Wie ein Tier

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Zweiter Teil

Das Erschrecken der Jäger

Kapitel 5

Der Wachtmeister Hermann Heckelberg war in der Nacht vom 20. zum 21. September 1940 der diensttuende Beamte auf dem Polizeirevier Berlin-Karlshorst. Sein Tätigkeitsbuch war an diesem Tag schon ziemlich gefüllt. Alles, was anfiel, war in vier Spalten zu vermerken:

– Lfd. Nr. – Bezeichnung der Angelegenheit – Was ist darauf veranlasst?– Wann und durch wen abgegeben?

Die Verkäuferin Dorothea Opitz aus der Treskowallee hatte eine Jüdin angezeigt, die um viertel sechs in ihrer Bäckerei erschienen war, um ein Brot käuflich zu erwerben. Seit dem 4. 7. war es aber Juden nur noch zwischen 16 und 17 Uhr gestattet, Lebensmittel einzukaufen. »Die Jüdin wurde dem Revier zugeführt und der Gestapo überstellt.«

Die Rüstungsarbeiterin Margot Mucke war wegen Arbeitsverweigerung angezeigt und der Gestapo vorgeführt worden.

Zwei Kriegsgefangene aus Frankreich waren beim Schwarzhandel erwischt und festgenommen worden.

Gegen die Straßenbahnschaffnerin Erna Nawrocki war von einer Nachbarin Anzeige wegen des verbotenen Umgangs mit einem Fremdarbeiter erstattet worden.

Die Eheleute Fritz Schwarz und Hella Sara Schwarz, geb. Hirschfeldt, hatten Selbstmord begangen und ihre drei Kinder mit in den Tod genommen. »Angehörige konnten nicht ermittelt werden. Der Nachlass der Verstorbenen ist aufgenommen und sichergestellt worden. Ein Verzeichnis über die aufgenommenen Gegenstände ist an das Amtsgericht abgegeben.«

In einer Telefonzelle am S-Bahnhof Karlshorst war eine »slawische Hetzschrift« gefunden worden. Der Text hatte gelautet: »Schlagt Hitler und Bonzen tot, bringt Luftangriffe zu Ende«.

Ein aufmerksamer Straßenpassant hatte die Kohlenhändlerin Anna Walter wegen eines »Verstoßes gegen das Verdunklungsgesetz« zur Anzeige gebracht.

Heckelberg hatte das alles mit seiner steilen Handschrift sorgfältig eingetragen. Ordnung war das Herz aller Dinge. Er kam aus einem kleinen Dorf in der Uckermark und hatte es schon in der Schule gelernt:

»Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen.« So stand es im Brief des Paulus an die Römer, und so war es richtig bis in alle Ewigkeit. Heckelberg beugte sich vor, um seine Schreibtischlampe mehrmals an- und auszuknipsen. Wenn doch nur alle Menschen so funktionieren würden wie sie! Das ging nur, so seine Urerkenntnis, wenn ein starker und genialer Mann am großen Schalthebel eines Volkes stand. Ohne ihn ging es nicht. Und aus dieser Einsicht heraus hatte er sich schon sehr früh der Bewegung angeschlossen, war er ein Pg. mit vergleichsweise niedriger Nummer geworden, und er wusste, dass sein Führer in wenigen Jahren ein Großdeutschland geschaffen haben würde, das frei war von jedem Verbrechen. Adolf Hitler hatte Millionen Volksgenossen in Lohn und Brot gebracht, den artfremden Klassenkampf und seine Parteien beseitigt, die Kleinstaaterei überwunden und in den wenigen Jahren seiner Regierung ein Reich der Sauberkeit und Ordnung aufgebaut.

