Skandal um Zille

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»Kommt das in die Ausstellung?«

Max Liebermann zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht so recht …«

Kowollek entschloss sich, aufs Ganze zu gehen. »Sagen Sie, Herr Professor, sind denn Zilles Zeichnungen wirklich so einzigartig? Unser Chefredakteur ist fest davon überzeugt. Ich meine aber, dass Sie eine Lithographie wie diese im Handumdrehen auch hinbekommen würden. Auf dem Weg zu Ihnen haben wir einen Jungen gesehen, der Pferdeäppel aufsammelte. Das wäre doch ein typisches Zille-Motiv. Bildunterschrift: Siehste, mein Junge, ooch für unsaeens liejt det Jold uff de Straße

Max Liebermann kratzte sich den kahlen Schädel. »Det müsste schon zu machen sein.«

Schon hatte er einen Skizzenblock aufgeschlagen und nahm einen Stift in die Hand.

Fünf

1928 war ein Schaltjahr, und so gab es einen 29. Februar, an einem Mittwoch. Berlin hatte also noch etwas mehr Zeit, sich am Besuch des afghanischen Königs Aman Ullah zu erfreuen. Ihm war ein prachtvoller Empfang bereitet worden, und fuhr er in einer offenen Limousine durch die Stadt, standen Tausende am Straßenrand, um ihm zuzujubeln.

»Wir haben ja keinen eigenen König oder Kaiser mehr«, stellte Johannes Banofsky fest, als er mit Cilly am Frühstückstisch saß.

Die Freundin kaute an ihrer Marmeladenschrippe. »Ullemulle – König der Herzen, steht im BBB. Heute will er den ›Verein zur Förderung höherer Bildung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts‹ besuchen.«

»So übel ist der Knabe wohl gar nicht. Er will sein Land modernisieren und sich dazu bei uns Anregungen holen. Eine Menge soll er schon auf den Weg gebracht haben, zum Beispiel die allgemeine Schulpflicht, die Gleichbehandlung von Mann und Frau, die Trennung von Kirche und Staat.«

»Wollen wir nicht auswandern nach Afghanistan?« Banofsky lachte. »Erst wenn mein Zille-Film im Kino war.«

»Wie weit bist du denn mit dem … dem …«

»Exposé«, half er ihr aus. »Ich bin fertig und spreche nachher mit einem Produzenten. Mal sehen, ob er anbeißt.«

»Dann kannst du ihn gleich fragen, ob er auch ’ne Kostümbildnerin braucht.«

»Mach ich.«

Nach dem Frühstück brach Banofsky auf. Er fühlte sich dabei wie ein Abenteurer, der ferne Lande eroberte. Mit der Hochbahn fuhr er vom Schlesischen zum Halleschen Tor und lief von dort das letzte Stück zu Fuß. