Vergangenheit

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In den drei Erzählungen der Sammlung Bar Dom versucht der Erzähler, den Ort und in der erweiterten Perspektive seine Zeit zu bestimmen. Seine Orientierungssuche wird zu einem Gang durch Labyrinthe, auf dem sich, den von M.C. Escher gezeichneten Irrgängen vergleichbar, die Raumperspektive ständig verschiebt. Die Beobachtungen des Erzählers werden von kurz aufblitzenden Kindheitserinnerungen und Gedanken an vergangene historische Ereignisse unterbrochen. Die Orte, zeitlos und zugleich zeitnahe, spiegeln historische Prozesse, technische Entwicklungen und den Abbruch der Zivilisation wider. Der Dom, in Einzelheiten des Torbogens und des Chorgestühls als romanisch-fränkischer Bau bestimmt, befindet sich gleichzeitig in Frankreich und Santiago. Die Bauarbeiten außen dienen gleichermaßen der Restauration und der Neugestaltung, da Spielautomaten im Inneren des Doms den Besuchern Religionsersatz anbieten. Der Erzähler betritt den Dom. Die Anlage ist noch ersichtlich; innen ist alles nach oben aufgerissen; steile Wandtreppen mit Stahlgeländern verbinden die Stockwerke; in der Apsis und den Nischen sind Heiligenbilder oder Figuren ersetzt durch Menschen, die hinter Plexiglas in Maschinen sitzen. Der Erzähler ist hypnotisiert, sieht rotierende Elemente in die Höhe schweben, er­blickt ein Trapez, wird plötzlich in eine Uniform gekleidet, steigt nach oben, will fliegen, fürchtet zu stürzen, findet eine Luke und steigt hinaus. Die Luke fällt zu. Er ist fest gebannt und kann nie wieder nach unten. Ganz ähnlich findet sich der Erzähler im Schnittpunkt von Schienen („Glasdreieck“), die in eine Behausung führen, aus der jeder Weg hinaus verschlossen ist: „Es geht nicht weiter …“41 Jedes Nachdenken stößt auf eine Vergangenheit, die undeutbar ist, und auf eine gegenwärtige Realität, die keine festen Konturen hat.

