Wissenssoziologie

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Revolution, Restauration und der Geist in der Geschichte

Die wissenssoziologische Betrachtungsweise setzt zwar mit dem bürgerlichen Aufbegehren ein, das auch das »bessere«, wissenschaftliche Wissen für sich beansprucht, doch wäre es ein Irrtum, sie wegen ihrer Religionskritik, wegen ihrer Beobachtung der Interessenbedingtheit des Wissens und wegen ihres Versuches, Änderungen [31]durch Bildung zu erzeugen als durchgängig »progressiv« zu charakterisieren. Neben der bisher angeführten – man könnte sagen: ›ideologiekritischen‹ – Tradition zieht sich in die Wissenssoziologie auch eine etwa gleichzeitig entstehende Tradition hinein, die manche als konservativ bezeichnen. Diese Tradition zeichne sich, so etwa Stark20, dadurch aus, dass der primitive Mensch der Wahrheit näher sei oder dass Wahrheit sozusagen organisch wachsen müsse. Ich halte diese Charakterisierung für unglücklich, geht sie doch von der Voraussetzung aus, dass der Gang der Geschichte ein klares Ziel habe, an dem sich das Progressive und das Konservative bemessen lassen. Diese Vorstellung gibt es in der Wissenssoziologie tatsächlich, doch sie bildet lediglich eine Linie, der ich mich in diesem Abschnitt widmen möchte. ›Konservativ‹ und ›progressiv ›unterscheiden sich dann beispielsweise nur durch die inhaltliche Füllung des geschichtlichen Prozesses: als teleologischer Prozess oder als zyklisches Modell. Daneben kennt die Vorgeschichte der Wissenssoziologie umfassende geschichtsphilosophische Konzeptionen, die nicht dieser Charakterisierung entsprechen und dennoch die Einschätzung und Beurteilung des Verhältnisses von Wissen und Gesellschaft teilweise bis heute leiten. Solche geschichtsphilosophische Konzeptionen betrachten die Entwicklung des Wissens als einen umfassenden historischen Prozess, wobei das Wissen selbst als eine Triebfeder dieses Prozesses gilt. Diese Vorstellung weitet sich vor allem nach der französischen Revolution und der Restauration aus. Die bürgerliche Aufklärung hatte Denken und Wissen als Merkmal des Menschen schlechthin und als Grundlage für die Planbarkeit der Gesellschaft ausgewiesen. Obwohl sich das Bürgertum politisch noch nicht als entscheidende Macht breit durchsetzen konnte und wir zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine Phase der politischen Restauration erleben, weitete sich das Weltbild des Bürgertums (wie auch der bürgerliche Industrialismus) rasant aus. In der Folge entstanden nun Schemata der Abfolge menschlichen Denkens, die die damalige Zeit als eine eigene (häufig als Endstufe angesehene) Phase erkennen. Wissenssoziologisch relevant sind diese Konzeptionen nicht nur, weil sie Denken und Wissen als historisch variabel ansehen, sondern auch weil das gesamte Verhältnis von Sozialem und Geistigem als historisch wandelbar betrachtet wird.

In einer ausgeprägten und soziologisch bedeutsamen Form finden sich solche im historischen Materialismus von Marx, in den evolutionistischen Vorstellungen Durkheims oder im Historismus Max Webers. Ihre entscheidende Prägung geht aber auf einen Autor zurück, der lange vor der Restauration tätig war: Giambattista Vico.21 Vico, so darf man sagen, war einer der Ersten, der die sehr moderne Idee hatte, dass [32]die Kultur ein sozial konstruiertes Gebilde sei. In der Tat formuliert Vico die These, »verum ipsum factum«: Die Wahrheit ist von uns selbst gemacht – er geht, in den Worten von Max Adler, davon aus, »dass die gesellschaftliche Welt ganz gewiss von Menschen gemacht worden ist« (eine These, die später als »konstruktivistisch« bezeichnet werden wird). Allerdings muss man einräumen, dass Vicos Radikalität in den Grenzen theologischer Vorstellungen lag, ging er doch nach wie vor davon aus, dass das menschliche Handeln letzten Endes doch immer der göttlichen Vorsehung folge.22