Heckelberg drehte sich zur Wand hin um, und mit einem langen Blick auf das aufgehängte Führerbild fühlte er voller Dankbarkeit, dass das so sein musste, wenn es einem gut gehen sollte: Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Und er dachte an seinen Ältesten, der bei den Fallschirmjägern war, und an den Jüngsten, der sich im Polenfeldzug ausgezeichnet hatte. Solch eine Gefolgschaft brauchte der Führer, wenn sein großes Werk gelingen sollte. Jeder an seinem Platz, damit das Gute seinen Sieg errang. Man hatte seine Pflicht zu tun. In Rüstung, Industrie und Wehrmacht wie hier im Polizeirevier. Wie oft genügte ein gutes Wort und ein wohlgemeinter Ratschlag, wie dankbar war manche Frau für die humorvolle Art, mit der man den schwierigsten Dingen die Härte nahm. Heckelberg wusste, was man über ihn sagte: Er sei ein Mann mit Herzenswärme.

Derart zufrieden mit sich und der Welt, öffnete er die obersten Knöpfe seiner Uniform, steckte sich ein Pfeifchen an, machte es sich in der Revierstube so gemütlich wie zu Hause am heimischen Herd und widmete sich wieder der Lektüre, die ihm die lange Nacht verkürzen sollte: dem Bericht über den jüngsten Polenfeldzug. Er begann mit der Reichstagsrede des Führers vom 1. September 1939: »Seit Monaten leiden wir alle unter der Qual eines Problems, das uns einst das Versailler Diktat beschert hat und das nunmehr in seiner Ausartung und Entartung unerträglich geworden war. Danzig war und ist eine deutsche Stadt! Der Korridor war und ist deutsch! Alle diese Gebiete verdanken ihre kulturelle Erschließung dem deutschen Volk, ohne das in diesen Gebieten tiefste Barbarei herrschen würde!« Heckelberg las das mit demselben wohligen Genuss, wie er mit großem Hunger in eine Wurststulle biss. »Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!« Der Führer wollte nichts weiter sein als der erste Soldat des Deutschen Reiches.

Das Telefon begann zu schrillen, und Heckelberg knurrte es an wie sein Schäferhund den schwarzen Zwergschnauzer seiner Nachbarin. Die Gedankenverbindung lag insofern nahe, als eine ältere Dame schon viermal in großer Erregung angerufen hatte, um nach ihrem entlaufenen Drahthaarterrier zu fragen. Und sie war es in der Tat zum fünften Male. Eine Irmgard Fröhlich, wie er inzwischen wusste.

»Hören Sie, Herr Wachtmeister, das Tierchen hört auf den Namen Fipsi. Da muss es doch möglich sein, ihn zu finden, wo doch das Revier in unserer Nähe liegt.«

»Ich stehe schon die ganze Zeit über am Fenster und rufe nach Ihrem Hündchen«, sagte Heckelberg.

»Herzlichen Dank!«, rief Fräulein Fröhlich. »Aber dazu muss unsere Polizei doch auch da sein, nicht wahr?«

»Das ist an dem, ja« Endlich konnte er sich wieder seinem Kriegsbericht zuwenden.

Am 8. September 1940 erreichten die deutschen Panzertruppen die Außenbezirke von Warschau. In Südpolen wurde Rzeszow genommen und bei Sandomierz die Weichsel überschritten. Als alter Marschierer aus den Jahren 1914–18 kannte Hermann Heckelberg Polen ziemlich gut. Und las er die polnischen Namen, so erinnerte sich sofort an die harten wie doch schönen Tage von damals. Am 9. September wurde Lodz von den deutschen Truppen besetzt, und Hermann Göring erklärte in einem Berliner Rüstungswerk: »Deutschland ist der bestgerüstete Staat der Welt, den es überhaupt gibt. Keine Macht der Welt verfügt über so umfangreiche Produktionsstätten und Rüstungsbetriebe« Und er schloss mit den Worten: »Wenn aber das letzte Opfer von uns verlangt wird, dann geben wir es mit den Worten: Wir sterben, auf dass Deutschland lebe.«

Das rührte Heckelberg derart an, dass er, der harte Hund des ersten Polenfeldzuges, feuchte Augen bekam. Für das Vaterland zu sterben, war das einzige, was einem Leben Sinn verlieh.

Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Diesmal war es ein Volksgenosse aus der Dorotheastraße, der meldete, dass sich zwei Ausländer unter seinem Fenster abfällig über den Führer und den Krieg geäußert hätten.

»Und wo sind die beiden jetzt?«, fragte Heckelberg.

