Vergangenheit

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Die Erzählung Morbus Kitahara (1995) von Christoph Ransmayr schildert die Verfinsterung, die sich nach dem „Frieden von Oranienburg“ über die Ortschaft Moor, die Bevölkerung, den großen Steinbruch nahebei und das Niemandsland des Steinernen Meers ausbreitet.12 Es ist endlich Frieden, nachdem „die halbe Menschheit in der Erde und im Feuer verschwunden ist.“ Im Schnittpunkt der Handlung stehen der Schmied Bering, zum Ende des großen Krieges geboren, Ambras, der Fotograf und ehemalige Häftling Nr. 4273 eines Konzentrationslagers, und das Mädchen Lily, die überlebende Tochter eines zu Tode geprügelten Bewachers. Die Einwohner von Moor, ehemals ein malerischer Badeort, haben keinen Zugang zur Außenwelt, denn die einzige bestehende Bahnverbindung wurde abgerissen. Alle müssen für sich selbst sorgen. Die existenzielle Situation der Menschen und das Zeitgeschehen werden bestimmt durch Auswirkungen des „Stellamour-Plans“, eine Anspielung auf den Morgenthau-Plan, der das besetzte Land in die Steinzeit zurückwirft, eine Steinzeit, in der jedoch Besatzungstruppen die Menschen bewachen und organisierte Banden, kahlköpfige Schläger und Guerillas die Welt verunsichern. Das Milieu determiniert die Entwicklung der Figuren, in denen jedoch wiederholt eine wilde, unbezähmbare Sehnsucht nach Entgrenzung aufflackert. Arbeitsfähige (jeder, der noch gehen kann, ist arbeitsfähig) werden zur Arbeit im Steinbruch verpflichtet. Alle sind gezwungen, an den von Major Elliot veranstalteten Erinnerungsfeiern für die Opfer der jüngsten Vergangenheit teilzunehmen. „HIER LIEGEN / ELFTAUSENDNEUNHUNDERTDREIUNDSIEBZIG TOTE / ERSCHLAGEN / VON DEN EINGEBORENEN DIESES LANDES / WILLKOMMEN IN MOOR“ (33). Zum Sommerfest ersteigen die Einwohner die berüchtigte Stiege, auf der die meisten Häftlinge umkamen. Die Gefangenen schleppten riesige Steinquader nach oben und brachen häufig unter der Last zusammen. Der Kommandant verlangt nur, dass die Bewohner Attrappen transportieren, die sie an die Vergangenheit erinnern sollen. Major Elliot besteht nicht auf krasser Wirklichkeit, aber darauf, dass der Schein gewahrt wird und die Tätigkeit die Umerziehung fördert. Er will die Illusion einer zivilisierten Besatzung bewahren, hat aber die Ausführung aller Anordnungen und selbst der alltäglichen Arrangements Ambras übertragen.

Ambras, der ehemalige Gefangene des Schotterwerk-Konzentrationslagers, hat die gesamten Machtbefugnisse über die Arbeiter und zwingt alle unnachgiebig zur Erfüllung der ständig gesteigerten Norm. Er rächt sich an der Gesellschaft in seiner Rolle des Lageraufsehers. Er spielt den Giganten und verkörpert zugleich eine unerhörte Brutalität. Die charakteristischste Szene für seine Einstellung zur Welt ist sein Einzug in die von ihm ausgesuchte Wohnung, eine mit Stacheldraht umgebene Villa, in deren Garten ein Rudel verwilderter, aggressiver Hunde haust. Er betritt den Garten, wirft den vierzehn Hunden rohes Fleisch zu, spricht beschwörend auf sie ein, erschlägt den ersten, der ihn anspringt, mit einem Eisenrohr, jagt einem großen irischen Rüden das Eisen in den Schlund, springt auf ihn, verbeißt sich in das Tier und bricht ihm das Genick. Daraufhin zieht er ein. Das Rudel folgt dem Meister gehorsam, der seitdem vom Volk „Hundekönig“ genannt wird. Sein Umgang mit Menschen folgt demselben Muster: Sie müssen dienen; jeder Widerstand wird gebrochen. Bering, zu der Zeit ein Neunjähriger, beobachtet den Vorfall und umgibt den Hundekönig in seiner Erinnerung mit dem Nimbus eines „biblischen Helden“, eines „unbesiegbaren Königs“, der seine Feinde „in die Wüste jagte und in den Tod.“ (81)