Auf dieser Grundlage entwickelte er in seiner Scienza Nuova (»Neue Wissenschaft«) eine Methode zur Erforschung der menschlichen Geschichte. Während die Naturgeschichte der menschlichen Kontrolle nicht direkt zugänglich sei und unabhängig vom Menschen bestehe, sei die menschliche Geschichte seine eigene Schöpfung. Deswegen schlägt er vor, eine wichtige erkenntnistheoretische Unterscheidung zu treffen zwischen natürlichen Gegenständen, die wir nur von außen kennen, und menschlichen Tatsachen, die wir sowohl von außen wie von innen kennen. Weil wir die gesellschaftlich-geschichtliche Welt selbst gemacht haben, sind für uns auch »ihre Prinzipien in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes auffindbar«.23 Wir können diesen Dingen also auf den Grund gehen, weil wir sie selbst geschaffen haben.24 Da die Gesellschaft ein Ergebnis menschlicher Handlungen ist, können wir sie sogar besser verstehen als die Abstraktionen, die wir vornehmen müssen, wenn wir die Natur verstehen wollen.

Diese Unterscheidung wird später noch mehrfach eine Rolle spielen. Sie bildet den Grundstein für eine Wissenschaft menschlichen Handelns, die davon ausgeht, dass die vergangene wie die gegenwärtige, ja die gesamte menschliche Gesellschaft erforscht werden kann. Nach Vico sollte man etwa beim Studium der Römischen Geschichte nicht einfach die Chronik der Ereignisse betrachten und daraus Folgerungen für die Römische Gesellschaft ableiten. Aufgabe der Wissenschaft der sozialen und historischen Welt ist es vielmehr, sich in die Kultur der Epoche einzufühlen, die in Handlungen, Gedanken, Ideen, religiösen Glaubensvorstellungen, Mythen, Normen und Institutionen besteht und die insgesamt ein Ergebnis des menschlichen Geistes ist. Diese ›ideellen« Elemente (die, wie wir gleich sehen werden, immer auch sprachliche Formen annehmen) stehen in enger Verbindung mit den äußeren Bedingungen einer gegebenen Epoche und einer bestimmten Gesellschaft, in der sie stattfinden. So können wir die poetischen und mythologischen Weisheiten primitiver Völker nicht [33]mit dem rationalen und präzisen Wissen fortgeschrittener Zivilisationen vergleichen, ohne die Kontexte zu berücksichtigen, in denen sie bestehen. Sie lässt sich nur verstehen, wenn wir uns in den spezifischen Sinn ihrer Kulturen hineinversetzen.

Bei diesem Hineinversetzen handelt es sich jedoch nicht um einen einfachen Vorgang, denn die menschliche Natur ist nicht ein für allemal feststehend; auch sind die Institutionen keine zeitlosen Größen, sondern verändern sich historisch. Die historischen Veränderungen nun erfolgen keinesfalls zufällig, sondern weisen eine Regelmäßigkeit auf. Weil diese Regelmäßigkeit die Geschichte auszeichnet, die ja ein Produkt menschlichen Handelns ist, kann sie wiederum als ein Ausdruck der allgemeinen menschlichen Geistesverfassung angesehen werden.

Diese historische Regelmäßigkeit folgt, so Vico, im Kern einer zyklischen Ordnung: Die menschliche Geschichte weist fortwährend Aufstieg und Abstieg auf, sie ist ein Ab und Auf von »corsi e ricorsi«. Der Grund für diese zyklische Ordnung liegt in der parallelen Entwicklung von menschlicher Natur und menschlicher Gesellschaft: Sowohl Menschen wie Gesellschaften entwickeln ihr Wissen über sich selbst im Laufe der Zeit von der Barbarei zur Zivilisation. Dabei werden die Gesellschaften immer komplexer, und auch die menschliche Natur wird vielfältiger. Beides manifestiert sich in den Veränderungen der Sprache, der Mythen, in Folklore, Wirtschaft usw. Kurz: der soziale Wandel bewirkt einen kulturellen Wandel. Das eine führt notwendigerweise zum anderen und schafft Strukturen und Grenzen, in denen es wiederum operieren kann. Doch dieser Prozess der Wechselwirkung ist nicht endlos. Während die primitive Kultur zur Zivilisation führen mag, enthält diese den Samen ihres eigenen Zerfalls, der unausweichlich ist und der Kultur ebenso wie dem menschlichen Versagen zuzuschreiben ist. Geschichte ist, so meint Vico, tatsächlich das Auftreten und der Zerfall von Zivilisationen.