In Larries Welt (1992) konzentriert sich Beyse auf das Überleben in einer Gesellschaft, in der historische oder kulturelle Überlieferungen bedeutungslos geworden sind. Die Tradition existiert nur noch als Schablone, eine in die Welt gestellte Kulisse. Beyse schildert eine Wirklichkeit, in der eine Überfülle vorbeifliegender Bilder jede vertiefende Konzentration oder Erkenntnis abschaltet. Das andere Extrem ist die innere Leere, das Schweigen der Figuren, die ziellos suchen, ohne zu finden. Das Ausharren in der globalen Gesellschaft, in der alle wesentlichen sozialen, ökonomischen und politischen Entscheidungen von Spielern in einer anonymen, undeutbaren Organisation getroffen werden, wird jedoch mit dem Verlust der Menschenwürde bezahlt. Der Substanzverlust in verantwortlich-ethischem Handeln ist ersichtlich im Spiel mit Menschen. Menschen werden nicht angesprochen, sondern existieren nur als Elemente in der Datenverarbeitung. Larrie, die Figur im Mittelpunkt des Geschehens, versucht auch nicht, historische Prozesse zu verstehen, die Welt zu erkennen oder sein Ich zu deuten. Seine Existenz spiegelt Krankheitssymptome der Massengesellschaft wieder. Er fühlt sich ständig beobachtet und bedroht, wandert zuweilen ziellos durch unbekannte Straßen und lebt in einem anonymen Hotel. Larrie schwankt zwischen dem Wunsch unterzutauchen und dem Verlangen auszubrechen. Er fügt sich den Anweisungen der anonymen Organisation, lässt sich operativ verändern und nimmt einen anderen Namen an. Er will überleben. Da seine Welt eigentlich die zur Formel gewordene virtuelle Wirklichkeit des Internets ist, beschließt er, in die Öffentlichkeit zu fliehen. Im Programm zu sein, von allen gesehen zu werden, bietet Sicherheit. Das in alle Länder ausgestrahlte Ich erhält ein Wesen. Larrie beteiligt sich an einem weltweit übertragenen und von einem Quizmeister geleiteten Ultra-Quiz. Das Quiz ist als Wettlauf arrangiert, in dem alle Teilnehmer versuchen, an der Spitze zu landen. Während des alle Kräfte überfordernden Rennens durch Wüsten, die scheinbar ins Unendliche münden, durchläuft Larrie zahllose Phasen eines Lebens. Er gerät in Erregungszustände, verkommt, verschlingt das Essen wie ein Süchtiger, um den Körper zu erhalten, wird verletzt, weiß nicht mehr, ob er an einem Wettlauf oder Krieg teilnimmt, halluziniert, denkt an sein früheres Leben und lebt sich schließlich in die Rolle des Spielers ein. Die einzige noch mögliche Erfahrung eines Gefühls bietet der Höchstleistungsanspruch des Wettkampfs. Er erkennt, die Erfahrung seines eigenen Ichs ist nur in der Behauptung seines ferngesteuerten Willens im Exzess der Leistung möglich. Er rennt im Käfig der Welt. Er sieht sich auf dem Bildschirm rennen. Er glaubt an diese Existenz. Sie bietet Halt. Die virtuelle Phantomwelt der ablaufenden Bilder schafft die Illusion der möglichen Orientierung. Dagegen bezeugt alles, was in Larries Visionen der Wirklichkeit auftaucht, den völligen Verlust jeder Orientierung. Die Menschen sind von Kulissen umgeben. Die Natur ist verbraucht. Die Geschichte, die geistige Tradition und das kulturelle Erbe sind entwertet. Die Menschen schwanken wie Larrie haltlos zwischen Extremen. Einmal liegt er in der Gosse und wacht auf, nachdem Kinder auf ihn urinieren; ein anderes Mal möchte er „liegen und dienen, einem Menschen dienen.“42 Larrie spielt Westfront, denkt an seine Frau, die von einem Patienten ertränkt wurde, will beichten und sieht am Ende doch nur ein Mikrophon heranschweben. Er taumelt davon, hastet durch Gassen, findet sein Hotel und sein beschmutztes Bett. Als er zu sich kommt, ist die Welt nicht wiederzuerkennen. (299) Er zieht sich an und geht davon. Die Mullbinden seines Verbands, ein Zeichen seiner Wiedergeburt, bleiben im Zimmer. Das Ende der Erzählung ist nüchtern und entspricht den Metamorphosen Larries. Er bricht nicht auf zu neuen Ufern, sondern kehrt in den Lärm der Welt zurück. Er ist aus der Vernetzung aller Lebensbereiche entstanden und bleibt eine Datengestalt. Auf der Projektionsfläche Cyberspace entsteht kein neuer Mensch. Aus den Wundern und Reizen der neuen Welt blicken noch immer die Augen der anderen und unter ihnen, bis zum Selbstverlust verloren, das Auge des Ich.

Die Ermittlung der Vergangenheit erscheint in Beyses Ferne Erde (1997) als Befragung von Erinnerungsbildern, die spontan auftauchen. Der Erzähler verfolgt im Verlauf einer Nacht, im Zimmer eingeschlossen, die Spuren von Bildern, Eindrücken und Ahnungen, die Form annehmen. Die Substanz der Wahrnehmung bleibt schemenhaft, da alle festen Konturen verschwimmen. Die Bilder erhellen deshalb nicht die Realität, sondern den geistigen Zustand des Beobachters. Er belauscht sein Sprechen, befragt seine Gedanken, erfährt einen Zustand quälender Reflexion. Jeder Gedanke, jede Erinnerung löst neue Assoziationen aus. Historische Ereignisse haben keine bestimmbare Form. Alles ist gegenwärtig: eine Stunde in Licht und Dunkel, eine Stunde unendlicher Möglichkeiten, die letztlich Unmöglichkeiten sind. Was bleibt ist die Suche nach einer Sinnstiftung im Leben, einen Weg aus dem Irrweg der Eindrücke zu finden. Die Erzählung schließt mit dem Satz: „Hellwach wollte ich irgendein Ende, einen Abschluß, der von der Verantwortung befreite, dem Morgen einen Sinn zu geben.“43 Eine Sinnstiftung scheint jedoch ohne klare Einsicht in die Vergangenheit nicht möglich.