»Weitergegangen.«

»Und wo soll ich die jetzt suchen?«

»Na, hier in Karlshorst. Wozu ist die Polizei denn da?« Heckelberg zuckte bedauernd die Achseln. »Tut mir leid, ich bin alleine hier, alle anderen Beamten sind gerade unterwegs im Streifendienst. Und so viele sind wir nicht mehr, alle jungen Beamten sind ja zum Heeresdienst eingezogen worden.«

»Und wer schützt uns hier an der Heimatfront!« Und aufgelegt. Heckelberg hielt den Hörer noch ein Weilchen in der Hand. Nun ja, so unrecht hatte der Anrufer gar nicht einmal. Wenn er nur an die Sittlichkeitsverbrechen dachte, die laufend im Laubengelände unten an der Bahn geschahen. Er wusste nicht, wie er sein erhebliches Störgefühl wieder loswerden sollte und kam sich vor wie ein Schüler, der ausgerechnet hatte, dass Caracciola auf Mercedes-Benz mit einer Geschwindigkeit von 2355 Stundenkilometern gesiegt hatte. Irgendetwas konnte da nicht stimmen.

Aber wieder hinderte ihn das Telefon am Weiterdenken. Wahrscheinlich wieder Irmgard Fröhlich. Diesmal mit der Information, dass ihr Fipsi wieder heil zu Hause angekommen war. Entsprechend unfreundlich war sein Ton. Doch er musste sich schnell korrigieren, denn der Anruf kam vom Aufsichtsbeamten des S-Bahnhofs Berlin-Karlshorst.

»Hier sitzt eine junge Dame bei mir, die berichtet, dass sie aus einem fahrenden Zug hinausgestürzt worden ist.«

»Wie?« Heckelberg konnte nicht ganz folgen. »Tot?«

»Nein.«

»Klar, wenn Sie bei Ihnen sitzt …« Heckelberg stöhnte auf.

Der wenige Schlaf in den letzten Tagen. »Verletzt, wollte ich sagen …«

»Nein. Das heißt nur leicht und so auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen.«

»Komisch …«

»Ein Beamter der Bahnpolizei ist mit einer Taxe unterwegs zu Ihnen, mit der jungen Dame …«

»Danke, ja …« Heckelberg legte auf und blickte nachdenklich seinem Führer ins Gesicht. Im Nachhinein kam es ihm gar nicht mal so albern vor, sofort an eine Tote gedacht zu haben. Er klopfte bedächtig seine kurze Pfeife aus und ging in der kleinen Revierstube auf und ab. Das ging doch alles nicht an. Wenn der Zug mit sechzig Stundenkilometern fuhr und es bis zum harten Schotterbett zwei Meter in die Tiefe ging, dann war man doch ganz einfach tot, wenn man unten landete. Oder zumindest schwer verletzt. Noch dazu als Frau. Nein, das war ganz sicher wieder so ein Fall, wo ein junges Mädchen zu lange gefeiert und getanzt hatte und nun eine solche Geschichte erfinden musste, um der Strafe ihrer erzürnten Eltern zu entgehen.

 

Er hörte Schritte auf dem Flur und ging zur Tür. Aus dem ungewissen Halbdunkel näherte sich ein Bahnbeamter, der eine Frau in einem rotbraunen Mantel vorangehen ließ.

»Heil Hitler, Herr Wachtmeister! So, da wären wir!« Hilfsbereit führte Heckelberg die junge Frau in sein Zimmer und bot ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch an. »So, bitte, setzen Sie sich erst einmal. Wollen Sie vielleicht ein Glas Wasser haben?«

»Wasser? Danke, nein …« Die junge Frau schüttelte den Kopf und setzte sich überaus vorsichtig hin.

Heckelberg fand das ein wenig gespielt. Auch war der Stuhl ziemlich neu und nicht irgendwie wacklig. Er musste sich erst wieder bewusst machen, dass sie ja aus dem Zug gefallen sein wollte.