Jede einzelne Phase des Aufstiegs weist nach Vico drei Stufen auf:

1 Das Zeitalter der Götter: Alle Macht liegt in der Hand der Götter und der Religion. Die Menschen sind roh, und ihre Sprache ist anschaulich.

2 Das Zeitalter der Heroen: Strenge Sitten der Göttersöhne herrschen über die Menschen, deren Sprache sich zur Poesie entwickelt.

3 Das Zeitalter der Menschen: Zum vollen Selbstbewusstsein gelangt, lösen sich die Menschen von Götter- und Heroenkult; sie vertrauen auf die eigene Fähigkeit, die durch eine prosaische Sprache gestützt werden.

Wie schon erwähnt, spielt die Sprache für Vico eine bedeutende Rolle. Denn aus der historischen Wandelbarkeit folgt, dass Wissen, Ideen, Werte und andere kulturelle Elemente einer jeden historischen Gesellschaft sich nur in ihren eigenen Begriffen ausdrücken lassen. Diese Begriffe wiederum sind wesentlich an die Struktur und den Gehalt ihrer Sprache gebunden, da unser Verständnis der sozialen Ordnung von den Begriffen, Ideen und der Sprache abhängt, die wir verwenden. Eine Sprache beinhaltet für Vico nicht nur den »Geist« einer Epoche; sie ist auch Erzeugerin sozialer Ordnung und sozialen Wandels – ein Gedanke, den wir später bei Herder [34]finden.25 In einer berühmten Sentenz behauptet Vico: Der Geist wird vom Charakter der Sprache geprägt, nicht die Sprache von den Geistern derer, die sie sprechen.

Die von Vico hervorgehobene Bedeutung der historischen Sprachen für das Wissen und Denken wird von Herder wieder aufgenommen. Johann Gottfried Von Herder26 argumentierte, dass die Sprache (und damit auch die Dichtung) ein unmittelbarer Ausdruck des Entwicklungsstandes einer Gesellschaft (bzw. eines »Volkes«, wie es zu diesen Zeiten noch heißt) und seiner natürlichen Gegebenheiten sei. Die jeweilige Sprache bilde die wesentliche Grundlage für die Ausbildung einzelner Völker und Nationen.27 Der Grund dafür liege in der mangelhaften Instinktausstattung des Menschen, die durch die Erfindung der Sprache kompensiert werden könne. Aber auch andere kulturelle Formen dienten diesem Zweck. Religion, Kunst und Wissenschaft existierten nicht in einem absoluten Sinn, sondern jeweils in ihrer besonderen kulturellen Ausprägung. Dies zeigt Herder beispielhaft an der Bibel auf. Die zu seiner Zeit aufkommende rationalistische Bibelkritik begann, die »objektiven« Fehler und Lücken der Bibel zu enthüllen, wie etwa die Existenz des Lichtes vor der Erschaffung der Sonne. Diese Kritik, so wandte Herder jedoch ein, könne nie die Lehren der Bibel erreichen. Anstatt sie an der Logik zu messen, sollte sie in ihrem besonderen kulturellen Entstehungskontext betrachtet werden. Die Bibel nämlich drücke die Ansichten eines Hirtenvolkes aus: Für die Beduinen sei eben das Licht tatsächlich vor der Sonne da – in Gestalt der Dämmerung.

