Vergangenheit

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Eduards Erinnerungen führen zu ständigen Beziehungskrisen und vermitteln den Eindruck, dass die Vergangenheit nicht bewältigt ist. Auch die Menschen, denen Eduard begegnet, neue Kollegen und alte Bekannte, leben in einer „ewigen Nach-der-Wende-Zeit und Nachkriegszeit“. Dieser Sachverhalt tritt deutlich hervor in ständigen Debatten und Reibungen zwischen Ossis und Wessis, Ossis, die dageblieben sind und Ossis, die nach dem Westen abwanderten, und zwischen all den Gruppen, die sich in der DDR gebildet hatten. Der versöhnliche Schluss des Romans kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vergangenheit immer gegenwärtig ist und die Grundlage quälender Erinnerungen bleibt.

Ganz ähnlich präzisiert Wolfgang Hilbig das Schuldbewusstsein in Gedichten wie etwa „deutscher morgen“, „alibi“ und „grober rückfall“, in denen die Vergangenheit als unerledigte, unvollkommene Dokumentation erscheint. Die Abrechnung im Gedicht „nach dem zweiten / krieg“ erfasst das Fortbestehen des Alten in der zeitlichen Veränderung:

nach dem zweiten

krieg vergaß man beim aufräumen

einige vokabeln

aus der welt zu schaffen.

noch immer nicht

sind aus der deutschen sprache verbannt

wörter wie

unverbrüderlich

unzertrennlich

uneinnehmbar

unbesiegbar.55

Jurek Becker verfolgt in der souverän gestalteten Erzählung Bronsteins Kinder (1986) die Spuren, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart führen und in der Lösung der Konflikte die Möglichkeit des Vergebens andeuten. Die vorsichtige Sondierung des Gegenwärtigen und Gestrigen erfolgt aus der Sicht des jüdischen Schülers Hans. Becker schildert einen grundlegenden Ausschnitt aus dem Lebensweg von Hans, indem er multiperspektivisch gebrochene, gegenwärtige Erfahrungen und Erinnerungsmuster entwirft, die deutsch-jüdische Beziehungen, den Konflikt zwischen Rechtsstaat und Willkür und Vergeltung und Vergeben objektivieren. Das Zusammenwirken von Individuellem und Gesellschaftlichem wird deutlich in dem scharf profilierten Handlungsverlauf. Der Vater und zwei seiner Freunde nehmen den ehemaligen Lageraufseher Arnold Heppner gefangen, binden ihn in einem Sommerhaus fest, verhören ihn und verlangen ein Geständnis seiner Schuld. Hans überrascht die Gruppe und versucht, seinen Vater von dem widerrechtlichen Handeln zu überzeugen. Er selbst denkt über vergangene Willkür, das Unrecht, die Opfer des Faschismus und die gegenwärtige Situation nach. Er besucht den Gefangenen und ringt sich schließlich zu dem Entschluss durch, den Lageraufseher zu befreien. Er kauft Feilen, um die Fesseln zu beseitigen, kommt nach Hause, wo er den am Herzschlag verstorbenen Vater findet, führt aber seinen Plan durch und befreit Heppner. Hans wird von Freunden des Vaters, Rahel und Hugo Lepschitz, aufgenommen und lebt mit ihnen 1973 bis 1974. Er besteht das Abitur, wird zum Studium zugelassen und hofft auf eine Zukunft, in der die Vergangenheit endlich bewältigt ist.