Konkret und zugleich ins Mythische gesteigert ist die Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart in Hilbigs Alte Abdeckerei (1991). Die Beobachtungen des Wohnorts, des Landstrichs und des Staates beleuchten die Verseuchung der Welt. Asche vom Brennen der Braunkohle verschmutzt Häuser und Erde. Neben welken Krautfeldern rinnen schaumbedeckte Bäche. Die Teiche sind milchfarben; Bahngleise sind von Unkraut überwachsen; unter dem Rasen fangen sofort Schächte an; inmitten der überwältigenden Öde der trostlosen Landschaft geschleifter Fabriken und verlassener Bergwerke steht die Abdeckerei Germania II. Die Abdeckerei hat SS-Offiziere und NS-Bewacher übernommen und als Sicherheitsbeamte angestellt. In den tiefen Schächten schaffen die Abgeladenen und Abgedeckten der Vergangenheit neben neu Hinzugekommenen. Die Gesellschaft oben auf der Erde hat sich verbrüdert. Aggressoren und Opfer, Kriminelle und Sicherheitsbeamte, „Deutsche, Polen, Russen, Staatenlose, Abtrünnige … Kommunisten und Nazis … die Gesuchten und ihre Ermittler“ hausen zusammen.44 Die in der Abdeckerei aus Tierkadavern hergestellte Seife dient dazu das ganze Land einzuseifen. Die Welt verdummt. Die Einwohner starren auf „schmierige Fenster“, „seifigen“ Nebel, gedunsene Mauern, fettbedecktes Wasser und atmen den „schwindelerregenden“ Geruch ein. Was bleibt ist Resignation: „Totes Land, ödes Land riefen die Männer, und ihre Stimmen trugen die Müde weithin über das Territorium.“ (92) Das Fazit: Der Staat, der die Vergangenheit ohne kritische Sichtung übernommen hat, strahlt eine lebensverseuchende Krankheit aus. Hilbig fängt diese Bedrohung besonders eindrucksvoll in dem Kurzbericht des Lebens des Heizers und Schriftsteller-Beobachters C. ein. Die Öfen sind von Braunkohle verschmutzt und bleiben stehen. Sie entladen eine katastrophale Rußmasse, die als gewaltiger Dreckpilz über dem Land steht und alles Leben gefährdet.45

2.3. Schuld und Sühne

Der Erzähler-Kommentator in Thomas Manns Doktor Faustus (1947) wirft im April 1945 einen Blick auf die letzten Tage des NS-Reiches, die „sich rapide ausbreitende Katastrophe“, den Untergang der Städte und die Befreiung der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald. Er stellt fest: ein amerikanischer General lässt die Einwohner Weimars an den Krematorien „vorbeidefilieren“ und zwingt sie, das anzusehen, was aufgebrochen ist: „offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könne. Ich sage: unsere Schmach.“46 Von dieser Feststellung einer kollektiven Schuld, zu der sich der liberale frühpensionierte Gymnasiallehrer Serenus Zeitblom bekennt, führt eine kaum überschaubare Linie über Historikerkontroversen, Auschwitz-Diskussionen, Bekenntnisse, Hinweise auf die Tatsache, dass manche Zeitgenossen absolut ahnungslos waren, und literarische Ortungen bis zu Bernhard Schlinks Bemühungen, das Verhältnis von Schuld, Sühne und Vergebung zu klären.

 

Der Begriff der Kollektivschuld setzt voraus, dass das gesamte deutsche Volk in den Jahren der NS-Regierung schuldig geworden ist, da der Massenmord ein ganzes Volk für seine Verwaltungsmaschine brauchte.47 Die Schuldfrage und Schande der Nation wurde 1998 von den Medien aufgegriffen und in Zeitschriften, im Fernsehen und Rundfunk leidenschaftlich diskutiert. Der Anlass war die Rede, die Martin Walser bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt. Walser lässt die Gefühle und die Bewusstseinslage der Nicht-Betroffenen, der Nachkriegsgeneration und der Jugend zu Wort kommen, die nicht ständig an die deutsche Vergangenheit, an Krieg und Auschwitz erinnert werden wollen. Er betont, die „Dauerpräsentation unserer Schande“ sei zur „Keule“ geworden, die bei jeder Gelegenheit gegen die Deutschen geschwungen wird. Auschwitz ist „instrumentalisiert“. Und der Ansturm der Schande sei ein Ritual, der Zwang zum Erinnern sei Routine geworden. Ignatz Bubis vom Zentralrat der Juden in Deutschland entgegnete entrüstet, dass Vergehen gegen die Menschlichkeit nie verjähren. „Forderungen mögen verjähren, Moral jedoch nicht.“48