 

Herder bringt hier zweifellos den zentralen wissenssoziologischen Gedanken der »Doxa« zum Ausdruck, spiegeln doch die Anschauungen des jüdischen Volkes nicht nur ihre soziale Ordnung, sondern auch ihre Lebensform wider. Herder entwickelte daneben auch andere Gedanken, die später noch berühmte Früchte tragen sollten. Zum einen wandte er sich gegen die (schon von Voltaire vertretene) Auffassung, dass der primitive Geist dem modernen unterlegen sei. Wie später Lévy-Bruhl betonte er, dass zwischen dem Primitiven und dem Modernen kein Verhältnis von Reife respektive Unreife, Irrationalität oder Rationalität oder gut und schlecht herrsche. [35]Beide stellten vielmehr unterschiedliche Arten des Denkens dar, von denen jede ihre eigenen Vorzüge, Möglichkeiten, aber auch Begrenzungen habe: So sehr der moderne Geist in der Lage sei, rational zu planen, Technologien zu entwickeln und abstrakte Probleme zu behandeln, so habe er doch die Fähigkeit verloren, konkrete Erfahrungen zu machen: Die Welt sei ihm ein abstraktes Gebilde und habe ihre Farbe verloren. Der Primitive habe ein sehr viel unmittelbareres Verhältnis zur Welt, eine Gabe der Intuition, die es ihm erlaube, das Ganze zu erfassen.

Folgenreich war auch seine Auffassung, dass jede Gesellschaft, so unterschiedlich die Menschen in ihr auch sein mögen, eine geistige Einheit bilde. Es gebe also so etwas wie eine Art Gemeingeist, der auch als Volksgeist bezeichnet wurde. Dieser Begriff geistert noch lange durch das 19. Jahrhundert, und man wird darin unschwer einen Vorläufer dessen erkennen, was Durkheim später als »kollektives Bewusstsein« bezeichnen wird. Volksgeist wird ein geistiges Produktionsprinzip, eine Art »Gesamt-Ich« genannt, das sich in einzelnen Nationen je unterschiedlich ausdrückt, und zwar in ihren verschiedenen Sprachen, Sitten, Gebräuchen und in ihrer Rechtsordnung. Ursprünglich von Vico formuliert, nahm der Begriff im 18. und 19. Jahrhundert (etwa bei Justus Möser und Adam Müller) propagandistische Züge an: Er diente dazu, die Besonderheit des deutschen Volkes aus seinen kulturellen Gemeinsamkeiten heraus zu begründen. Er klingt im heute noch gebräuchlichen »Nationalcharakter« mit. Auch bei Hegel, auf den wir gleich eingehen werden, tritt der Begriff auf. In seinen Augen bringen verschiedene Nationen zum Beispiel unterschiedliche Rechtssysteme hervor – was in ihrem Volksgeist verankert sei. Diese Vorstellung wird von der ›historischen Rechtschule‹ aufgenommen (dort finden wir auch den Begriff des Volksbewusstseins, das etwa bei dem berühmten preußischen Juristen Savigny die gemeinsamen Überzeugungen eines Volkes bezeichnet). Als ein Ausdruck des Volksgeistes gilt etwa der Umstand, dass das germanische Rechtssystem eine Bevorzugung organischer Beziehungen aufweist, die sich in Genossenschaften äußern. Der romanische und angelsächsische Volksgeist dagegen bevorzuge das Naturrecht, den ökonomischen Liberalismus und den Individualismus. Die später von Wilhelm Wundt begründete Völkerpsychologie übernimmt diesen Begriff, verändert aber seine Bedeutung. Der Volksgeist ist für Wundt keine übergeordnete Größe mehr, sondern etwas, das in den Individuen verankert ist. Für ihn bildet dagegen die Volksseele ein »Gesamtbewusstsein«, das in der Sprache, in Mythen und Sitten zum Ausdruck komme.

Das historische Stufenmodell, also Vicos Dreistadiengesetz der Dekadenz, wurde auch in der Aufklärung aufgenommen, erfuhr jedoch eine andere Betonung: Die Aufklärung sieht den Gang der Geschichte nicht mehr als zyklisch, sondern als linearen Fortschritt. Eine solche lineare historische Entwicklung des Geistes hatte schon Turgot 1750 in seinem »Discours sur les progrès successifs de l’esprit humain« behauptet, in dem die Idee des Fortschritts zum integralen Prinzip der Geschichtsinterpretation gemacht wurde. Die Geschichte entfalte sich aus einem ersten theologischen Stadium zu einem zweiten metaphysischen Stadium und münde schließlich [36]in ein drittes positives Stadium, das von einer wissenschaftlichen Orientierung geprägt sei. Turgot ist damit einer der ersten, der sich die Geschichte als eine aufsteigende Entwicklung vorstellt, in der die Menschen zur selbstverantworteten innerweltlichen Vollendung empor gelangen. Die Menschheit erscheint dabei wie ein einziges Subjekt, das an seiner Vervollkommnung arbeitet: seine Natur entfaltet, seinen Geist aufklärt, seine Gefühle ausweitet und reinigt, das weltliche Los verbessert, Tugend, Freiheit und Wohlstand mehrt.