Geistesabwesend sah die junge Frau zuerst auf das Führerbild an der Wand, dann zum verhängten Fenster. Wie eine Träumerin kam sie Heckelberg vor. Der große, stramme Bahnpolizist stellte sich dicht neben Heckelberg und flüsterte ihm ins Ohr, ob er ihn wohl mal allein sprechen könnte.

Heckelberg wandte sich an die junge Dame. »Bitte, entschuldigen Sie uns einen Augenblick …« Dann ging er mit dem Bahnpolizisten auf den Flur hinaus und fragte ihn, was denn sei.

Der senkte die Stimme. »Wissen Sie, Wachtmeister, ehe Sie mit der Vernehmung beginnen, wollte ich Ihnen noch sagen, was mir vorhin aufgefallen ist. In der Taxe, als wir nebeneinander gesessen haben, das Fräulein da und ich …«

Heckelberg schmunzelte. »Dass sie hübsch ist?«

»Nein, dass sie nach Alkohol gerochen hat. Das war schon so in meinem Dienstzimmer auf dem Bahnhof, als ich da mit ihr gesprochen habe.«

Heckelberg fand das kaum bemerkenswert. »Zwei Gläschen Likör … Sie ist doch nicht betrunken.«

»Nein, aber … Komisch, dass ihr nichts weiter fehlt als ihre Fahrkarte.«

»Nun …«

»Ich wollte Sie ja auch nur informiert haben.«

»Na, schön … Dann wollen wir die Ärmste doch mal selber hören.« Heckelberg zog die Tür wieder auf, und sie gingen zurück in die Revierstube, in der vergleichsweise helles Licht brannte. Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, der jungen Dame gegenüber, während der Bahnpolizist seitwärts an der Wand zu sitzen kam.

»Nun, wie geht es Ihnen denn jetzt?« Heckelberg begann die Vernehmung ein wenig so, als sei er Arzt und sie Patientin.

»Haben Sie Kopfschmerzen? Oder fühlen Sie irgendwo besondere Schmerzen?«

Die Gefragte schüttelte den Kopf und versuchte dabei ein Lächeln, das ihr aber eher zur Grimasse geriet. Zugleich erhob sie sich eine Handbreit vom Stuhl und stöhnte verhalten.

»Entschuldigung, aber ich …« Verlegen ließ sie sich wieder auf die Sitzfläche nieder, doch ihr Gesicht verzerrte sich nun, als hätte man ihr eine Injektionsnadel ins Fleisch gejagt.

»Ach so …« Heckelberg schwankte immer noch, ob das echt war oder nur Theater. »Sie sind ja auf’s Gesäß gefallen …« Die junge Dame wurde rot und nickte, worauf Heckelberg vom leeren Stuhl eines Kollegen das Sitzkissen losband und es ihr, als sie sich ein paar Zentimeter erhoben hatte, kurzerhand unterschob.

»So, nun geht’s wohl besser?«

»Danke, ja …«

»Dann wollen wir mal hören, Fräulein …«

»Kargoll, Gerda Kargoll«

»Schön … Am besten ist es, Fräulein Kargoll, Sie erzählen uns nun einmal der Reihe nach, was Sie da erlebt haben?«

»Ja …«, Fräulein Kargoll schien bemerkt zu haben, dass man ihr keinen rechten Glauben schenken wollte, und wirkte zunehmend verschüchterter. »… viel kann ich Ihnen nicht berichten. Es ging alles so schnell und überraschend, wissen Sie … Ich bin mit der S-Bahn von Köpenick nach Hause gefahren, und da plötzlich … Nein, ich muss das wohl von Anfang an erzählen … Ich bin erst in den falschen Zug gestiegen, in die falsche Richtung gefahren.«

Heckelberg nickte. »Sie haben sich also verfahren …«

»Ja, und da ich gleich eingeschlafen bin, habe ich das erst in Rahnsdorf gemerkt.«

»Und sind da raus und wieder nach Berlin zurück …« Heckelberg sagte das fast ein wenig gelangweilt.