In den Diskussionen kam kaum etwas zu Wort, das nicht eingehender in der Literatur erörtert wurde. Beispielsweise schildert Ortheils Roman Schwerenöter (1987) die Entwicklung zweier Brüder vor dem Hintergrund vierzigjähriger deutscher Nachkriegsgeschichte. Die Materialfülle (Lebensläufe der Zwillinge Josef und Johannes, frühe Nachkriegszeit in Köln, Schule, Kloster, Hören von Adorno-Vorlesungen, deutsche Innen- und Außenpolitik, Reise in die USA, Rombesuch und Ausblick: Josef wird Abgeordneter, Johannes Schriftsteller) wird gestrafft durch eine Darstellung, die in beständiger Befragung Zusammenhänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzeigt. Die Gespräche und ernsten Überlegungen des Erzählers Johannes werden aufgelockert durch Berichte pikaresker Abenteuer der Jungen in der Schule und während ihres Aufenthalts in Amerika. Besonders aufschlussreich sind die grundverschiedenen Ansichten von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit und historischen Entwicklungen, die in Gesprächen, Generationskonflikten und Debatten der Schüler anklingen. Das Thema kollektiver Schuld und die Aussicht auf Vergebung gibt dem Aufenthalt der Jungen in New York im Haus der jüdischen Familie Rothbuch sein besonderes Gepräge.

Daniel Rothbuch, der 1938 mit seinem Vater Deutschland verlassen musste, lädt Johannes und Josef ein, damit seine eigenen Kinder Tom und Susan ein „unvoreingenommenes Verhältnis“ zu Deutschland und den Deutschen herstellen können. Auch sie sollen Deutschland besuchen. „Es ist wichtig, ja, es ist sehr wichtig.“ Kurze Vignetten beschreiben das Leben im Haus der Familie, in New York, Besuche der Stadt und Museen. Am letzten Tag des Aufenthalts findet eine Aussprache zwischen Daniel und Johannes statt. Das Gespräch ist aufschlussreich: „Am Anfang aber dachte ich, es könnte schwierig werden.“ – „Warum schwierig?“ – „Wegen des Großvaters. Du wirst es kaum verstehen, du bist noch sehr jung; Großvater mußte Deutschland 1938 verlassen, er emigrierte mit mir in die Staaten. Bis heute habe ich das Land nicht mehr wiedergesehen. Er haßt es, und er haßt seine Menschen. Er hält sie für Faschisten und Mörder, die sich eine neue Tarnung zugelegt haben. Glaub ihnen nicht! sagte er, als Kennedy sich auf die Reise machte. Er dachte die Deutschen würden ihn umbringen. Er traut ihnen alles zu, sie haben seine Eltern und meine Mutter ermordet, für ihn sind es die Teufel der Geschichte, die alles Böse in sich vereinen. Sie haben den Krieg begonnen, sie haben Millionen von Menschen getötet, sie haben Konzentrationslager gebaut, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat. Großvater hat das alles nie vergessen können.“ – „Und Ihr habt uns trotzdem eingeladen?“ – „Ich habe lange mit Mary darüber gesprochen. Aber es war der einzige Weg, wieder Kontakt mit Deutschland aufzunehmen, verstehst Du? Wir wollen junge Menschen wie Dich und Deinen Bruder kennenlernen. … und nun bin ich sehr froh, daß Ihr hier gewesen seid.“49