Die Darstellung ist konzentriert auf den geistig-seelischen Prozess der Selbstfindung, der in der Auseinandersetzung mit der Familie, der Gesellschaft und der Vergangenheit zu einer höheren Stufe der Selbsterkenntnis führt. Zwischenmenschliche Beziehungen werden erschwert durch die Reaktion der Umwelt auf die „jüdische Frage“ und durch die konkrete Situation des Sohnes, der mit seinem Vater lebt – die Mutter ist verstorben, die Schwester lebt in einem Krankenheim – und die Welt aus eigener und dessen Sicht erlebt. Der Vater ist verschlossen. Kleine Missverständnisse erschweren das tägliche Leben. Hans stellt fest: „Ich hörte ihn seufzen und wollte etwas Tröstliches sagen, doch als ich mich umdrehte, saß er nicht mehr da. So war es immer: immerzu war einer gekränkt, immerzu mußte der andere sich plagen, das Elend wieder aus der Welt zu schaffen.“56 Hans steht den oft gehörten Erzählungen des Vaters „kühl und skeptisch“ gegenüber und findet, er sei unwillig den Umschwung im Denken der jungen Generation zu verstehen. Hans ist beliebt in der Schule, aber wird anders, vorsichtiger behandelt, sobald man weiß, dass er Jude ist. Ein Vorfall im Duschraum, wo Hans seine Badehose nicht auszieht, belegt, dass auch er sich zuweilen als Außenseiter sieht. Positive und negative Vorurteile bestehen fort. Die Freundin Martha findet Arbeit als Komparsin und spielt eine Jüdin mit gelbem Stern. Sofort findet man, sie sehe „echt“ jüdisch aus. Die Komparsen sitzen in Pausen als Gruppen: die SS-Soldaten zusammen und gegenüber die Juden nebeneinander. (196ff.) Die Gefangennahme des Lageraufsehers und die Diskussionen der Beteiligten veranschaulichen die nahezu unüberbrückbaren Vorstellungen vom gegenwärtigen Staat. Hans ist sicher, dass jedes Gericht den Mann ohne Sympathie und aus Überzeugung verurteilen werde. Der Vater dagegen glaubt, der Aufseher wird nur verurteilt, weil „ihnen nichts anderes übrigbliebe.“ (129) Hans kämpft gegen die Unvernunft, findet die Opfer haben kein Recht, sich über die Gesetze zu stellen, und fürchtet sich, in einem Land zu leben, in dem sich jeder selbst zum Richter ernennt. (136–140) Aber er erkennt die ständige Gereiztheit der überlebenden Juden. Ihre Vorstellung vom Deutschtum war literarisch und philosophisch gefärbt. Die Wirklichkeit entsprach nie und entspricht auch jetzt nicht dem Ideal.

Pascal Bruckner kommt in seiner ausführlichen und überzeugenden Untersuchung des weitverbreiteten Schuldgefühls in der westlichen Welt zu einem vergleichbaren Ergebnis. Er findet, Schuldkomplexe entspringen der Überzeugung, dass der Verlauf historischer Entwicklungen nicht der Idealkonzeption gesellschaftlicher Reifung entspricht. Die Vorstellung eines Ablaufs der Geschichte in die Richtung höherer Sittlichkeit verurteilt alle, die an den Fehlentscheidungen des 20. Jahrhunderts beteiligt waren. Darüber hinaus verurteilt dieser Wertmaßstab die gegenwärtige Generation zum Schweigen.57 Bernhard Schlink hat sich in Essays und Vorträgen mehrmals eingehend mit der Vergangenheit, mit Schuld und Sühne auseinandergesetzt. Er hat die angeschnittenen Fragen außerdem überzeugend in einigen Erzählungen entwickelt. Da Schlink Jurist ist, kommt seinen Feststellungen der gesetzlichen Verantwortung für Straftaten besondere Bedeutung zu. Wie viele in der vorliegenden Darstellung aufgenommenen Kritiker und Autor(inn)en ist er überzeugt davon, dass Auschwitz und der Holocaust unter dem Zeichen der Unvergänglichkeit stehen. Die Katastrophe, in der die Grenze zwischen Gut und Böse eindeutig war, hat Wunden gerissen, die schwer zu heilen sind und „wieder aufbrechen können“. Schlink geht davon aus, dass sich alle mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen müssen, um einen Weg zum Geschichtsverständnis zu finden. „Der Vergangenheit in die Augen sehen – das heißt sehen, daß die Vergangenheit uns anschaut, uns stellt und daß wir ihr furchtbares Angesicht letztlich nur ertragen können, wenn wir entweder gleichgültig und zynisch werden oder aber etwas entgegenzusetzen haben. Letztlich heißt, der Vergangenheit in die Augen sehen, eine Entscheidung treffen. Zunächst heißt es, die Herausforderung ihres furchtbaren Angesichts annehmen.“58 Dieses Gegenübertreten verlangt die Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne.