»Genauso, ja. Aber auf dem Bahnsteig in Rahnsdorf hat mich der Mann angesprochen. Der, der mich nachher …«

»Oh …« Heckelberg war sofort wieder hellwach. »Und, ist Ihnen was Besonderes aufgefallen an ihm?«

»Nein, bei dem schwachen Licht da. Nur, dass er eine Mütze aufhatte.«

»Nun, ja …« Heckelberg kratzte sich den Kopf. »Sie haben miteinander gesprochen?«

»Ja, er hat mich gefragt, woher ich käme.«

»Ist Ihnen dabei was aufgefallen?«

»Nein.«

»Und dann sind sie beide in den Zug gestiegen?«

»Ja, in die 2. Klasse. Ich bin dann sofort wieder eingeschlafen und hab irgendwie die Orientierung verloren, das Zeitgefühl … Als ich dann hochschrecke, sitzt der Mann mir gegenüber. Ich frage ihn, wo wir sind. Wuhlheide. Plötzlich …« Sie stockte.

Heckelberg fragte sich, ob sie nun wirklich wieder in Panik geriet oder ob sie nur eine gute Schauspielerin war. »Bitte, beruhigen Sie sich doch, es ist ja alles vorbei …«

Fräulein Kargoll schloss kurz die Augen, presste die Lippen zusammen und gewann ihre Fassung zurück. »Ja … Plötzlich beugt er sich zu mir herüber und will mir unter den Mantel fassen, zwischen die … Ich stoße ihn zurück und will noch zur Tür. Die schließen aber schon, der Zug fährt los. Er springt auf mich zu und packt mich am Hals. Ich wehre mich … so …« Sie stand auf und machte vor, wie sie mit den Knien gestoßen und mit ihren Fäusten von unten herauf in das Gesicht des Mannes geschlagen haben wollte.

Heckelberg spürte wohl, in welcher Erregung sie sich jetzt befand. Aber er hatte in seiner langen Dienstzeit schon Frauen mit noch ganz anderen Schauspielkünsten kennengelernt.

»Und weiter?«

Fräulein Kargoll setzte sich wieder und machte eine Geste der Hilflosigkeit. »… weiß ich nicht, wie es weiterging. Mir muss wohl doch mit einemmal schwach geworden sein, denn ich erinnere mich nur, dass der Kerl mich noch umfasst und zur Tür gezerrt hat.«

»Haben Sie denn schon auf dem Boden gelegen?«

»Ja … Nein … Bitte, ich weiß es nicht mehr. Mein Mantel war nachher schmutzig von der Erde da draußen auf dem Bahndamm. Aber … ich spüre noch jetzt, wie der Luftzug … als er die Abteiltür aufgerissen hat. Und dann … Ich bin erst wieder zu mir gekommen, als ich im Dunkeln auf der Erde lag.« Sie begann zu schluchzen. »Das war so entsetzlich alles!« Sie wischte sich mit ihrem kleinen Taschentuch die Tränen aus den Augen und rang um Fassung.

»Ja, das ist alles.«

»So, so …«, meinte Heckelberg begütigend, »das ist ja eine tolle Geschichte. Na, dann wollen wir das mal alles genau zu Protokoll nehmen.« Er holte ein Formular hervor und stellte zunächst die Personalien der Überfallenen fest. Fräulein Kargoll war Turnlehrerin und kam aus der Lietzenburger Straße 38 in Berlin-Schöneberg. Heckelberg fragte sie, was sie denn da in Köpenick gemacht habe.

»Ich war zu Besuch bei Bekannten.« Das war Heckelberg zu allgemein.

»Bei wem bitte?«

»Bei Doktor Stüben, das heißt bei seiner Frau. Parisiusstraße 29.«

Heckelberg schrieb und fragte weiter: »Und welchen Zweck verbanden Sie mit diesem Besuch?«

Fräulein Kargoll war ein wenig irritiert. »Zu welchem Zweck? Wieso?«

Heckelberg blieb geduldig, obwohl es ihm zunehmend Mühe machte. Aber sein Gegenüber war hübsch und so brünett, wie er es mochte. »Ja, Fräulein Kargoll, in einem solchen Fall muss die Polizei alles ganz genau wissen. Wie sollten wir sonst eine solche Geschichte aufklären können? Also …«

Er wollte sich an ihren sicherlich hübschen Beinen erfreuen, musste aber zu seinem Leidwesen feststellen, dass sie keinen Rock, sondern lange, weite Hosen trug.