Der Besuch stürzt die Zwillinge in Gewissenszweifel und veranlasst eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Besonders aufschlussreich für Fragen von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit, Haltung zur Vergangenheit sind die Diskussionen in der Schule nachdem Josef und Johannes von ihrem Aufenthalt in den USA heimkommen. Josef beschafft sich Bücher über das Dritte Reich, liest und kommt zu der Überzeugung, dass das Reich bis in die Gegenwart reicht. Er sieht seine Lehrer in neuem Licht, ist beunruhigt, wenn sie „scheinbar harmlos von ihren Kriegserlebnissen berichteten“ (314), und kommt schließlich zu der Überzeugung, dass die Vergangenheit eine unabgeschlossene Akte ist. Die Zeit des Nationalsozialismus ist „unvorstellbar“, nicht verjährt, „alle Phantasie reiche nicht aus, sie zu verstehen.“ (323) Aber gerade weil der Rückblick ein „Gefühl völliger Ohnmacht“ hinterlassen kann, besteht Josef auf der kritisch-geistigen Ermittlung. „Daher müsse man, wenn man denn schon aus der Geschichte lernen wolle, fragen, was damals mit diesen Menschen geschehen, wie es dazu gekommen sei, und wie gerade diese Menschen die Gegenwart erlebten, voll mit jenen Bildern des Verrats und des Mordens, die man doch nicht wie Albumaufnahmen mit sich herumtragen könne?“ (323–324) In diesem Appell an die persönliche Verantwortlichkeit, zu der sich der Erzähler in der Niederschrift bekennt und die Josef als Politiker verwirklichen will, kommt der Geist der historischen Bewusstseinslage klar zur Geltung. Die Vergangenheit verneinen, heißt die Zukunft verneinen. Die Vergangenheit anerkennen, heißt die eigene Situation verstehen und die Zukunft anerkennen.

Die Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Einstellungen bietet die Grundlage für eine Gesamtschau der Unsicherheit und Ratlosigkeit der Bevölkerung während der Kriegsjahre.

Die Erzählung verleiht einerseits den Verstummten Sprache,50 andererseits zeigt sie das wachsende Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart. Die Geschichte ist ein unabgeschlossener Vorgang, in dem zeitbedingte Umstände zuweilen die Initiative der Menschen begrenzen, aber nie deren persönliche Verantwortlichkeit aufheben. Der Mentalitätswandel ist möglich. Josef fühlt seine eigene Verantwortlichkeit. Johannes erfährt sie im Aufschreiben der Ereignisse.

Die geschichtliche Naivität der Jugendlichen in Schwerenöter findet ihre Entsprechung in der Ahnungslosigkeit mancher Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Ein wichtiger Gesichtspunkt in der Erinnerungsliteratur ist die von de Bruyn, Grass, Maron und Ortheil angedeutete Situation, dass zahlreiche Menschen in den Jahren der NS-Zeit keine zuverlässige Information hatten. Manche wussten nichts, manche hatten Angst und viele verschlossen die Augen. Der Rückblick verwandelt das Vergangene in ein andersgeartetes Geschehen: „Die 45 Jahre, die das Tagebuchschreiben vom Wiederlesen trennen, haben die Erinnerung an manche Ereignisse, die damals erwähnenswert schienen, getilgt; andere, die verschüttet waren, wurden durch das Lesen wieder freigelegt; und wieder andere, die nie vergessen waren, lassen deutlich werden, was der Chronist verschweigt oder entstellt. Ob das aus Vorsicht, aus Unfähigkeit oder in selbstbetrügerischer Absicht geschah, ist im Einzelfall nicht auszumachen, insgesamt herrscht aber der trübe Eindruck vor, daß dieser Knabe von 14 Jahren hier konformes Verhalten übt.“51 Er konstatiert weiterhin die Ahnungslosigkeit der Kinder, die nicht ahnten, welchen Hass sie in Kattowitz erregten, wenn sie „als uniformierte Masse auftraten“ (112), und seine Unkenntnis brutaler Verbrechen: „nie aber hatte ich von der Ermordung jüdischer Menschen (vielleicht weil ich nie nach ihnen gefragt hatte) auch nur andeutungsweise gehört. An keinen Gedanken an sie, an kein Gespräch über sie, ob mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen, kann ich mich aus der Zeit nach ihrer Deportation erinnern.“ (244) Darauf folgen Hinweise auf die beständige Angst. Die Zeit nach dem Kriegsende mit den Anfängen im sozialistischen Osten steht unter der Kurzformel: „Kollektivismus oder Individualismus“. Erst die kritische Ortung im Rückblick verleiht diesen Jahren ihre besondere Eigenheit.52 Was in diesen Beobachtungen deutlich hervortritt, ist ein bisher kaum beachteter Faden, der durch den Erinnerungsdiskurs verläuft: Die Ahnungslosigkeit wird zur Diskussion gestellt. Sie kann sich, besonders in dem Verfahren der Reihung von Einzelheiten unter bewusstem Verzicht auf Sinndeutung im Schaffen Kempowskis, auf das Lesepublikum übertragen, das dann diese Ahnungslosigkeit verspürt und sich mit ihr auseinandersetzen muss.