Einflussreicher noch war Condorcets »Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain«, das mitten in der französischen Revolution im Jahre 1793 geschrieben wurde. Manche behaupten, dass hier zum ersten Mal ein klares Verhältnis zwischen sozialen Strukturen und denen des Denkens erkannt worden sei.28 Denn für Condorcet steht der menschliche Geist in einem perfekten Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit. Dieses Verhältnis wirft jedoch keinerlei Probleme der Täuschung oder des Irrtums auf, da der Fortschritt des menschlichen Geistes, der Fortschritt des Wissens, der Fortschritt der Wissenschaft und der der Menschheit verschiedene Aspekte derselben Bewegung darstellten, die vom Geist angetrieben werde.29 Der Fortschritt der Wissenschaften, so Condorcet, sicherte den Fortschritt der Erziehung, die wieder die Wissenschaft voranbringe. Dieser gegenseitige Einfluss sei eine der mächtigsten und wirksamsten Ursachen für den Weg zur vollkommenen Menschheit.30

Während Voltaire, Turgot und Condorcet die aufklärerischen Gedanken mit der Geschichtsphilosophie zur Fortschrittsvorstellung verbanden, wurde Vico ab den 1820er-Jahren zu einer wichtigen Inspiration der Gegenreaktion auf die Aufklärung. Autoren wie de Maistre, Bonald oder Mme de Stäel bezogen sich auf ihn, weil sie sich gegen die einseitige Verdammung der Religion und den rein rationalistischen Zugang zur Gesellschaft durch die Aufklärung wehrten. Vico wurde zu so etwas wie der Leitfigur der französischen Romantik – und nahm eine ähnliche Rolle ein wie Hegel in Deutschland.31

Auf eine besondere und folgenreiche Art wurde die Beziehung zwischen dem Denken und der Geschichte von Georg Wilhelm Friedrich Hegel formuliert.32 Hegels Grundgedanke der Dialektik geht von einem ursprünglichen Gegensatz zwischen Gedanken und Wirklichkeit aus. Da der Mensch zur Selbsterkenntnis fähig ist, also sich selbst zum Gegenstand der Erkenntnis machen kann, ist er in der Lage, aus dem Gegensatz von Gedanke und Wirklichkeit eine Wirklichkeit zu machen, [37]die vom Gedanken geleitet wird.33 Deswegen kann Hegel im menschlichen Zusammenleben und in den Manifestationen menschlichen Tuns, wie Kunst, Religion und Wissenschaft, auch einen Ausdruck dessen sehen, was er den Geist nennt.

Wegen der »Geistdurchdrungenheit« der Wirklichkeit wird sein Ansatz auch als idealistisch bezeichnet. Der Kern dieses Idealismus besteht darin, dass die äußere Wirklichkeit nicht als selbstgenügsam gilt, sondern durch geistige Bedeutungen, durch Begriffe geleitet wird und somit das Geistige aufnehmen oder ausdrücken kann. Denn indem der Mensch seine Begriffe in die Tat umsetzt (und dies keineswegs nur zweckrational), »objektiviert« er sie – und sich selbst als Handelnden – in der Geschichte und kann sie (und sich) in dem, was er objektiviert hat, erkennen. Es gibt also eine Art »objektiven Geist« – etwa den Volksgeist – die Selbsterkenntnis des Menschen durch das, was er erzeugt hat.