Bering verbringt seine früheste Kindheit in einem Kellergewölbe in einem von der Decke hängenden Korb. Unter ihm scharren Hühner auf der Erde, Hühner, deren Gackern er nachahmt und unter sein Schreien mischt. Geflügel und Vögel bestimmen seinen Erfahrungshorizont. Er lebt sich ein in ihre Welt, ahmt ihre Rufe nach und versucht zu fliegen. Selbst diese Empfindungen sind ambivalent: „Noch Jahre später bedurfte es bloß eines Hahnenschreis, um in ihm rätselhafte Empfindungen wachzurufen. Oft war es ein melancholischer, ohnmächtiger Zorn, der keinen bestimmten Gegenstand hatte und ihn doch mehr als jeder tierische Laut mit dem Ort seiner Herkunft verband.“ (19) Unvereinbare Tendenzen bestimmen seine Entwicklung von früher Verehrung bis zum Hass auf den Hundekönig. Als Dreiundzwanzigjähriger erlebt er, wie Ambras sein von Elliot erhaltenes Fahrzeug schwer beschädigt und bietet ihm an, den Wagen völlig neu herzustellen. Er verwandelt den Studebaker in einen mythologischen Wagen: eine Krähe im Sturzflug, am Kühler „zwei zum Fangschlag geöffnete Krallen.“ (96) Daraufhin ernennt Ambras Bering zu seinem Vertreter, befiehlt ihm in die Villa zu ziehen und fortan sein Leben zu teilen. Das Verhältnis der beiden wird bestimmt von den kurzen, fast bellenden Befehlen, die Ambras erteilt. Das grausame Zusammenleben beeinflusst Berings Handeln. Er tötet zuerst in Notwehr, dann aus Hass auf die Welt. Sein Verhältnis zu Ambras, den er sowohl fürchtet als auch bewundert, ablehnt und anerkennt, zwingt ihn in eine Abhängigkeit, die schließlich dazu führt, dass er seinen Beherrscher nachahmt und Freude an der Unterdrückung anderer verspürt. Ambras beansprucht für sich nichts, außer Gehorsam. Er lebt in einem verwahrlosten Zimmer der Villa und überlässt den Rest des Hauses den Hunden. Er zeigt eigentlich nur ein Interesse, das nicht mit seiner Arbeit verbunden ist, wenn ihn Lily besucht und ihm seltene Steine und Smaragde aus dem Hochgebirge bringt.

Lilys Gefühle spiegeln die gegensätzlichen Tendenzen der Umwelt wider. Sie hasst Gewalt, besitzt jedoch ein verstecktes Waffenlager und geht zweimal, auch dreimal im Jahr auf Menschenjagd. Sie spürt dann den Banditen nach, die die Bevölkerung angreifen, und tötet sie, während ein überwältigendes Gefühl von „Angst, Triumph und Wut“ in ihr aufsteigt. Plötzlich will sie ausbrechen und frei sein. Dann wieder passt sie sich an die Umstände an. Sie hat Mitleid mit Ambras und Bering, übernachtet zuweilen mit Ambras, scheint einmal Bering zu lieben, verstößt ihn aber, als er in rasendem Zorn einen Räuber tötet, der Hühner mit sich schleppt.

Handlungsverlauf und Figurenzeichnung werden intensiviert, als das Bergwerk demontiert und nach Brasilien verfrachtet wird. Bering sorgt dafür, dass jedes Rädchen der rostigen Maschinerie sorgfältigst verpackt wird. Er erblindet langsam, hofft jedoch auf einen neuen Anfang in der Fremde und verspürt wie Lily Freude während der Übersiedlung. Auf der Fahrt nach Brasilien nehmen die körperlichen Leiden von Ambras ständig zu. Die Welt verdunkelt sich. Bering, Ambras und Lily fahren schließlich zur Hundeinsel, einem ehemaligen verlassenen Gefängnis, dem Ziel und Ende von Lebensfahrten in einer Welt, in der das Licht verbleicht. Lily schenkt der Brasilianerin Myra ihren Mantel und verlässt die Insel. Die Geste besiegelt Myras Tod, denn Bering ermordet sie im Glauben, Lily vor sich zu haben. Am Ende stürzt er blindlings vom Berg und reißt Ambras mit sich in die Tiefe. Die konsequente Handlungsführung aus Lager und Moor in die sumpfige Wildnis der neuen Welt, einer unbehausten Insel mit drei Toten, verdeutlicht die völlige Hoffnungslosigkeit der Welt nach dem Krieg.