Die Erwägungen in Vergangenheitsschuld (2007) kommen zu Ergebnissen, die in jeder Aufarbeitung der Vergangenheit zu berücksichtigen sind. Schuld kann nicht nur im Handeln Einzelner, sondern in geschichtlichen Abschnitten wurzeln. Deshalb können Generationen schuldig werden oder sich schuldig fühlen. Diese Schuldgefühle entstehen in Personen aus der Empfindung, zwar nicht strafbar gehandelt zu haben, aber Zeuge der Ereignisse gewesen zu sein. Somit konnten Menschen schuldig werden, wenn sie keinen Widerstand leisteten oder Widerspruch erhoben. Diese Beobachtung setzt ein Ideal des persönlichen Verantwortungsbewusstseins, der Moral, Sitte, Religion voraus, das unter einer Diktatur, in der Menschen schon vor einem Parteiabzeichen erbleichten, kaum denkbar war. Schlink lehnt jedoch die Vorstellung kollektiver Tatschuld ab. „… es gibt Schuldübertragungen weder in der Horizontalen, unter Angehörigen einer Generation, noch in der Vertikalen, von einer Generation auf die nächste. Kollektivschuld, bei der alle Glieder des Kollektivs schuldig sind, weil einige schuldig sind, ist mit dem juristischen Begriff der Schuld unvereinbar.“59 Er erkennt jedoch, dass die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Volk „Solidarität“ stiftet, die Befangenheit, Scham und Schuldgefühle hervorruft, die den rechtlichen Schuldbegriff sprengen. Die einzige für die Nachkriegsgenerationen, aber wahrscheinlich für viele nicht denkbare Entscheidung wäre, sich von der Vergangenheit der Eltern loszusagen. (32–33) „Gerade weil die Vergangenheit die gegenwärtige Identität mitkonstituiert, gehört zum Umgang mit ihr, sich von Vergangenem loszusagen, mit Vergangenem zu brechen und, so es um kollektive Vergangenheit geht, diejenigen abzulehnen und auszugrenzen, deren individuelle Vergangenheit der kollektiven nicht zugerechnet werden soll.“ (78)

Zuweilen verhüllte, manchmal klar ersichtliche Stellungnahmen zu diesen Fragen bestimmen den Erfahrungshorizont der Figuren in Schlinks Erzählungen Der Vorleser (1995), „Das Mädchen mit der Eidechse“ (2000) und Das Wochenende (2008). Die Handlung des Bestsellers Der Vorleser verknüpft in klar umrissener Folge von Ereignissen die alltägliche Geschichte eines Jungen, der sich in eine ältere Frau verliebt und mit ihr ein Verhältnis hat, mit dem Problem der Vergangenheitsbewältigung, das unter dem Vorzeichen „Auschwitz“ steht. Der fünfzehnjährige Michael Berg verliebt sich in die Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz. Das Verhältnis gibt dem „Jungchen“, wie sie ihn nennt, Sicherheit und das Gefühl erwachsen zu sein. Es hinterlässt deutliche Spuren in seiner erotischen Gefühlswelt und seiner Haltung zur Umwelt. Das Ungewöhnliche, eigentümlich Geheimnisvolle in der Beziehung ist die Tatsache, dass Michael der Frau vor dem intimen Zusammensein immer vorlesen muss. Das Vorlesen beginnt, nachdem er ihr von den in der Schule besprochenen Texten erzählt. Sie ist hochinteressiert, will mehr wissen und erwidert auf seine Bemerkung, sie könne die Sachen doch selbst lesen, er habe eine besonders schöne Stimme und solle ihr zur Freude vorlesen. „Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen – das wurde das Ritual unserer Treffen.“60

 