Dieser objektive Geist nun realisiert sich in der Gesellschaft bzw., wie Hegel betont, in der Geschichte: Der Geist drückt sich in sozialen Formen aus und wird dadurch auch in der Sozialität erkennbar. Indem der Mensch seine sozialen Beziehungen zum Beispiel in rechtlichen Formen, in religiösen Gestaltungen oder im Staat objektiviert, kann er auch seine eigenen Beziehungen als selbst produziert erkennen. Dem Recht und dem Staat schreibt Hegel dabei eine besondere Rolle zu, da Recht und Staat für den Zusammenhang der gesellschaftlichen Handlungen verantwortlich seien. Auch die Religion ist für ihn durchaus eine der Formen, in denen der objektive Geist erscheint. Allerdings handelt es sich bei ihr um eine eigenartige Form: Sie ist eine List der Vernunft, mit der der Weltgeist die Akteure dazu bringt, das zu tun, was an der Zeit ist, auch wenn sie meinen, etwas anderes zu tun.

In der historischen Entfaltung solcher sozialen Formen komme der Geist immer mehr zu sich selbst – und das gelinge ihm, indem er die Formen wechsele. Es sei nun allerdings nicht die Form der Religion, die seine zeitgenössische bürgerliche Gesellschaft integrieren könne, sondern vielmehr der Staat, da in ihm der Wille zur objektiven Wirklichkeit werde. In ihm finde die zerstückelte und individualisierte bürgerliche Gesellschaft ihre Einheit. »Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.«34 Hegel hat somit als einer der ersten den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft erkannt und zugleich den Staat auf eine Weise idealisiert, wie sie gerade für die deutsche Geschichte tragisch werden sollte.

Die besondere geschichtsphilosophische Wendung Hegels besteht darin, dass er die Verwirklichung des Geistes als eine aufsteigende, fortschreitende Linie sieht. Zwar hat [38]jede historische Gesellschaft ihren eigenen »Zeitgeist«, der alle Wissensvorgänge leitet, die zu dieser Zeit ablaufen. Aus diesem Grunde ist auch jeder Gedanke zu seiner Zeit vernünftig, auch wenn er aus dem Blickwinkel einer späteren Zeit als unvernünftig erscheinen mag.35 Die Geschichte insgesamt aber stellt für ihn eine allmähliche Annäherung an die Vernunft dar. Sie lässt sich deswegen als Rationalisierung verstehen. Es ist »der ungeheure Überschritt des Innern in das Äußere, der Einbildung, der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewusstsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat«.36

Historisch hatte auch schon das Christentum dazu beigetragen. Eine revolutionäre Wende nimmt die Entwicklung des Geistes aber, wenn die Vernunft beginnt, sich in den Sozialgebilden zu offenbaren, wie dies in der französischen Revolution geschieht. Werte und Normen erscheinen dem Menschen nun nicht mehr als etwas religiös Begründetes oder Jenseitiges. Vielmehr ringen sich die Menschen dazu durch, die soziale Welt nach dem Muster der eigenen Vernunft gestalten zu wollen. Dieser Versuch führt nicht nur zur Freiheit, zur Emanzipation der Subjekte, also des subjektiven Geistes. Sie hat auch zur Folge, dass die Handlungen der Subjekte zufällig werden, da sie nur noch ihre eigenen partikularen Ziele verfolgen, ohne in ihren Handlungen jedoch das Allgemeine des menschlichen Geistes entdecken zu können. Dieses besondere Problem der Partikularität wird für Hegel erst mit dem Staat behoben: Hier findet die Weltgeschichte ihr Ziel, denn hier gelangt der kollektive Geist nicht nur zum Wissen, was er ist. Er macht dies auch gegenständlich in einem für alle Individuen als Orientierung und gemeinsame »Objektivierung« zugänglichen und als Handlungsziel leitenden Gemeingebilde.