Dagegen nuanciert Grass in der Novelle Im Krebsgang (2002) unterschiedliche und unvereinbare Einstellungen zum Zeitgeschehen und historischen Ablauf, die zu Auseinandersetzungen führen und die Vergangenheit als unabgeschlossenes Kapitel deuten.13 Der Erinnerungsdiskurs in der Novelle sichtet den Erfahrungshorizont, die persönlichen Erlebnisse, die Haltung zum Zeitgeschehen und das historische Erkenntnisvermögen von Figuren aus drei Generationen: Ursula Pokriefke, deren Sohn Paul und ihres Enkels Konrad (Konny). Paul ist Journalist und schildert die Ereignisse als Ghostwriter für einen im Hintergrund bleibenden, vom Schreiben ermüdeten Autor, der hin und wieder Anregungen gibt. Die Konturen des Geschehens, durch ständige Reflexion, Rückwendung, Blicke auf das Internet und Einschübe von kontrastierenden oder sich ergänzenden Handlungszügen retardiert, sind zeitlich verankert im Mord an Wilhelm Gustloff am 4. Februar 1936 in Davos, der Torpedierung der „Wilhelm Gustloff“ durch das russische U-Boot „S 13“ am 30. Januar 1945 in der Nähe der Stolpebank und der vorsätzlichen Tötung Wolfgang (David) Stremplins durch Konrad am 20. April 1997. Der Erzähler betont mehrmals das von ihm geschaffene Netz historischer Bezüge auf Hitlers Leben (*20.4.1889; Reichskanzler 30.1.1933; Selbstmord 30.4.1945).

Die Erzählung versucht die Ursachen von Ereignissen zu verstehen, die sich immer wieder der Sinndeutung entziehen. Der Erzähler unterbricht seinen Bericht deshalb ständig mit Hinweisen auf seine Verunsicherung. Das historische Geschehen überfordert das Aufnahmevermögen: „ich stelle mir vor – nicht faßbar – niemand weiß, was endgültig geschah – muß eine Legende einschieben – was ich von mir weg krebsend tue, ziemlich nahe der Wahrheit beichte – so ungefähr ist es gewesen – mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am Straßenrand – ich kann es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben – über 4500 Kinder, Säuglinge, Jugendliche, Köpfe im Wasser, Beinchen in der Luft – eine Null am Ende mehr oder weniger, was sagt das schon – in Statistiken verschwindet hinter Zahlenreihen der Tod – ich kann nur berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist.“ Im Verlauf solcher Beobachtungen, die den Wahrheitsgehalt authentischer Berichte befragen, entsteht ein Gespräch mit der Vergangenheit, der Gegenwart und dem Lesepublikum. Außerdem vertieft Grass das abgestufte, krebsende Erzählverfahren, indem er die Figur des „Alten“ einführt. Der Alte bleibt im Hintergrund. Er hat Paul als Ghostwriter angestellt, der „stellvertretend“ ein Geschehen berichtet, über das die Beteiligten schwiegen. Der Alte hat sich „müdegeschrieben“ und gesteht, dass er sich dieser Aufgabe „seiner Generation“ entzogen hat. „Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen … dürfen.“ (99)

 

Neben dem Alten führt Grass Figuren ein, die im Text durch ihre Verwicklung in das Zeitgeschehen von 100 Jahren und ihre persönliche Entwicklung repräsentativ wirken, aber keineswegs „außergewöhnlich“ sind. Wir hören von Wilhelm Gustloff, der 1895 in Schwerin zur Welt kommt, 1917 nach Davos reist, um ein Lungenleiden zu kurieren, dann in der Schweiz bleibt und scheinbar bürgerlich bescheiden lebt. Er tritt in die NSDAP ein, wird Landesgruppenleiter, wirbt in der Schweiz unter den dort lebenden Deutschen und Österreichern für die Partei und wird am 4. Februar 1936 in seiner Wohnung in Davos von dem Juden David Frankfurter erschossen. Die Entrüstung in der deutschen Presse ist enorm; die deutsche Regierung sendet einen Sonderzug, der Gustloff nach Schwerin „heimführt“. Fortan wird er als Opfer jüdischer Meuchelmörder hoch geehrt; ein Denkmal wird gebaut und ein KDF-Schiff nach ihm benannt. David Frankfurter, 1909 in Serbien geboren, lebt und studiert in Deutschland, befindet sich aber zeitweilig in der Schweiz zur Kur seiner chronischen Knochenmarkvereiterung. Er begründet seine Tat mit der Feststellung: „ich bin Jude.“ Er wird im Gerichtsverfahren zu 18 Jahren Zuchthaus und anschließendem Landesverweis verurteilt. Er gesundet im Gefängnis und wandert nach dem Kriegsende nach Israel aus.