»Waren noch andere Personen bei Doktor Stüben, das heißt, verließen noch andere Leute zusammen mit Ihnen das Haus? Waren Sie alleine dort oder in Gesellschaft?«

»Ach so, ja. Es war eine kleine Feier dort, und ich verließ mit noch, warten Sie mal, mit noch einer Dame und drei Herren das Haus.« Sie nannte zwei Vor- und zwei Nachnamen.

»Die wohnen aber alle in Köpenick, und wenn Sie meinen, es käme davon jemand in Frage, das ist ausgeschlossen, denn der Mann in der S-Bahn hatte eine Uniform an.«

»Also von einer Feier«, wiederholte Heckelberg und dachte an die Information des Bahnbeamten bezüglich des Alkoholgeruchs, den nun auch er wahrnehmen konnte. »Das mit der Uniform halten wir nachher noch fest. Hatten Sie das Gefühl, dass Ihnen auf der Straße jemand gefolgt ist?«

»Nein. Aber darauf hab ich auch nicht weiter geachtet, weil mich ja meine Bekannten zum Bahnhof gebracht haben.«

Für Heckelberg war weiterhin alles Routine. »Welche Klasse benutzten Sie?«

»Bitte? Zweite Klasse, wie gesagt …«

»Ah, ja …« Heckelberg versuchte, sich an das zu erinnern, was ihm der Bahnpolizist noch so gesagt hatte. Zum Beispiel, dass dem Fräulein nichts weiter als die Fahrkarte gefehlt habe.

»Vermissen Sie übrigens etwas von Ihren Sachen?«

»Wie bitte?«

»Ich meine, ob Ihnen irgendein Gegenstand fehlt. Handschuhe, Geld oder was anderes in dieser Richtung?«

»Nein … Meine Tasche lag noch neben mir, als ich wieder zu mir gekommen bin. Zu. Der lange Lederriemen hing mir überm Arm. So …«

Sie machte es den beiden Männern vor.

»Darf ich dann mal Ihre Fahrkarte sehen?«

»Ja, die Fahrkarte …« Fräulein Kargoll blickte zum Bahnpolizisten hinüber. »Das habe ich schon Ihrem … Kollegen hier gesagt, dass ich meine Fahrkarte nicht mehr finden kann.«

»Haben Sie also ›vergessen‹, eine zu lösen?«

»Nein. Meine Bekannten waren doch dabei, als ich in Köpenick am Schalter …«

»Na schönchen …« Heckelberg gab sich väterlich. »Wenn Sie wirklich eine hatten, wo haben Sie die dann hingetan? Jeder hat doch einen ganz bestimmten Platz dafür. Bei Frauen ist es in der Regel die Handtasche …«

Fräulein Kargoll kramte noch einmal in den Tiefen ihrer kunterbunt gefüllten Tasche herum, ohne aber fündig zu werden. »Sie ist einfach nicht mehr da.«

Heckelberg legte die Feder beiseite und lehnte sich zurück bis an die hohe Lehne seines Stuhls. »Hm, denken Sie doch einmal nach. Als Sie in Köpenick einstiegen, werden Sie sie noch in der Hand gehalten haben. Aber wenn man im Abteil Platz genommen hat, dann steckt man doch seine Fahrkarte irgendwo hin. Zumal Sie ja bis Schöneberg noch ein ganzes Weilchen zu fahren hatten.«

Fräulein Kargoll machte eine hilflose Handbewegung. »Es nützt alles nichts, ich hab schon vorhin darüber nachgedacht, aber mir fällt es nicht ein.« Sie blickte Heckelberg fast bittend an. »Ich kann auch gar nichts mehr denken … Der Sturz aus dem Zug …« Sie rieb sich mit den Fingerkuppen über die Schläfen. »Mir fehlt zwar nichts weiter, aber …«

»Na schön …« Heckelberg nahm seinen Federhalter wieder hoch und ergänzte seine bisherigen Eintragungen mit den drei Worten »Fahrkarte abhanden gekommen«. Dann ließ er das Fräulein Kargoll ihre Angaben über den Überfall noch einmal wiederholen und stellte weitere Fragen. »Und … können Sie genauere Angaben über das Gesicht des Mannes machen?«

»Nein, es ist ja so verdunkelt auf den Bahnhöfen und in den Wagen. Ich glaube, es war ein sehr faltiges Gesicht.«

»Jung oder älter?«

»Dreißig Jahre vielleicht.«

»Können Sie die ungefähre Größe angeben?« Fräulein Kargoll stand auf und hielt die rechte Hand in der Höhe ihres Hutes.