Hegels Geschichtsphilosophie ist eigentlich eher eine Vereinnahmung des Sozialen unter den Geist bzw. das Wissen, wird doch die Vernunft zum organisierenden Prinzip der Wirklichkeit. Aber genau dieser Gedanke zeichnet ja den Idealismus aus: dass das Wissen die sozialen Zusammenhänge leiten kann. Für die Entstehung der Wissenssoziologie ist dieser Gedanke von Bedeutung, weil er das Verhältnis von Gesellschaft und Wissen als etwas historisch Wandelbares fasst. Hegel treibt diesen Gedanken noch auf die Spitze, indem er das Soziale (wie etwa den Staat) zu einer Form des Geistigen erklärt: »Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht [39]kommt, sowie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein.«37

 

Auch wenn damit die Vorstellung der Gestaltung des Sozialen durch das Denken kaum mehr überboten werden kann, sollten wir uns doch noch einem weiteren geschichtsphilosophischen Modell zuwenden, das für die Soziologie eine besondere Rolle spielt. Auguste Comte38 setzt an einem Modell an, das dem Hegels durchaus ähnelt. Auch er geht nämlich von der historischen Fortentwicklung nicht nur der Gesellschaften, sondern auch des Wissens in den Gesellschaften aus – und zwar in einer ähnlichen Richtung wie bei Hegel: Es gibt ein »Gesetz des notwendigen Kulturfortschrittes«. Diese Idee des Fortschritts verwirkliche sich in drei Perioden, die er in seinem berühmten Dreistadiengesetz formuliert.

Die Entwicklung menschlicher Gesellschaften vollzieht sich nach einem dreigeteilten Muster, das sehr an die Stadien bei Vico erinnert. Comtes Fassung weist jedoch drei Unterschiede zu dem Modell Vicos auf: Zum einen vertritt er den Fortschrittsgedanken. Zum Zweiten ist es beachtenswert, dass es auch hier (ähnlich wie bei Hegel) das Denken ist, das sich verändert. Die Geschichte menschlicher Gesellschaften ist in diesem Sinne die Geschichte der menschlichen Wissensformen bzw. Denkweisen. Drittens schließlich identifiziert Comte andere Phasen von Denkweisen als Vico.

Die Phasen der Denkweisen oder Wissensformen der drei Stadien bei Comte lassen sich grob umreißen: Im ersten Stadium erklärt der Mensch die Erscheinungen, indem er sie Wesen und Kräften zuschreibt, die dem Menschen ähneln. Im zweiten Stadium beruft er sich auf abstrakte Wesenheiten, wie etwa die Natur. Und im dritten Stadium beschränkt sich der Mensch darauf, die Erscheinungen zu beobachten und die Regeln festzustellen, die zwischen ihnen bestehen. Hatte die Phantasie in der theologischen und metaphysischen Phase noch das Übergewicht, so ist es nun die empirische Beobachtung. Jede dieser Phasen kann wieder in unterschiedliche Denkformen unterteilt werden. So setzt das theologische Stadium mit dem Fetischismus ein, der alle Dinge, die toten wie die lebenden, zu beleben sucht und auf eine dem Menschen ähnelnde anthropomorphe Weise fasst.39 Darauf folgt der Polytheismus, der in den Monotheismus übergeht und schließlich das Ende der theologischen Phase einläutet. Denn nun wird Natur nicht mehr als willkürlich angesehen, da ein Gott im Hintergrund steht, der Gesetzmäßigkeiten begründet. Das metaphysisch-abstrakte Stadium zeichnet sich dadurch aus, dass die bewegenden Ursachen nicht mehr der Transzendenz zugeschrieben werden, sondern als weltlich-abstrakte Prinzipien gelten, wie etwa die »Substanz« oder die »Vernunft«. Grundlage der Gesellschaft ist [40]nun der Rechtsvertrag. Es beginnen sich auch einzelne positive Wissenschaften auszubilden, wie etwa die Astronomie, die Physik oder die Biologie, doch wird das Soziale noch nicht als Gegenstand der Wissenschaft behandelt. Zu Comtes Lebzeiten nun ist es der Geist der positiven Wissenschaften, der sich mehr und mehr durchsetzt und sich durch die Methode der Beobachtung, das Aufstellen von Gesetzen und das Experiment auszeichnet. Immer mehr Gegenstände, die bislang der Theologie und Metaphysik vorbehalten waren, darunter auch das Soziale, geraten in den Griff dieser positiven Wissenschaften, die damit eine eigene historische Phase begründen.