Der Erzähler Paul Pokriefke kommt am 30. Januar 1945 zur Welt. Die „dramatisch-alltägliche“ Geburt, Minuten nachdem seine hochschwangere Mutter von dem torpedierten Schiff „Wilhelm Gustloff“ gerettet wurde, verknüpft sein Leben mit der Gustloff-Legende. Sein Vater bleibt unbekannt; die Mutter hat ihn vergessen, will nicht über ihn sprechen und verwechselt ihn möglicherweise mit einem anderen Mann. Paul wächst in der DDR auf, setzt sich aber nach Westberlin ab und studiert Germanistik. Er wird von seinem „möglichen“ Vater finanziell unterstützt und arbeitet als Journalist für Springers „Morgenpost“. Paul verfertigt Sachberichte und schreibt über alles, auch über „Nie wieder Auschwitz“, aber nie über die „Gustloff“, denn das Thema war jahrelang nicht diskussionswürdig. Paul heiratet und hat einen Sohn. Seine Frau trennt sich von ihm und zieht mit dem Sohn Konrad in den Westen. Nach der Scheidung betrachtet sich Paul als „lebensversehrten“ Versager.

Die Mutter, Konrads Großmutter, Ursula (Tulla) Pokriefke ist eine Virtuosin der Anpassung an politische und gesellschaftliche Umstände. Sie überlebt; ist zufrieden und voller Widersprüche, die sie selbst nicht empfindet. Sie erinnert sich an die Nazizeit, die „gute Seiten“ hatte und denkt mit Freude an die „schöne“ Fahrt auf dem KDF-Schiff „Gustloff“. Sie wird Tischlerin und Leiterin einer Tischlerbrigade in der DDR. Sie ist überzeugte Kommunistin und zündet eine Trauerkerze an, als Stalin stirbt. Trotzdem macht sie keine Schwierigkeiten, als sich Paul nach Westberlin absetzt. Sie hat außergewöhnlichen Einfluss auf Konrad und vermittelt ihm Ansichten über die Vergangenheit, die der Erzähler als „das unbeirrbare Gequassel des Ewiggestrigen“ charakterisiert. Aber Tullas Gerede, das ihre enge Verflechtung mit dem Schiff, der Torpedierung und der Schiffslegende herausstellt, beeinflusst nachdrücklich Konrads Leben. Als Konrad (Konny) seine Großmutter nach dem Mauerfall in Schwerin besucht, erzählt sie ihm erregende Geschichten aus der Vergangenheit.

Für Konrad lebt die Vergangenheit nicht nur auf, er will sie rehabilitieren. Nachdem ihm Tulla einen Computer schenkt, konzentriert er sich auf den Fall Gustloff, den er „richtig stellen“ muss. Durch sein unablässiges Bemühen wird „Gustloff“ eine Internet-Sensation. Die Berichterstattung schließt ein: Stapellauf, Lobesreden, Nachrichten über Robert Ley, Urlauber- (Kraft durch Freude), Lazarett-, Ausbildungs-, Truppentransport- und schließlich Flüchtlingstransportschiff, Torpedierung durch ein russisches U-Boot, dessen Kapitän Alexander Marinesko kurz erwähnt wird, und schließlich Erinnerungsfeiern der Überlebenden. Währenddessen debattieren zwei junge Menschen auf der Website www.blutzeuge.de alle mit dem Untergang der „Gustloff“ verknüpfbaren Gedanken. Ihre Meinungen sind hart, kompromisslos und unvereinbar. Konny vertritt die Ehre deutscher Vergangenheit; sein Gesprächspartner David ist Fürsprecher des Judentums und versucht, Konnys Ansichten zu widerlegen. Paul verfolgt die Debatten und erkennt, dass sein Sohn der „schiffskundige“ Germane ist, beurteilt aber das Schreiben Konnys als „harmlos kindisches Zeug, das er als Cyberspace-Turner von sich gab“ (88). Er erkennt auch hinter Konnys Feststellungen das Gerede Tullas. Was er nicht erwartet, was niemand ahnt, ist das unerhörte Ereignis der Novelle. Konrad schlägt David vor, sich zu treffen. Er erschießt David bei der Begegnung am 20. April 1997. Er handelt aus innerer Notwendigkeit: Die Stimme des Feindes muss zum Schweigen gebracht werden. Das Gerichtsverfahren ergibt, dass David eigentlich Wolfgang heißt, kein Jude ist, aber alles Jüdische hoch verehrt. Er leidet unter schweren Schuldvorstellungen und verlangt Sühne vom deutschen Volk. Er hat kein Verständnis für die Meinung seiner Eltern, die finden, „irgendwann müsse Schluß sein mit den ewigen Selbstanklagen.“ Dieser Sachverhalt ändert Konnys Meinung nicht. Er wird mit 7 Jahren Jugendhaft bestraft. Die Eltern können Konrad nicht verstehen. Dagegen debattieren andere die Schuldfrage weiterhin auf einer neuen Webseite Kameradschaft-konrad-pokriefke.de. Sie kennzeichnen seine Haltung als vorbildlich.