Der Sommer kommt; Ferienzeit; Michael ist mit Gleichaltrigen im Schwimmbad, sieht plötzlich Hanna, die ihm zuschaut, und am nächsten Tag hat sie die Stadt verlassen. Ob es die Erkenntnis war, dass er letztlich nicht zu ihr, sondern zu seiner Generation gehörte, oder ob sie fühlte, wie es ihn wegzog, bleibt unbeantwortet. Er beendet die Schule, studiert Jura und nimmt an einem Seminar teil, in dessen Rahmen die Studenten die Verhandlung in einem KZ-Prozess verfolgen und zu Diskussionen über Schuld und rückwirkende Bestrafung auswerten. Michael sieht Hanna als Angeklagte im Gerichtssaal wieder, sie wird für den Tod einer Gruppe von KZ-Häftlingen in einer brennenden Kirche verantwortlich gemacht. Er beobachtet das Verfahren von Verlesung der Anklage über Bestandsaufnahme, Untersuchung, Eingaben der Verteidiger und Gutachten bis zur Urteilsverkündung. Michael ist jedoch nicht nur objektiver Beobachter, sondern Mitbeteiligter, der sein eigenes Verantwortungsbewusstsein überprüft, und Mitwisser, denn er ist der Einzige, der Hannas streng gehütetes Geheimnis kennt, dass sie Analphabetin ist. Die Bedeutung seines früheren Vorlesens wird deutlich, zugleich auch Hannas Verlangen, unter keinen Umständen ihre Unkenntnis zu gestehen.

Michael gerät in tiefste Gewissenskonflikte. Hanna ist der volle Umfang der Anklage überhaupt nicht bewusst; sie hat Dokumente unterschrieben, deren Inhalt ihr unbekannt geblieben ist; mildernde Umstände wären anzuführen; sie wird von den Mitangeklagten zum Sündenbock gestempelt, ohne dass sie es merkt. Ihr Schweigen verlangt eine Entscheidung. Er fragt sich, ob er das Geheimnis auch gegen den Willen Hannas lüften soll, versucht die ethische Voraussetzung seines Handelns oder Schweigens zu ergründen, und erfährt die Notlage des Mitwissers, die ihn dazu zwingt, sich mit der Situation der Mitwisser in der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Michael durchläuft Stufen der Entwicklung in seinem Verhältnis zur Vergangenheit, die in Umrissen eigentlich in allen Aufarbeitungen der deutschen Geschichte geschildert werden. Die Studenten des KZ-Seminars verlangen Rechtfertigung und Sühne. „Je furchtbarer die Ereignisse waren, über die wir lasen und hörten, desto gewisser wurden wir unseres aufklärerischen und anklägerischen Auftrags. Auch wenn die Ereignisse uns den Atem stocken ließen – wir hielten sie triumphierend hoch.“ (88) Michael erfährt Gruppensolidarität: „das gute Gefühl, dazuzugehören“. (89)

Michael erkennt die Schuld Hannas, versucht aber auch ihr Verbrechen zu verstehen. Es gelingt nicht. „Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen.“ (151) Sie nicht zu verstehen, kommt ihm wie ein Verrat an ihr vor. Er grübelt nach über das Grässliche und zugleich Verständliche im Handeln Hannas. Sie hatte als Lageraufseherin die Aufgabe, die Arbeiter und Arbeite­rinnen, die nicht mehr tauglich waren, zum Transport zur Vergasung bereitzustellen. Sie hielt immer Vorleserinnen zurück, gab ihnen damit eine längere Lebensfrist, setzte sie aber letztlich doch auf die Liste, um ihre Pflicht zu tun. Michaels Vorstellungskraft versagt: „Wenn ich heute an die Jahre damals denke, fällt mir auf, wie wenig Anschauung es eigentlich gab, wie wenig Bilder, die das Leben und Morden in den Lagern vergegenwärtigten.“ (142) Später beschließt Michael das KZ Struthof-Natzweiler anzusehen. Er trampt. Ein Autofahrer nimmt ihn mit. Ein Gespräch beginnt, als der Fahrer nach seinem Bestimmungsort fragt. Der Fremde, ein Kriegsteilnehmer, der kein Schuldgefühl hat, vertritt die Ansicht, dass die Lageraufseher, Offiziere und Soldaten nur ihre Arbeit taten. Keine Befehle, kein Gehorsam, kein Hass, keine Rache, keine Gefühle, sondern eine allumfassende Gleichgültigkeit. Michael erkennt die Sollerfüllung der Tagesarbeit. (144–146) Er findet, das Böse als Alltäglichkeit trifft auch auf Hanna zu. Als er im KZ herumläuft, kann er die Baracken nicht mit Bildern Leidender füllen: „Aber es war alles vergeblich, und ich hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens.“ (149) Der Erzähler bemerkt, dass für einige die permanente Auseinandersetzung mit der Vergangenheit „Ausdruck des Generationskonflikts“ war, für andere, die ihren Eltern nichts vorwerfen konnten, wurde die Vergangenheit zum eigentlichen Problem. „Was immer es mit Kollektivschuld moralisch und juristisch auf sich haben oder nicht auf sich haben mag – für meine Studentengeneration war sie erlebte Realität.“ (161) Einige überwanden ihre Scham, indem sie sich von der vorausgegangenen Generation absetzten, andere blieben auf immer einfach durch die Liebe zu den Eltern verstrickt.