Heckelberg stellte sich daneben und schätzte die Größe des Täters – wenn es einen solchen wirklich gab und das Fräulein nicht wegen irgendwelcher Liebesdinge flunkerte – auf 1,60 bis 1,65 Meter. »Und was für eine Uniform hatte der Mann an?«

»Wie soll ich das als Frau …« Sie zögerte. Heckelberg wusste nicht, wie das zu deuten war. Entweder sie war jetzt zu müde, um ganz schnell etwas zu erfinden, das plausibel klang, oder sie scheute sich davor, die Mitteilung zu machen, einen Mann in der Uniform von SS, SA oder Wehrmacht erkannt zu haben.

»Na!?«, half er ein wenig nach.

»Vielleicht ein Eisenbahner. Oder, warten Sie, wo gibt es so was noch? Ach so, bei der Post.«

»Haben Sie Rangabzeichen bemerkt, Sterne am Kragen oder eine Schnur um die Mütze? Hatten Sie den Eindruck, dass es sich um einen Beamten oder einen Arbeiter handelt?« Fräulein Kargoll wurde nun ein wenig schnippisch: »Es war doch keine gepflegte Unterhaltung, die wir da …«

 

»Nun!« Heckelberg ermahnte sie.

»Es ging doch alles so fürchterlich schnell. Und dann die Dunkelheit. Die Uniform …«, sie schloss die Augen und versuchte, sich noch einmal zu erinnern, »… die war nicht sehr sauber.«

Heckelberg notierte es. »Und, äh … müsste der Mann Kratzwunden zurückbehalten haben?«

»Nein, ich hatte doch Handschuhe an.«

»Was ist Ihnen denn so durch den Kopf gegangen, als Sie wieder zu sich gekommen sind, erzählen Sie doch mal.«

Fräulein Kargoll zögerte. »Nun … das war alles so unwirklich, wie im Traum. Als ich wieder zu mir gekommen bin, da habe ich zuerst wirklich gedacht, dass ich das alles nur geträumt hätte. Das Schreckliche alles. Eben war ein Zug an mir vorübergerauscht, sehen konnte ich nichts, es herrschte absolute Dunkelheit … Ich hatte Angst, gelähmt zu sein, und war glücklich, dass ich meine Hände wieder bewegen konnte, meine Füße … Und wehtat mir auch nur …«, sie wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte, »… die Sitzgelegenheit. Ich hab mich dann aufgerappelt, und da hing auch noch meine Handtasche am Arm. Ja, und dann hab ich meine Handschuhe ausgezogen und mein Gesicht abgetastet. War alles in Ordnung, nichts Ernstliches passiert. Und darum war das Empfinden auch so stark, dass ich das alles nur geträumt hätte.«

Heckelberg fixierte sie. »Ist Ihnen die Gegend hier bekannt?«

»Hier? Nein.«

»Nun, wie konnten Sie denn dann so rasch zum Bahnhof finden, nach Karlshorst, in dem weglosen Gelände?«

Sie verstand seine Zweifel nicht. »Na, immer an den Gleisen lang.«

»Wie, das in der totalen Finsternis?«

»Weil da über mir ein Zug gefahren ist. In Richtung Karlshorst. Natürlich kamen auch Züge in entgegengesetzter Richtung, aber in der anderen Richtung haben sie gehalten, gar nicht mal weit weg. Da bin ich dorthin gegangen. Es war ja totenstill, und ich konnte den Lautsprecher hören, die Durchsage: ›Zurückbleiben!‹ Wenigstens hab ich mir das eingebildet. Vielleicht sind es nur ’n paar Fahrgäste gewesen, die da was gerufen haben. Es war nicht weit zu gehen.«