Was bleibt: eine unabgeschlossene Auseinandersetzung, an der jede Generation mitwirkt und in der alle ihren Erfahrungshorizont erweitern. Die Gegensätze bestehen fort. Die Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, stößt auf das ständige Bemühen, die Vergangenheit zu begreifen.

2. Vergangenheit: Erinnern – Wiederherstellen – Deuten
2.1. Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Retrospektive

Fragen der Begriffsbestimmung von Wahrnehmung, Gedächtnis und Erinnerung führen in Literatur und Kritik seit 1945 zu theoretischen Ermittlungen und Überlegungen, die im Handlungsverlauf von Erzählungen anklingen. Die Problematik eine wie auch immer ausgeprägte Realität sprachlich ausdrücken zu können, führt zuweilen dazu, theoretische Ansätze aus den Geisteswissenschaften in literarische Texte einzubauen oder naturwissenschaftliche Erkenntnisse unbefragt zu übernehmen. Die in den vorliegenden Ausführungen besprochenen Autor(inn)en stimmen darin überein, dass jede Wahrnehmung auf der bewussten und auch unbewussten Aufnahme von sinnlichen und geistigen Eindrücken basiert. Die Eindrücke werden sinnvoll zu einer Wahrnehmungseinheit gestaltet und im Gedächtnis bewahrt.14 Die Wahrnehmung wurzelt in Erleben, Handeln, Betrachten und Reflektieren. Jedes Erleben erfasst eine sinnliche und geistige Reaktion auf das, was uns in Natur und Gesellschaft umgibt und auch auf Ereignisse im Leben. Das Handeln kann in instinktiven Reaktionen gründen, die besonders in der Kriegsthematik geschildert werden. Der Begriff kennzeichnet jedoch ferner jedes bewusst überlegte Verhalten zur Umwelt und bildet die Voraussetzung zu möglicher Selbst- und Welterkenntnis.15

Das Gedächtnis ist sowohl individuell als auch kollektiv eingefärbt. Es erfasst den Augenblick des Geschehens, die Zeitspanne eines Eindrucks, die konkrete Reaktion auf eine Begebenheit und die festgehaltene Sensation, welche unterschiedliche Sinneseindrücke zu einer Einheit verschmilzt. Die gespeicherten und geordneten Eindrücke initiieren außerdem bewusste Lernprozesse. Der Vorgang beeinflusst die Bewusstseinslage von Individuen und Figuren in Texten und schafft die Voraussetzung für die unterschiedlichsten literarischen Gestaltungen. Beispielsweise erfährt der Erzähler, ein Physiker, in Christoph Aigners Anti Amor (1994), wie komplex abgründig jede Wahrnehmung ist. Sein Gegenspieler, Theseider, reduziert die ideelle, ideale klassische Liebesvorstellung und sittliche Neigung auf rein biologische Vorgänge. Beide bezweifeln schließlich jede Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis. Scharfsinn und Spekulation, Phantasie und Wahn stehen zuletzt gleichberechtigt nebeneinander in der im Text postulierten immer „werdenden und vergehenden Welt.“16