In der Literatur zeichnet sich eine ausgeprägte Konzentration auf individuelle Figuren, einzelne Situationen oder erkennbare Familien in der Thematisierung von Schuld, Sühne und Verantwortung ab. Das „Volk“ muss konkrete Form annehmen, um literarisch wirksam zu sein. Das ist deutlich in Handlungsführung und Figurenkonzeptionen in den Romanen von Bienek, Kempowski und Ortheil. Es ist beispielsweise klar ersichtlich in der Erzählung Winterspelt (1974) von Alfred Andersch. Er erfasst im Handeln Einzelner – Major Dincklage, Käte und Hainstock – die allgemeine Situation. Schuld und möglicher Widerstand kommen zu Wort. Hauptsächlich geht Andersch im Rahmen seiner Darstellung der Kämpfe um das in der Nähe der belgischen Grenze gelegenen Eifeldorfes der Frage nach, inwiefern einzelne überhaupt die kriegerischen Entwicklungen beeinflussen können und kommt zu dem Schluss, dass einzelne im Ausnahmezustand sicherlich verantwortungslos oder verantwortlich handeln, aber das ablaufende Geschehen nicht ändern können. Der Erzählverlauf beleuchtet individuelle Überlegungen und Entscheidungen, spontane Handlungen, ethische Fragen, Zögern und Unterlassungssünden. Das Erzählverfahren weist in der Verwertung historischer Fakten, biographischer Einzelheiten und von Dokumenten bereits auf die chronistische Erzählweise Kempowskis hin. Im Gegensatz zu Kempowskis distanzierter Bestandsaufnahme betont Andersch immer wieder die Notwendigkeit des verantwortlichen Handelns, dem sich Einzelne nicht mit der Annahme, der historisch ablaufende Prozess sei unkontrollierbar, entziehen können.

Darüber hinaus lässt sich in vielen Werken in der Annäherung an die Vergangenheit ein Prozess des historischen Bewusstwerdens nachweisen. Nicht nur der Krieg, sondern die gesamten Jahre der Naziherrschaft erscheinen als Ausnahmesituation. Das Leben in dieser Zeit wird zum Grenzerlebnis, das alle tradierten Vorstellungen sprengt. Menschen sind physisch und geistig gefährdet. Die existenzielle Bedrohung ist allumfassend. Und wie Dieter Wellershoff 1995 in Der Ernstfall feststellt, konnte sich der Einzelne unter diesen Bedingungen nie wirklich bewähren. Menschen, die kritisch dachten, konnten eigentlich nur ihre weltanschauliche Obdachlosigkeit erkennen. Unsentimental und ohne Beschönigung berichtet Wellershoff von seinem Einsatz als jugendlicher Freiwilliger an der Ostfront, seiner Verletzung, seinem Aufenthalt im Lazarett Bad Reichenhall, seiner Gefangennahme und dem Neuanfang nach dem Kriegsende. Die Rückblenden und Aufarbeitung seiner Jugend bieten die Voraussetzung für seine Einsicht in „zwei“ wesentliche Erfahrungen. „Die eine ist der Zusammenbruch einer kollektiven Identität, die als mörderisches Wahngebilde kenntlich wurde, und das Glück, das darin lag, die weltanschauliche Obdachlosigkeit als geschenkte Freiheit zu erleben. Die zweite ist die Einsicht in die Zufälligkeit meiner Existenz.“53 Die Stellungnahme vieler Autoren steht unter dem Leitgedanken des moralischen Versagens einer Generation, der zwischen 1890 und 1920 Geborenen, und des Orientierungsverlusts der im Weimarer Staat und im Dritten Reich Aufgewachsenen. Häufig charakterisieren Beschuldigungen der für die Terrorherrschaft der Nazis und für den Krieg Verantwortlichen, massive Schulderlebnisse, Schuldverdrängung und exzessive Selbstanklagen die Erzählhaltung. In Auseinandersetzungen mit Hitlers willigen und halbwilligen Helfern treten Fragen der individuellen Verantwortung und des Gewissens in den Vordergrund. Das schlechte Gewissen breitet sich aus, nachdem der volle Umfang der Verbrechen öffentlich bekannt wird. Es schärft den Blick und bestimmt die Fixierung auf die Vergangenheit. Diese erscheint unverständlich. Die während der Naziherrschaft begangenen Verbrechen stehen im Licht des vorausgegangenen Anspruchs des deutschen Geisteslebens einzigartig da. Die Erbschaft deutscher Schande und Schuld verdrängt das Erbe deutscher Denker. Der Holocaust und Auschwitz werden zum negativen Gegenbild des idealistischen Denkens.

