensgesellschaft« beherrscht). Und obwohl sie die Quelle allen Tuns in nichtsozialen Trieben verankern, sehen sie darüber hinaus die vermeintliche Geltung von Wissen nicht in der Erkenntnis selbst begründet, sondern in sozialen Prozessen, in denen der Schein von Wahrheit erzeugt wird.

Einen entscheidenden Beitrag zur Prägung dieses Irrationalismus lieferte Friedrich Nietzsche.74 Er hebt vor allem die Rolle der Triebe hervor: Die Menschen schaffen sich eine künstliche Ideenwelt hinter der Erscheinungswelt, weil sie ihre ureigensten niederen Triebe übertünchen wollen. Diese Triebe bilden die eigentliche Grundlage der Erkenntnis, denn erst ihre Konfrontation mit der Wirklichkeit bringt Erkenntnis hervor, ja erzwingt sie. Wissen ist folglich nicht schon Teil der menschlichen Natur. Es folgt aus dem Trieb und ist Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisses: »Wenn wir Erkenntnis wirklich begreifen wollen, wenn wir wirklich wissen wollen, was sie ist, wenn wir ihre Wurzel und Fabrikation erfassen wollen, müssen wir uns vielmehr an den Politiker halten und uns klarmachen, dass es sich um Verhältnisse des Kampfes und der Macht handelt.«75 Wissen besteht also nur in Handlungen, in denen Menschen sich Dinge gewaltsam aneignen und auf [56]Situationen reagieren.76 Wahres Wissen ist »somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozess abgibt […] es ist ein Wort für den ›Willen zur Macht‹.«77

Deswegen stellen falsche Urteile für den Menschen ebenso wenig ein Problem dar wie falsches Wissen. Ganz im Gegenteil: Die Vorstellung, es gebe so etwas wie Wahrheit, ist in Nietzsches Augen ein kolossaler Irrtum. Erkenntnis ist für ihn nämlich keine bestehende Größe, sondern eine Erfindung. Denn »der Gesamtcharakter der Welt ist […] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit[…]«78 Die Menschen begehen diesen Irrtum, um sich in Sicherheit zu wähnen. Die Wahrheit selbst ist nur für die wenigen Gelehrten von Interesse. Für die breite Masse der Menschen dagegen ist allein das Wissen von Bedeutung, das lebensfördernd wirkt. Die »Wahrheit« ist somit eine Verkleidung des »Willens zur Macht«, jener Kraft, die uns am Leben erhält und unseren Bestand sichert. Die eigentliche Funktion des Geistes ist die Verstellung des Lebens so, dass es uns lebenswert erscheint, und die Verführung zum Leben.

 

Wahrheit und Wissen sind jedoch nicht nur eitle Hülle. Denn was den Menschen auszeichnet, ist dass er gegen sich selbst, gegen seine Triebe und seinen »Willen zur Macht« Stellung beziehen kann. Die Instanz nun, die es ihm ermöglicht, sich gegen seinen Ursprung aus der Natur und gegen seine naturhafte Determination zu wehren, ist der Geist, der Wissen schafft. Durch seine Fähigkeit der Verkleidung kann er eine »Umwertung der Werte« bewirken, die in die Dekadenz, zum endgültigen Zerfall führen kann: Weil der Mensch schlecht ist, schafft er die Idee des Guten, weil er lügt, schafft er die Wahrheit, weil er hässlich ist, schafft er das Schöne. »Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab- und hinuntersehen, wie man auf Erden Ideale fabriziert? […] Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.«79 Jede Gesellschaft hat in seinen Augen eine herrschende und eine beherrschte Schicht. Den beiden Schichten sind zwei verschiedene Moralen zugeordnet: die »Herrenmoral« und die »Sklavenmoral«.

Besonders »verlogen« erscheinen Nietzsche jene Wissensformen, die die grundlegende Machtbeziehung bestreiten. Das Christentum ist ihm dafür ein sehr wichtiges Beispiel, betont es doch die Nächstenliebe und verleugnet es den Machttrieb. Genau hierin jedoch, so betont Nietzsche, liegt das Perfide des Christentums: Es predigt eine Religion der Schwachen, Kranken und Armen, Machtlosen – um genau [57]damit an die Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten. Die Religion der Nächstenliebe ist ihm eine Übertünchung von Machtinteressen.