Michael verfolgt den Prozess im Gericht. Alle wirken ermüdet. Richter, Schöffen und Anwälte sind nach langen Verhandlungswochen nicht mehr bei der Sache. Alle haben genug, wollen wieder in die Gegenwart (131). Michael erkennt das Ausmaß der Schuld, aber auch die Lebenslüge Hannas und stellt fest: „Mit der Energie, mit der sie ihre Lebenslüge aufrechterhielt, hätte sie längst lesen und schreiben lernen können.“ (132) Hanna wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er liest wieder, schickt ihr Kassetten, bekommt dann Antwort, der er entnimmt, dass sie lesen und schreiben gelernt hat. Sie wird begnadigt; er erhält einen Brief der Leiterin des Gefängnisses, besucht Hanna, verspricht, sie abzuholen. Als er kommt, hat sie als Sühne Selbstmord begangen. In der Zelle findet er umfassende und vielseitige Holocaust-Literatur und ihr Testament: Michael soll ihre Ersparnisse und etwas Geld, das in einer lila Teedose ist, der Tochter der Frau übergeben, die mit ihrem Kind den Brand in der Kirche überlebte. „Sie soll entscheiden, was damit geschieht.“ (196) Michael findet die Frau in New York; sie behält die Teedose, das Geld wird im Namen Hannas an die „Jewish League Against Illiteracy“ überwiesen. Mit der kurzen „computergeschriebenen“ Antwort in der Tasche besucht Michael Hannas Grab, zum ersten und einzigen Mal.

Die Novelle „Das Mädchen mit der Eidechse“ greift in konzentrierter Form das dem Vorleser zugrunde liegende Thema der Vergangenheitsbewältigung auf.61 Der Erzähler schildert ein sein Leben von der Kindheit bis in die ersten Jahre des Jurastudiums bestimmendes Urerlebnis: die Wirkung eines Gemäldes. Das Bild ist der Angelpunkt der Erzählung. Es ist geheimnisumwittert. Die Eltern schweigen über seine Herkunft und die Identität des Künstlers. Es führt zu Spannungen zwischen den Eltern, wird vom Vater wie ein Schatz gehütet, von dem niemand wissen darf. Das Bild fasziniert, verzaubert den Jungen, wirkt geheimnisvoll und zugleich bedrohlich, weckt sein leidenschaftliches Interesse und lässt ihm keine Ruhe. Der Junge bemerkt, dass die Eltern etwas verschweigen und erkennt ihre Vorsicht im Umgang mit anderen. Er macht sich scheinbar keine besonderen Gedanken darüber, als der Vater als Richter abtritt, eine gering bezahlte Stellung bei einer Versicherung annimmt und schließlich jede Arbeit verliert, weil er zu viel trinkt. Der Versuch das Rätsel nach dem Tod des Vaters zu lösen, enthüllt zwar dessen Verstrickung in moralischer und juristischer Schuld im Krieg, lässt aber dennoch keine eindeutige Antwort zu. Der Vater hat als Kriegsgerichtsrat in Straßburg Menschen zum Tod verurteilt, hat möglicherweise das Gemälde von einem halbjüdischen Künstler als Geschenk erhalten, weil er der Familie zur Flucht verhalf, möglicherweise aber auch nur zur Aufbewahrung. Da sich aus den Nachforschungen des Sohns ergibt, dass sich in Straßburg jede Spur von dem Maler René Dalmann verliert, entsteht zusätzlich der Verdacht, der Vater habe sich vielleicht am Eigentum des Malers vergriffen, sei selbst für dessen Tod verantwortlich. Die Fragen bleiben unbeantwortet. Vom Vater liegt nur eine juristische Richtigstellung seines Falls vor. Der Sohn nimmt das Bild zu sich, kann sich jedoch nicht dazu durchringen, es einem Museum auszuliefern. Er verbrennt es am Strand und sieht noch für den Bruchteil einer Sekunde unter dem Bild das berühmteste in Ausstellungskatalogen und Kunstgeschichten erwähnte Gemälde des Malers, das er „hatte schützen und auf die Flucht mitnehmen wollen.“ (54) Der Schluss der Novelle stellt die Frage der Selbstverantwortung in grelles Licht: „Eine Weile schaute er den blauroten Flämmchen zu. Dann ging er nach Hause.“ (54)