 

Verbindlich für die Literatur ist eine Denkform, der die Überzeugung zu Grunde liegt, dass die existenzielle Gefährdung der Menschen im NS-Staat das zeitlose und damit heute gegenwärtige Problem menschlicher Verantwortlichkeit besonders scharf hervortreten lässt. Historisches Bewusstwerden wird zum Ausgangspunkt der Kritik der Gegenwart. Die folgenden Ausführungen heben markante Aspekte hervor. Sie können keine zusammenhängenden Entwicklungen nachweisen, da der Gesamtkomplex von Verschuldung und Vergeben immer neu aufgegriffen wird. Deutlich nachweisbar sind scharfe, zuweilen einseitig anmutende Abrechnungen mit der Schuld und Einstellung von Figuren, deren Verblendung oder Ethos der Pflichterfüllung zu einer menschenfeindlichen Geisteshaltung führt. Sie konzentrieren sich auf das Versagen einzelner Personen, nicht auf die Schuld der gesamten Generation. Heiner Müllers Kurzgeschichte „Das Eiserne Kreuz“ (1956) schildert beispielsweise den Entschluss eines Papierhändlers, eines ehemaligen Reserveoffiziers im Ersten Weltkrieg, seinem Führer die „Treue zu halten“ und mit seiner Frau und Tochter zu sterben. Er holt seinen Revolver hervor, steckt das Eiserne Kreuz an den Rock und marschiert mit Frau und Tochter ins Freie. Er erschießt beide, überdenkt seine Lage, schöpft Hoffnung, entschließt sich, irgendwo unterzutauchen, wirft das Eiserne Kreuz weg und läuft davon. Die Geschichte akzentuiert im Einzelfall das Handeln aller, die Verbrechen gegen die Menschheit begangen haben.54

In dem Agitprop-Stück Germania Tod in Berlin liegt die Betonung weiterhin auf dem Handeln Einzelner, aber Müller erweitert die Perspektive auf historische Prozesse in absteigender Linie. Die Szenen rollen in aphoristisch zugespitzter Diktion vorbei: Die Straße 1 Berlin 1918; Die Straße 2 Berlin 1949; Brandenburgisches Konzert 1 (mit Manege und 2 Clowns); Brandenburgisches Konzert 2 (Schloß mit Genossen); Hommage a Stalin 1 (Schnee, Schlachtlärm); Hommage a Stalin 2 (Kneipe, Kleinbürger, Huren, Aktivist, Schädelverkäufer); Die heilige Familie (Führerbunker); Das Arbeiterdenkmal (Polierer, Maurer); Die Brüder 1 (historischer Rückblick Arminius und Flavus); Die Brüder 2 (Gefängnis); Nachtstück; Tod in Berlin 1 (Strophe von Georg Heym); Tod in Berlin 2. Die deutsche Geschichte als Teil der Weltgeschichte führt in die Entmenschlichung, bis sie in die Mechanik eines monströsen Maschinenwesens mündet, das in sich die Vergangenheit (Gernot, Hagen, Volker und Gunther) und die namenlosen Soldaten (Nr. 1, 2, 3) des Zweiten Weltkriegs aufnimmt. Alle schlagen sich in Stücke. Der Schlachtlärm hört auf. „Dann kriechen die Leichenteile aufeinander zu und formieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial.“ (51) Mitläufer, pflichtbewusste Untertanen, Verblendete, die an einen gerechten Staat glauben, staatshörige Nischenbewohner, die klagen aber überleben wollen und auf das Recht freier Meinungsäußerung verzichten, fliehen in die innere Immigration. Übrigbleibende Individuen werden zu Seife verarbeitet.