So geht Nietzsche mit dem Hinweis auf den Zusammenhang von Religion und Machtinteressen über einen psychologischen Ansatz des Wissens als bloß subjektiver Projektion hinaus, den er in seinen früheren Schriften vertritt und schließt an die Interessentheorie an: Religiöse Vorstellungen dienen dazu, die Interessen derer durchzusetzen, die sie vertreten. Das Christentum ist ihm eine Religion des Ressentiments der Schwachen gegen die Starken. Weil die Schwachen und Zukurzgekommenen Träger dieser Religion seien, komme der Erfolg des Christentums einem ›Sklavenaufstand der Moral‹ gleich. Er entspreche somit einer ›Vergeltungsreligiosität‹, die die Starken und Erfolgreichen bestrafe, einem, wie Nietzsche es nennt, Ressentiment. Max Scheler, der den Begriff später aufnimmt, definiert das Ressentiment als eine »seelische Selbstvergiftung«, die durch eine »systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte entsteht […] und die gewisse dauernde Einstellungen auf bestimmte Arten von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen zur Folge hat«.80 Die Zurückdrängung der vornehmen Werte durch das Ressentiment hat sich in einem historischen Prozess abgespielt, der vom antiken Rom bis zur Reformation und zur französischen Revolution reicht. In dieser Zeit wurden Ideale verbreitet, die den Menschen Schuld und schlechtes Gewissen einredeten, mit denen die Triebe unterdrückt werden sollten. Diese Ideale entfalteten eine »ungeheure Macht«, indem sie ein System der Interpretation errichteten, mit dem erst das festgestellt wurde, was Wahrheit sei.

Man kann sich dennoch fragen, mit welchem Grund Nietzsche, der ja als Verächter der (positivistischen) Soziologie gilt, hier in der Ahnenreihe der Wissenssoziologie auftritt.81 Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen spielt Nietzsche eine bedeutende Rolle in den wissenssoziologischen Überlegungen Webers, Paretos und Schelers, ja auch bei Elias und Foucault. Zum Zweiten sind für ihn Erkenntnis und Wissen gerade wegen ihrer vermeintlichen Geltung unmittelbar und fundamental sozial: »Die Bedingung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit ist die Gesellschaft.«82 Denn da der Mensch (»aus Not und Langeweile«) gesellschaftlich (und, wie Nietzsche verächtlich formuliert: »herdenweise«) existieren muss, ist er auch zu einem Friedensschluss gezwungen, der das gemeinsame Leben ermöglicht. Dieser Friedensschluss erst fixiert jenes etwas für alle Gemeinsame, das eine verbindliche Geltung haben soll. Hier also entsteht Wahrheit – als eine moralische Größe.83

[58]SIGMUND FREUD ist ein weiterer, ebenso wie Nietzsche weltberühmter Autor, der die triebhafte Ausstattung des Menschen in den Vordergrund stellt.84 Auch Freud wird nicht im engeren Sinne der Soziologie zugerechnet, zielt er doch auf eine psychologische Theorie, in der drei Instanzen (»Ich«, »Es«, »Über-Ich«) unterschieden werden. Von soziologischer Relevanz ist Freuds Theorie dennoch, denn die psychischen Instanzen werden vor allen Dingen im sozialen Kontext der Familie ausgebildet. Vater und Mutter bilden die wesentlichen Bezugsgrößen der kindlichen Psyche. Von zwei Trieben geleitet (dem Liebestrieb und dem Todestrieb), entwickelt sich jedoch nicht nur die Psyche in der Auseinandersetzung mit Vater und Mutter. Diese Konstellation ist auch prägend für das Wissen und die menschliche Kultur. Die Auseinandersetzung mit der von Vater und Mutter repräsentierten Sozialwelt führt zur Entwicklung eines »Über-Ich«, das die sozialen Normen und Werte ins Ich verlegt. Mit dem Begriff des »Es« setzt Freud zugleich eine von den Trieben beherrschte Instanz ein, die sich vor allem durch »unbewusstes Wissen« auszeichnet. Dazu zählen die vom Ich zurückgewiesenen Elemente, die das Verdrängte als Teil des Unbewussten ausmachen.