Die Handlung in Das Wochenende ist auf Gespräche, Diskussionen, Behauptungen und scharfe Entgegnungen begrenzt. Der Anlass für das Treffen ist die Begnadigung des Terroristen Jörg. Seine Schwester hat auf dem Land in Brandenburg ein Haus gekauft, hat seine und ihre alten Freunde eingeladen, die hier Freitag, Samstag und Sonntag bleiben sollen, holt Jörg vom Gefängnis ab und bereitet mit ihrer Freundin den Empfang vor. Aus den Unterhaltungen aller wird deutlich, dass sich keiner richtig an die Tage der Studentenunruhen, Vietnam-Proteste und Anschläge gegen den Staat (die Machthaber und ihre Bürokraten) erinnern kann. Sie leben in einer anderen Zeit, haben Karriere gemacht und sich abgefunden. Sie haben sich von der Vergangenheit losgesagt, haben sich ihre „Sünden“ vergeben und dadurch von der Last der Gemeinschaftsschuld befreit. Sie erinnern sich an die Atmosphäre, die nächtelangen Diskussionen, Planungen, Vorbereitungen auf Taten. Sie wollten „selbstlos denkend“ die Welt verändern. Der Staat war ein Unrechtsstaat und Widerstand ohne Gewalt war undenkbar.62 Die nächste Generation kommt in der Auseinandersetzung zwischen Jörg und seinem Sohn Ferdinand zu Wort. Ferdinand verlangt eine Erklärung für die Aktionen, die schuldlosen Menschen das Leben kostete. Er besteht eigentlich auf einem Geständnis der Schuld. Er sieht sich in der Rolle des Sohnes, der den Vater anklagt, und als Stellvertreter der mit ihm befreundeten Kinder eines ermordeten Bankchefs. Er donnert: „Du bist zur Wahrheit und zur Trauer so unfähig, wie die Nazis es waren. Du bist keinen Deut besser – nicht als du Leute ermordet hast, die dir nichts getan haben, und nicht als du danach nicht begriffen hast, was du getan hast. … Dir tun nicht die anderen leid, du tust dir nur selbst leid.“ (159) Der Vater sitzt vor ihm mit aufgerissenen Augen und halboffenem Mund. Er kann sich an nichts erinnern. Am Ende resigniert Ferdinand. Er erkennt, dass sich sein Vater von seiner Vergangenheit losgesagt hat, nichts mehr weiß oder wissen will und auch das Leben in der Gegenwart nicht begreift.

Der Blick trifft auf Studentenunruhen, die Jahre der DDR, den Krieg und die Nazi-Herrschaft, Perioden der deutschen Geschichte, die einem unbereinigten Minenfeld ähneln, in dem man leicht zu Schaden kommt. Berlin und Auschwitz sind politische und literarische Chiffren für Abschluss und Neuanfang, für individuelle Schuld, kollektives Schuldgefühl und Unterlassungssünden. Köln, Dresden und Gulag sind Chiffren für Leiden, Klage und Opfer. Die Besinnung auf die Vergangenheit enthüllt sich als potentieller Gewinn für das Verständnis der Gegenwart. Die Haltung aller Autor(inn)en, die sich bemühen, das historische Geschehen zu begreifen, steht unter dem Leitspruch: Beschäftigung mit der Vergangenheit ist Tagespflicht.