Die eindeutige Verurteilung des Ewig-Gestrigen erstreckt sich besonders auf Figuren, die überzeugt sind oder waren, dass sie nur ihre Pflicht erfüllten, Einzelne, deren Leben scheinbar nahtlos aus der Vergangenheit in die Gegenwart übergeht und die nichts aus der Katastrophe gelernt haben und Figuren, die nicht an die Vergangenheit erinnert werden wollen und sie abschotten. Siegfried Lenz schildert diese Haltung in der Deutschstunde (1968) im Lebensabriss des Landpolizisten Jens Ole Jepsen. Personen, die diese Geisteshaltung repräsentieren, erfüllen Funktionen des Appells an die Vernunft und der Kontrastierung mit anderen, die sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Gezielte Charakterstudien dieser Art sind beispielsweise der ehemalige Lageraufseher Arnold Heppner (Becker, Bronsteins Kinder), der Bürgermeister und die Leiterin des Jugendamts von Steyr (Erich Hackl, Abschied von Sidonie), Skodlerrak, Sozialist, SS-Mitglied, Schwarzhändler, Anpassungskünstler (Peter Härtling, Eine Frau, 1974), Eduard Nemec (Peter Härtling, Nachgetragene Liebe, 1980), die Mutter Anitas und der Fotograf (Botho Strauß, Schlußchor, 1991) und die schweizer Polizisten, die Karel Neruda und Heinrich Zinn zusammenschlagen, Neruda an die Deutschen ausliefern und nach Kriegsende Zinn festnehmen und in ein Heim bringen. Zinn wird überwältigt, denn sein Haus muss enteignet werden und einem Staudamm Platz machen, der schließlich die ganze Gegend unter Wasser setzt (Silvio Blatter, Das blaue Haus, 1990). Eng verknüpft mit Kontrastierungen dieser Art ist der Kunstgriff im Erzählverfahren, zwei Welten zu konfrontieren, die in knapper Chiffrierung Fotos zeitlos schöner Landschaften mit eingestreuten Dörfern und Schlössern dem Leben im Dorf gegenüberstellen, das alle Merkmale des Daseins in einer Diktatur hat.

In anderen Romanen und Erzählungen wird eine Einstellung deutlich, welche die kollektive Schuld und die Verfehlung Einzelner nicht einseitig anprangert, sondern aus distanzierter Sicht die Schuldfrage erwägt. Dieses Anliegen bedingt ein Erzählverfahren, in dem das Unfassbare zu Wort kommt. Darüber hinaus verlangt die literarische Gestaltung dieser Problemstellung eine Auseinandersetzung sowohl mit den Gefühlen der Generation Jugendlicher, die das Dritte Reich noch miterlebt haben, aber überzeugt sind, persönlich unschuldig zu sein, als auch mit der Einstellung der nach dem Krieg geborenen Menschen, die sich gegen den Generalverdacht wenden, dass sie als Deutsche mitverantwortlich für die Vergangenheit sind und den Vorwurf der Schuld und Schande ablehnen. Von wesentlicher Bedeutung ist die charakteristische Nuancierung in den Erzählungen, die bei allen Gemeinsamkeiten unterschiedliche Deutungen zulässt. Vergleicht man beispielsweise die Aufarbeitung der Vergangenheit in Peter Schneiders Roman Eduards Heimkehr (1999) mit Jurek Beckers Bronsteins Kinder (1986), so ergeben sich bei vergleichbarer Fragestellung erhebliche Unterschiede.

Schneider wählt Berlin als Handlungsraum. Der Ort, Hauptstadt des Dritten Reiches und der DDR, zehnjährige Wiederkehr des Mauerfalls, neue Hauptstadt Deutschlands, bietet die Voraussetzung für eine Fixierung auf die deutsche Vergangenheit. Der Handlungskern ist jedoch eine alltägliche, fast banale Geschichte. Eduard erhält eine Stellung in Berlin, kehrt aus den USA heim, muss seine Frau und Kinder nachholen und eine Wohnung für die Familie finden. Die Erzählung schildert häufig erörterte alltägliche Probleme moderner Ehen, die im konkreten Fall durch die Umsiedlung profiliert werden. Von zentraler Bedeutung ist Eduards Verhältnis zu seiner deutsch-jüdischen Frau. Dieses wird maßgebend bestimmt von seinem Beziehungswahn, der ihn zwingt, die alltäglichsten Ereignisse aus der Sicht seines Deutschtums und dadurch im Licht seiner deutschen Vergangenheit zu sehen.