Eine elementare Form des Wissens über die Welt bestehe in der Projektion innerer Wahrnehmungen nach außen: »Innere Wahrnehmungen [werden] nach außen projiziert, zur Ausgestaltung der Außenwelt verwendet, während sie in der Innenwelt verbleiben sollen.«85 Diese Projektion des Inneren nach Außen kennzeichnet vor allem das primitive Denken. Entsprechend tritt es auch in primitiven Kulturen als mythologische Weltauffassung auf, die »nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie«. So versteht er die Mythen vom Paradies und Sündenfall, vom Guten, vom Bösen und von der Unsterblichkeit als Projektion. Ganz besonders deutlich wird der projektive Charakter des menschlichen Wissens für ihn an der Religion, die er mit pathologischen individualpsychologischen Fällen vergleicht: »Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems.«86 Und er geht noch weiter und kehrt das Verhältnis sogar um: »Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathogenes Gegenstück der Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen.«87 Religiöse Wissensformen sind also Illusionen, [59]Erfüllungen alter und elementarer menschlicher Wünsche. Wie Wunschdenken ein Merkmal kindlicher Wirklichkeitsbewältigung ist, sucht sich der Erwachsene Götter, die ihm diesen Schutz gewähren. Es ist eine Folge der Projektionsfähigkeit der Psyche, dass der Mensch, wenn er nicht fähig ist, die Realität zu ertragen, eine Illusion an die Stelle der Realität setzt. Wieder ist die Religion für Freud das beste Beispiel: Sie ist im Grunde eine regressive, also in der seelischen Entwicklung rückwärtsgewandte, »infantile Illusion«, und da die Richtung dieser Illusion von der Familienstruktur geprägt ist, kann man Gott als eine psychologische Überhöhung des Vaters ansehen.

Nicht nur können die Götter als Ausdruck der Vatersehnsucht angesehen werden. Letzten Endes beruht die gesamte Kultur und unser Wissen auf einer solchen Projektion, die aus der Erfahrung der Hilflosigkeit angesichts der Natur geboren wird – eine Erfahrung, die wir als hilflose Kinder schon einmal gemacht haben: »So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts.«88

Wir sollten beachten, dass nicht nur die Einflüsse auf die psychische Trieb-Dynamik in der sozialen Situation der Familie verankert werden; diese Triebdynamik wirkt sich auch ihrerseits wieder auf unser Wissen von der Welt aus. Dabei sollte man doch die vehemente Kritik an der Psychoanalyse nicht verschweigen. So wird zum einen eingewandt, dass Freuds Darstellung der familialen Verhältnisse sehr kulturspezifisch ist und stark die Züge des patriarchalen bürgerlichen und autoritären 19. Jahrhunderts trägt. Darüber hinaus haben Deleuze und Guattari sogar argumentiert, dass nicht die Psyche einen besonderen Zwang auf uns ausübt, sondern dass es die Psychoanalyse ist, die Macht über die Menschen erlangen will.89