Ein in der Erinnerung kritisch beleuchteter Eindruck kann tradierte oder kollektive Vorstellungen übernehmen und das Ereignis zu einer neuen, authentisch wirkenden Einheit verbinden. Dieser Vorgang führt zu Verunsicherungen in Tatsachenberichten und Aussagen von Augenzeugen. Er ist Ausgangspunkt für Erkundungen zahlreicher Autor(inn)en in Bestandsaufnahmen der Vergangenheit. Darüber hinaus beleuchten die Realismus-Diskussionen (sozialistischer, klinischer, magischer Realismus) und die Literaturkrisis-Debatten das Wechselverhältnis von Stileigenheiten und Wahrnehmung, Erinnerung und politischen oder ästhetischen Überzeugungen.17 Augstein und Walser versuchten 1998 in einem kritischen Gespräch die Beschaffenheit der Erinnerung zu bestimmen. Ihr Meinungsaustausch „Erinnerung kann man nicht befehlen. Martin Walser und Rudolf Augstein über ihre deutsche Vergangenheit“18 verdeutlicht in Feststellung, Frage und Gegenfrage, wie beide im Rückblick ihr Handeln und ihre Unterlassungen häufig so deuten, dass sie ihrem gegenwärtigen Erfahrungshorizont entsprechen. Beide suchen die Wahrheit, unterbrechen aber ihre Beobachtungen durch kritische Einwände, in denen deutlich wird, dass nicht alles so verlaufen sein kann, wie sie es in ihrer jetzigen Erinnerung im Gedächtnis haben. Beispiele: „Walser: Bist du sicher? … Das halte ich für die nachträgliche Inszenierung eines Films. Augstein: Ich weiß es noch. Sonst hätte es sich mir ja nicht eingeprägt. … Walser: Und das hast du dir gemerkt? Da warst du erst zehn.“ Walser fasst nach: „Das hast du nicht gesagt, jetzt verklärst du irgend etwas. … Du wußtest doch nicht, wer Lovis Corinth ist und daß man die Bilder verkaufen muß. Gib zu, das hat dein Vater gesagt, Rudolf!“ Augstein betont die Ablehnung Hitlers in seiner Familie, die politisch wach erscheint; darauf Walser: „Du bist gleich auf der SPIEGEL-Seite der Welt geboren worden. … Rudolf, du bist wirklich der beste, schönste, liebenswürdigste, ungefährdetste Roman …, den ich je gelesen habe. … Mit der Wirklichkeit kann es nichts zu tun haben.“ Darauf Augstein: „Es ist erlebte Wirklichkeit, nicht geschönt.“ Walser ist überzeugt davon, dass jeder bewusste Rückblick die Vergangenheit verändert. Das Gespräch weist hin auf die Problematik „falscher“ Erinnerungen, die subjektiv als wahr, untrüglich, wirklich empfunden werden, aber objektiven Tatsachen widersprechen.19

Walser unterscheidet zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Gedächtnis ist faktisch; es erfasst Einzelheiten, die etwas genau bestimmen (ein Lehrer stolpert im Klassenzimmer; der Pfiff eines Freundes; ein Bild an der Wand im Wohnzimmer), aber keine größeren Zusammenhänge herstellen. Walsers Skizze „Ein Jahr und das Gedächtnis“ setzt mit der Beobachtung ein: „Das Gedächtnis, unsere große Unfähigkeit: ein Haus, das unser eigen ist, aber wir haben nichts zu sagen darin.“20 Darauf folgen vorbeifliegende politische und gesellschaftliche Pressenachrichten und persönliche Eindrücke eines Jahres. An sie schließt die Frage an, ob das Ganze lediglich ein Angebot ist, aus dem sich das Gedächtnis nur aussucht, was ihm gefällt. Möglicherweise kann das Gedächtnis „Steine blühen lassen“ oder sich vertraut machen mit der endgültigen „Redaktion aller Communiqués.“ (267) Gedächtnis ist sicherlich in fiktiven Dokumentationen von Kriegserfahrungen stark mit Appellen an die Einfühlung der Leser verknüpft. Erinnerung dagegen ist gestaltetes Gedächtnis; sie stellt Assoziationen her, schafft Überblicke, vermittelt Einsichten, die auch anderen nachvollziehbar werden. Sie erweckt in Texten Sympathie; sie ist eine kritisch besonnene Rückschau. Erinnerung ist letztlich geistig literarisch. Sie ist das, was Hesse im Kapitel „Die Berufung“ (Das Glasperlenspiel, 1943) schildert, wenn er darauf hinweist, Knecht habe in seinem Denken zwischen „legitimen“ und „privaten“ Assoziationen in der Gestaltung eines Spieles unterschieden. Zur Erläuterung führt der Erzähler das Beispiel eines abgeschnittenen Holunderblattes an. Der Geruch des Blattes zusammen mit der Erinnerung an ein Schubertlied „Die linden Lüfte sind erwacht“ ergibt eine Assoziationskette, die „Frühling“ ins Allgemeine, Typische erhöht.