Ihre wissenssoziologische Relevanz gewinnt die Phasenbildung zum einen dadurch, dass Denken und Wissen, ja die Vernunft insgesamt als historisch variabel erscheinen. Es gibt keine durchgängige menschliche Vernunft. Vielmehr müssen verschiedene Zeiten und verschiedene Gesellschaften im Rahmen ihrer eigenen Rationalität verstanden werden. Wissenssoziologisch daran ist zum anderen, dass Comte die Entwicklung des Denkens auf soziale Kategorien und auf die in Frankreich schon seit längerem kursierende »Klassentheorie« bezieht.40 Der Kulturzustand entspricht in seinen Augen »notwendig de(m) Zustand der sozialen Organisation, sowohl der geistlichen wie der weltlichen«41, da er den Zweck der gesellschaftlichen Handlungen determiniert und die sozialen Kräfte schafft, entwickelt und entsprechend formt. Comtes Soziologie ist eine »Wissenschaft des Verstandes, weil die Art des Denkens und die geistige Tätigkeit stets eng mit dem sozialen Kontext verflochten sind. […] Der Geist ist sozial und historisch; der Geist jeder Epoche und jedes Denkens muss in einem sozialen Rahmen gesehen werden. Um verstehen zu können, wie der menschliche Geist funktioniert, muss man diesen Rahmen kennen«.42

Das lässt sich an den einzelnen Phasen veranschaulichen: Als Muster für das theologische Zeitalter etwa schwebt Comte das Mittelalter vor, das er als theologisch und militärisch charakterisiert. Zur katholischen Denkauffassung gesellte sich die militärische Kunst, die bei den feudalen Kriegsherren ein hohes Ansehen genoss. Die zu Comtes Zeiten im Entstehen befindliche wissenschaftliche und industrielle Gesellschaft zeichnet sich dagegen nicht nur durch wissenschaftlich positives Denken und theoretisches Wissen aus. Als neue soziale Kategorie treten Wissenschaftler an die Stelle von Priestern und Theologen und erben deren geistige Macht. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die über umfassendes positives Wissen verfügen. Das anbrechende Zeitalter setzt auf »Männer, welche, ohne ihr Leben der speziellen Pflege einer bestimmten Beobachtungswissenschaft zu widmen, über die Fähigkeit [41]wissenschaftlichen Denkens verfügen und der Gesamtheit der positiven Wissenschaft ein hinreichend vertieftes Studium gewidmet haben«.43

Comte räumt zwar ein, dass es in allen Epochen positive Wissenschaften gegeben habe. Im Grunde hätte es lediglich eine Periode gegeben, in der nur eine Denkweise vorherrschte – eben der Fetischismus. Die Vorherrschaft einer Denkweise werde erst wieder mit dem Positivismus erreicht. Allerdings vollziehe sich die Entwicklung der Wissenschaften nicht in allen Disziplinen gleichzeitig. So habe schon zu Comtes Lebzeiten die Mathematik den höchsten Grad an Positivität erreicht, gefolgt von der Astronomie. Auf die Physik folge die Chemie und die Biologie bzw. Physiologie. Erst dann sei die Soziologie an der Reihe. Denn die Soziologie habe es (im Vergleich zu den anderen Wissenschaften) mit dem wohl komplexesten Gegenstand zu tun: der Gesellschaft. Ihre besondere Stellung leite sich aus der Breite der Methoden ab, mit der sie arbeitet. Genüge der Mathematik noch die Logik, so bedürfe die Mechanik oder die Geometrie zusätzlich der Beobachtung. Bei der Physik werde überdies zusätzlich das Experiment erforderlich; die Klassifikation komme bei der Chemie dazu und der Vergleich bei der Biologie. Die Soziologie schließlich nutze all die genannten Methoden und setze darüber hinaus noch den historischen Vergleich ein. Sie erfülle zudem eine besondere Funktion, weise sie doch darauf hin, dass nun auch die Entwicklung als Ganzes zum Gegenstand positiver Beobachtung und rationaler Planung gemacht werden könne. Sie kröne insofern die Entwicklung, als dass sie die geistigen Fähigkeiten des Menschen selbst zum Gegenstand machen könne.