Einen im engeren Sinne soziologischen Zugang zum Irrationalismus schafft erst VILFREDO PARETO.90 Irrationalistisch ist auch er, denn die menschliche Natur ist in seinen Augen für keine Aufklärung offen, sondern weist einen auf Triebe zurückgehenden ideologischen Hang auf. Dieser Irrationalismus findet einen sehr deutlichen Ausdruck in Paretos allgemeiner Soziologie: Als ausgebildeter Ingenieur und Volkswirt beschäftigt er sich zunächst mit den logischen Handlungen, die sich dadurch auszeichnen, dass dabei Mittel gewählt werden, die den Zielen adäquat sind. Diese Adäquatheit folgt den positivistischen Forderungen logisch-experimentellen Denkens, ließe sich also, wie man meint, prinzipiell mit den Methoden der Naturwissenschaften stützen. Logische Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass das Ziel, das die Handelnden verfolgen, mit den Mitteln erreicht wird, die sich aufgrund des [60]verfügbaren wissenschaftlich-experimentellen Wissens als passend erweisen. Mehr und mehr jedoch bemerkt Pareto, dass viele Handlungen dieses strenge Kriterium in Wirklichkeit gar nicht erfüllen. An dieser Stelle nun tritt für ihn erst die Soziologie auf den Plan. Sie ist es nämlich, die erklären soll, warum so viele Handlungen nicht logisch verlaufen. Sie behandelt also die nicht-logischen Handlungen, die weitaus in der Mehrzahl seien. »Die Illusionen, die sich die Menschen hinsichtlich der Motive machen, die ihre Handlungen bestimmen, haben mannigfaltige Quellen. Eine der wichtigsten ist die Tatsache, dass sehr viele menschliche Handlungen nicht die Konsequenz rationalen Denkens sind. Diese Handlungen sind rein instinktiv, der sie vollziehende Mensch empfindet indes Vergnügen, wenn er ihnen – übrigens willkürlich – logische Ursachen zugrunde legt. Er ist im Allgemeinen nicht gerade anspruchsvoll bezüglich der Qualität dieser Logik und gibt sich sehr leicht mit dem Anschein von logischer Überlegung zufrieden. Aber es wäre ihm unangenehm, ganz darauf zu verzichten.«91 Diese nichtlogischen Handlungen übersehen zu haben, zähle zu den großen Irrtümern in den bisherigen Wissenschaften. Zu den nichtlogischen Handlungen zählen genauer (a) instinktives, unbewusstes und habituelles Verhalten, (b) magische und religiöse Praktiken sowie (c) intentionales Handeln mit nichtbeabsichtigten Folgen. Das Gefühl ist neben der »Suche nach Erfahrungswerten« eine wichtige Quelle des menschlichen Handelns: Die Gefühle und Instinkte, die nichtlogischem Handeln zugrunde liegen, treten gesellschaftlich als Residuen in Erscheinung. Man muss sich die Residuen wie eine Art geistige Gewohnheiten vorstellen, die sich, auf einer instinktiven und emotionalen Grundlage, über die Zeit kulturell verfestigen.

Pareto unterscheidet sechs Klassen von Residuen, die helfen können, den Begriff etwas besser zu verstehen. Eine Klasse etwa bilden die sexuellen Residuen. Dieses Residuum fügt der (instinktiven) sexuellen Aktivität einen erotischen Charakter hinzu. Ein weiteres Residuum ist die »Persistenz der Aggregate«. Es bindet die einzelnen Individuen an seine sozialen Gruppen, also an Familie, Heimatort oder soziale Klasse sowie ihre Werte und Normen. Dies ist das Residuum, das die Rentier-Mentalität leitet. Nicht zu verwechseln ist dieses Residuum mit dem, das die Beziehung zur Sozialität durch Konformismus, Mitleid oder Selbstaufopferung herstellt. Auch der Drang, die eigenen Gefühle durch Handlungen anzuzeigen, bildet ein Residuum, das die Funktion hat, die menschliche Persönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Der »Instinkt der Kombination« gilt ihm als ein Residuum, das zu Innovationen führt. Und schließlich sorgt ein Residuum für die Wahrung der Würde des Individuums.

 

Stimmen bei den logischen Handlungen die Begründungen der Handlungen mit den Beweggründen und Motiven überein, so sucht der Mensch auch für die Beweggründe der nichtlogischen Handlungen häufig logische Begründungen. Obwohl er also aus Gefühlen, Affekten und Emotionen heraus handelt, versucht er eine, wie man sagen könnte, Rationalisierung dieser Handlungen. Solche Scheinbegründungen [61]nennt Pareto Derivate bzw. Derivationen (also Ableitungen). Man hat es nach Pareto mit Derivationen zu tun »immer dann, wenn man sein Augenmerk darauf richtet, auf welche Weise die Menschen danach streben, die Merkmale, die bestimmten ihrer Handlungsweisen eigen sind, zu verbergen, zu verändern, zu erklären.«92 Zwar hat auch das Tier Instinkte, doch nur der Mensch »empfindet das Bedürfnis zu argumentieren und außerdem einen Schleier über seine Triebe und seine Gefühle zu breiten«.93 Als Derivationen bezeichnet er den »Komplex von Argumenten und Handlungen, mit denen das nicht-logische Handeln als logisches präsentiert wird«.94