Im dritten Kapitel der Novelle Ein fliehendes Pferd (1978) findet sich ein aufschlussreicher Hinweis auf die Walser ständig beschäftigende Ermittlung des Zusammenspiels von Gedächtnis und Erinnerung. Der Stuttgarter Studienrat Helmut Halm denkt über den plötzlich in seinem Leben aufgetauchten Klaus Buch und dessen Rekonstruktion seiner Vergangenheit nach. Der Erzähler stellt fest: „Helmut begriff allmählich, daß dieser Klaus Buch für einige ihm teure Jahre seines Lebens keine Zeugen mehr gehabt hatte. Und gerade aus diesen Jahren wollte er offenbar überhaupt nichts verlorengehen lassen. Zur Wiedererweckung des Gewesenen brauchte er einen Partner, der zumindest durch Nicken und Blicke bestätigte, daß es so und so gewesen sei. Ohne diesen Partner könnte er gar nicht sprechen von damals. Helmut sah, daß er es mit dem Kriegskameradenphänomen zu tun hatte. Er kannte diesen Wiedererweckungsfanatismus nicht. Jeder Gedanke an Gewesenes machte ihn schwer. Er empfand eine Art Ekel, wenn er daran dachte, mit wieviel Vergangenheit er schon angefüllt war.“21 Nach kurzem Nachdenken folgt der Satz: „Meistens wußte dieser Klaus Buch allerdings so genau Bescheid über das, was gewesen war, daß Helmut erschrak.“ (284) Helmut ist bestürzt und spürt Neid, weil sein Gedächtnis zwar mit Namen und Eindrücken angefüllt ist, aber keine erkennbare Form hat. Er kann das „Erzählbare“ nicht fassen. „Die Namen und Gestalten, die er aufrief, erschienen. Aber für den Zustand, in dem sie ihm erschienen, war tot ein viel zu gelindes Wort.“ (284) Für Klaus Buch dagegen lebt das Vergangene in einer „Pseudoanschaulichkeit“ auf, die alles Vergangene verleugnet und in plastischer Fülle vergegenwärtigt. „Bei Klaus Buch rollte es nur so von Tönen, Gerüchen, Geräuschen; das Vergangene wogte und dampfte, als sei es lebendiger als die Gegenwart.“ (285) Walser lässt der Sprache freien Lauf, um in einer Fülle von Eindrücken die formlose Vergangenheit im gegenwärtigen Gedächtnis festzuhalten und zugleich kritisch zu ironisieren. Demgegenüber versichert Jurek Becker 1997 in einem Interview, dass in seinem „Unbewußten“ Eindrücke des Vergangenen existieren. Aber auf die Frage, ob ihn seine Kindheit im Ghetto beeinflusst habe, antwortet er: „Das kann ich nicht sagen. Das müßte ein Psychiater rauskriegen. Ich habe keine Erinnerung daran. Ich kann Ihnen nichts über das Ghetto erzählen. Ich habe es vergessen – so als wäre es nie gewesen.“22 Er fährt fort mit der Feststellung, dass er sich zuerst intensiv mit der Vergangenheit beschäftigte, als er Material für seine Erzählungen sammelte. Dass die Konzentration auf Details, besonders wenn ein Autor alles „genaugenommen“ festhalten will, zu wuchern beginnt und die Gesamtdarstellung trüben kann, wird in der Erinnerungsdiskussion in Klaus Schlesingers Die Sache mit Randow (1976) deutlich. Die als Kriminalroman angelegte Erzählung beschreibt den Prozess gegen die Randow-Bande und den Mörder Randow. Sie verdeutlicht jedoch außerdem in detaillierten Einzelheiten das Leben in der DDR, fängt das Berliner Lokalkolorit und die damaligen Unterhaltungen der Einwohner ein und bietet viele lesenswerte Kurzporträts. Konkrete Hinweise auf die allgemeine Situation machen die Zeitumstände auch jungen Lesern verständlich, die der geschilderten Zeit bereits fernstehen.