»Wie weit nach Ihrer Meinung?«

»An die hundert Meter, vielleicht ’n bisschen mehr.« Heckelberg schüttelte den Kopf. »Wenn das so war, dann müsste doch Ihre Kleidung … Kommen Sie, sehen wir mal nach.«

Heckelberg erhob sich und betrachtete aufmerksam den modischen Mantel, den Fräulein Kargoll ein wenig geöffnet hatte. Auch der Bahnpolizist war aufgestanden, um sich an der Spurensuche zu beteiligen. Aber weder am Mantel noch am Hosenkostüm darunter war irgendetwas zu finden. Es war wie ein Wunder. Aber an solche glaubte Heckelberg nicht. Nicht daran, dass jemand bei 60 km/h aus einem S-Bahn-Zug stürzte und keinen Riss in seiner Kleidung hatte. Kopfschüttelnd setzte er sich wieder an sein Anzeigeformular.

Erst später zu Hause sollte Fräulein Kargoll feststellen, dass die Hose ihres Kostüms doch zerrissen war. Sie hielt es für unwichtig, dies der Polizei zu melden. Hätte sie es getan, wäre vieles anders gelaufen.

Heckelberg fühlte sich von Fräulein Kargoll nun doch etwas vergackeiert. Keine Spuren an der Kleidung. Normalerweise waren die Leute tot, wenn sie aus der S-Bahn fielen oder wenigstens schwer verletzt, und ihre Kleidung konnte man getrost in die Lumpen geben. Er hatte Mühe, förmlich zu bleiben. »Nun, Fräulein Kargoll, Sie nach dieser Darstellung noch nach einem Verdacht zu fragen, scheint mir zwecklos zu sein …«

»Ja.«

Er stand abermals auf, ging aber diesmal zur Tür. »Damit wären wir am Ende. Halt, bitte noch Ihre Telefonnummer.« Er ließ sie sich sagen und notierte sie im Stehen. »Danke. Und wenn Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, so bitte ich, hier schriftlich oder telefonisch Mitteilung zu machen. Dann können Sie nun also nach Hause fahren.« Nun klang er doch etwas spöttisch: »Geht es alleine?«

Der Bahnbeamte tat einen Schritt nach vorn. »Ich fahre mit.«

Heckelberg nickte und reichte Fräulein Kargoll ein wenig widerstrebend die Hand. »Bei so viel Schwein, das Sie haben, sollten Sie es mal in der Lotterie versuchen.«

»Ich kann es ja selber nicht verstehen …«

Die beiden gingen, Heckelberg war wieder allein. Er blickte auf die Uhr. Es war fast 1 Uhr 30. Nachdem er sich eine Pfeife angesteckt hatte, begann er, seinen Bericht an das Polizeipräsidium anzufertigen. Immer wieder kam ihm dabei in den Sinn, wie vergleichsweise stark das Fräulein doch nach Alkohol gerochen hatte. Wie viele Gläschen Likör mochte sie getrunken haben? Wie betrunken war sie gewesen? Um das beurteilen zu können, hätte er sie in garantiert nüchternem Zustand kennen müssen. Auch das mit der Fahrkarte war merkwürdig genug. Alles da, nur die Karte nicht. Raub schied also aus. Keine Verletzung, nichts zerrissen. Also auch kein Sittlichkeitsdelikt. Er war zu lange im Dienst, um da nicht etwas zu wittern. Das Ganze sah irgendwie nach einem erwünschten Alibi aus. Wozu mochte das kleine Fräulein es brauchen? Am Ende, wenn er alles gegeneinander abwog, blieb das Wahrscheinlichste, dass die Dame in ihrem Schwips die Tür ein wenig zu früh geöffnet hatte und hinausgestürzt war. Aber warum hatte sie dann den Überfall erfunden?

Heckelberg überlegte lange, ehe er seinen Bericht mit der Überschrift »Mordversuch« versah und zusammen mit einer Anzeige gegen unbekannt nach oben weitergab.