Derivationen sind keineswegs Mystifizierungen oder gar Betrug, da sie von den Menschen in der Regel selbst geglaubt werden. Derivationen sind vielmehr jene pseudo-logischen Argumentationen, mit denen Handlungen, wie Freud sagen würde, »rationalisiert« werden. Sie setzen sich aus Trugschlüssen und Illusionen, Glauben, Vorurteilen und Fehlurteilen zusammen, mit denen menschliches Handeln häufig verknüpft ist. Ihre Überzeugungskraft besteht weniger in der logischen Schlüssigkeit als im Appell an Gefühle. Im Unterschied zu Freud jedoch verdanken sie sich selbst nicht den Gefühlen, sondern dem sozial eingespielten Gemeinsinn, auf den auch die Rhetorik zurückgreift. Ein Beispiel dafür sind »Wortbeweise«, die durch die Wahl einzelner Worte entschieden werden. Im Falle des Verharrens im eigenen Glauben nennt man dies »›Standhaftigkeit‹, wenn [es] häretisch ist, ›Verstocktheit‹. Ein anderes Beispiel dafür: Im Jahre 1908 nannten die Freunde der russischen Regierung, wenn sie einen Revolutionär töteten, ihr Vorgehen ›Exekution‹, das der Revolutionäre, wenn sie ein Regierungsmitglied töteten, ›Mord‹. Die Feinde der Regierung kehrten die Bezeichnungen um: das erste Vorgehen war ›Mord‹, das zweite ›Exekution‹.«95

Diese Derivationen gliedert Pareto in vier Klassen auf. Zum Ersten nennt er die Behauptungen, die Geschichten mit großer oder geringer Überzeugungskraft beinhalten können. Sie rechtfertigen aufgrund der bloßen Affirmation. Zum Zweiten finden sich Argumente, die auf Autorität beruhen (wenn man etwa die Bibel zitiert). Die Anrufung einer Autorität dient als Rechtfertigung. Übereinstimmungen mit Gefühlen und Prinzipien bilden die dritte Klasse der Derivationen, zu der auch der Common Sense gehört. Man bezieht sich auf ein Prinzip oder ein Gefühl, um eine Handlung zu begründen. Und schließlich führt er noch das schon angeführte Beweisen mit Worten an, also Begründungen, die auf ungenauen Wörtern, auf Sprichwörtern, Metaphern, Allegorien oder Analogien aufbauen.

Während die Residuen das Handeln leiten und recht konstant bleiben, wirken sich die Derivationen nicht unmittelbar auf das soziale System aus. Zudem verändern [62]sie sich mit dem soziohistorischen Kontext. Die Residuen determinieren die Derivationen, doch haben auch diese Einfluss auf die Residuen.96 Die Derivationen gehorchen also dem, was man heute wohl eine »Rhetorik« nennen würde, wie sie typischerweise innerhalb der Wissenschaft zu finden ist.

In Paretos Wissenssoziologie bilden die im engeren Sinne ideologischen Systeme einen weiteren Schwerpunkt, da sie direkt auf den Derivationen und Residuen aufbauen. Denn die Verwandlung von nichtlogischen in logische Handlungen gelingt vor allem durch Berufung auf moralische, religiöse und metaphysische Theorien und Lehren. Ideologien sind also keineswegs identisch mit Derivationen; Ideologien sind selbst selten Teil von Handlungen und auch nicht unbedingt emotional, ja verhüllen Emotionalität eher. Weder den Derivationen noch den Ideologien geht es um die Wahrheit, sondern nur um Wirksamkeit und Nutzen. Die Wirksamkeit wird durch die Frage bestimmt, warum Menschen an ein bestimmtes geistiges Gebilde glauben. Sie bemisst sich daran, was sie davon haben. Auch Weltanschauungen, wie etwa das Christentum oder der Sozialismus, sollten deshalb nicht auf ihre Wahrheit hin befragt werden, »der Wert der heiligen Bücher aller Religionen liegt nicht in ihrer historischen Präzision, sondern in den Gefühlen, die sie im Herzen ihrer Leser erwecken können«.97 Gesellschaften sind nicht rational, sondern werden durch Ideologien und Mythen geleitet und verändert. Jeder Versuch der Wissenschaft, diese Mythen zu entzaubern, schafft nur selber wiederum neue Mythen.