 

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart ist einge­hender in den Schilderungen von Maron, Ortheil und Hilbig. Im Erzählverfahren Marons wird deutlich, was auch die Erzählungen von Ortheil und Hilbig prägt und was bereits Soziologen wie etwa Maurice Halbwachs und Karl Mannheim in ihren Schriften feststellten: Die Erinnerung an Vergangenes wird von der gesellschaftlichen Umwelt mitbestimmt. Individuelle und kollektive Erinnerungen hängen von den zeitbedingten, zurückliegenden und gegenwärtigen Umständen ab. Dieser Sachverhalt tritt besonders deutlich in Marons Pawels Briefe hervor. Der konkrete Anlass der Suche nach der vergangenen und vergessenen Zeit ist die Umfrage eines holländischen Fernsehteams, das 1994 nach Berlin kommt, um die Haltung der Deutschen zur Vergangenheit zu dokumentieren. Die Autorin beginnt die Erzählung mit Fragen: Warum jetzt diese Geschichte schreiben? Die Lebensläufe gehören der Vergangenheit an. Wie entstand das Gefühl, sich „rechtfertigen zu müssen“? Warum etwas festhalten, das „wenig sicher ist“?23 Was ist Erinnerung? Wie ist sie beschaffen? „Erinnern ist für das, was ich mit meinen Großeltern vorhatte, eigentlich das falsche Wort, denn in meinem Innern gab es kein versunkenes Wissen über sie“. (8) Darüber hinaus erwägt Maron die Möglichkeit, dass das ganze Vorhaben ein Versuch sei, dem eigenen Leben Sinn zu geben oder es geheimnisvoll zu gestalten.

Die entstehende Familiengeschichte vermittelt Einblicke in das Leben von drei Generationen. Sie schildert die Herkunft, den Existenzkampf und den Tod des Großvaters Pawel Iglarz, eines zum Baptismus konvertierten Juden aus Polen, der sich mit seiner Frau Josefa in Berlin niederlässt, um dort als Schneider eine sorgenfreie Existenz aufzubauen; die Großeltern werden 1939 nach Polen ausgewiesen und kommen nach kurz befristetem Dasein im Ghetto im Konzentrationslager um. Die Geschichte beschreibt ferner die Kindheit der Mutter Hella und ihre Entwicklung zu einer überzeugten Kommunistin; sie erfasst das Aufwachsen und die kritische Meinungsbildung von Monika im Hause der Mutter und des Stiefvaters Karl Maron, des DDR-Innenministers von 1955 bis 1963. Das besondere Kolorit dieser alltäglichen Geschichten entspringt den Beobachtungen der Beteiligten, ihren Versuchen, das Geschehen zu verstehen, es selbst zu verklären, und der ständigen Befragung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Maron schildert die Auswirkungen des politischen Geschehens auf die Großeltern als ein von unkontrollierbaren Mächten gesteuertes Schicksal. Gleichzeitig bezweifelt sie die Vorstellung von undeutbaren Mächten und lehnt jeden Mythos des Vergangenen ab.

Marons Verunsicherung ist persönlich und bestimmt zugleich die Zweifel der Erzählerin, die sich fragt, ob es überhaupt möglich ist, eine objektiv-kritische Schilderung des Vergangenen zu geben. Die Darstellung der Auswirkungen des politischen Geschehens der NS-Zeit, der DDR-Jahre und der Wende auf die Betroffenen erfasst widersprüchliche Auffassungen: man musste sich anpassen; man wollte überleben; das Schicksal ist undeutbar; man wurde aufgerufen, verantwortlich zu handeln. Der Rückblick hält eine Szene fest, in der die Mutter nach alten Fotos sucht und auf einen Karton mit Briefen des Großvaters aus dem Ghetto und Antwortbriefen der Kinder stößt. Die Mutter ist verwirrt, kann sich nicht erinnern, diese Briefe gelesen oder geschrieben zu haben. Maron stellt fest: „es war unmöglich, daß sie die Briefe nicht gelesen hatte, so wie es unmöglich war, daß sie die in ihrer eigenen Handschrift nicht geschrieben hatte.“ (10) Die Erkenntnis, dass sich die Mutter an den Briefwechsel, „in dem es um ihr Leben ging, nicht erinnern konnte“ (11), verbunden mit der Tatsache, dass jedes Vergessen in der öffentlichen Meinung gerade zu einem Synonym für Verdrängung und Lüge geschrumpft“ (11) war, leitet Reflexionen über Gedächtnis, Erinnern, persönliche und historische Wahrheit, Dokumentation und Authentizität ein, welche die gesamte Darstellung prägen. Diese Überlegungen sind nicht nur maßgebend für die Schilderung des Lebens der Großeltern und der Mutter, sondern bestimmen auch Marons Bestandsaufnahme ihres eigenen Lebens.