Wie Marx blickt auch Pareto auf eine sozialstrukturelle Größe, die wesentlich für die Ideologien verantwortlich ist: Sind es bei Marx aber die proletarischen Massen, so stehen bei Pareto die Eliten im Vordergrund. Gesellschaftliche Fortentwicklung kommt für ihn im Wesentlichen durch den Kampf der Eliten um die Macht zustande, der zu einem Kreislauf der Eliten führe. »Selbst im tiefsten Frieden kommt der Prozess der Zirkulation der Eliten nicht zum Stillstand; sogar die Eliten, die durch den Krieg keine Verluste erleiden, verschwinden und manchmal geschieht dies ziemlich rasch. Es handelt sich nicht nur um den Untergang der Aristokratien durch das Übergewicht der Todesfälle über die Geburten, sondern auch um den inneren Verfall der Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen.«98 Dabei zeigten sich immer zwei Kräfte: zentripetale Eliten, die die Zentralgewalt stärken, und zentrifugale Eliten, die ihre Auflösung anstreben.

Die Eliten sind gleichsam die wissenssoziologisch relevanten Akteure, denn in der Auseinandersetzung der Eliten spielen die Residuen und Derivationen eine entscheidende Rolle. Dies ist natürlich besonders in der politischen Rhetorik der Fall, die sich ja durch ihre persuasive Absicht von der philosophischen Abhandlung unterscheidet. Denn sie dient zur Durchsetzung von Machtinteressen, die vor allem von den Eliten verfolgt werden. Sie bilden, neben den politischen Intellektuellen, die [63]wichtigsten Trägergruppen der politischen Kommunikation. Herrschende Gruppen und Gegeneliten befinden sich im Kampf um die Macht, der, sozusagen als Derivat, immer auch ein Kampf der Ideen ist. Die verschiedenen Gruppen nutzen jedoch nicht nur Ideen, sie verkörpern und interpretieren immer auch unterschiedliche Residuen der Gesellschaft. Es sind also nicht nur »Scheingefechte«, die über Residuen ausgetragen werden, sondern auch Kämpfe zwischen den zugrunde liegenden Prinzipien.

Durch die Zirkulation der Eliten ändern sich Ideologien und Derivate fortwährend. Allein wenn man hinter sie blickt, entdeckt man die eigentlichen Beweggründe, die Residuen. Weil die menschliche Natur über die Geschichte hinweg im Wesentlichen gleich bleibt, ändern sich auch die Residuen nicht über die Zeit. Doch auch die ansonsten sehr wandelhaften Derivate enthalten einen festen, konstant bleibenden Kern und veränderliche symbolische Ränder. Diesen Kern hält Pareto für universale geistige Strukturen. Sie sind die eigentlichen Residuen, wie etwa der Totemglaube, Heiligenanbetungen, Askesepraktiken. Diese mentalen Strukturen, die Pareto in verschiedene Klassen unterteilt, bilden für ihn eine Art vortheoretische Ordnung des Bewusstseins – eine Ordnung des verborgenen Wissens, der wir in der Wissenssoziologie unter verschiedenen Begriffen immer wieder begegnen.

Eine Fortsetzung über Pareto hinaus erfährt der wissenssoziologisch relevante Irrationalismus durch die Arbeit von Georges Sorel, dessen wissenssoziologischer Beitrag vor allem um den Begriff der Mythen kreist.99 Im Unterschied zur gängigen Vorstellung, die diesen Begriff mit archaischen Erzählformen verbindet, bezeichnet er damit eine Art politisches Wissen der Straße. Geiger fasst Sorels Verständnis dieser Mythen als »Ideologien, die sich auf die Gesellschaft beziehen«.100 Die Menschen benötigen ein orientierendes Gesamtbild der Gesellschaft. Weil ein wirkliches Abbild jedoch nur unter großen Mühen hergestellt werden könnte, hält sich der Durchschnittsmensch lieber an verzerrte Mythen. Würde die Kenntnis der wirklichen Verhältnisse lähmend wirken, so förderte die begrenzte Einseitigkeit der Mythen die Bereitschaft zur Handlung. Auch gesellschaftliche Bewegungen, die von Gesellschaftstheorien geleitet sind, finden in der Masse nur dann Resonanz, wenn sie einen mythologischen Gehalt aufweisen. »Je weniger Wahrheit und je mehr Mythos, desto besser.«101 So wirkt etwa der Mythos vom Generalstreik für die Arbeiter nicht aufgrund von materialistischen Erklärungen im Rahmen der marxistischen Theorie, sondern deswegen, weil er in eine bildhaft komprimierte Version gebracht wird, die eine Menge zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt und sie zu kollektiven Handlungen bewegt. Vom Urchristentum bis zur französischen Revolution sei jeder Versuch der Massenmobilisierung von solchen Mythen ausgegangen.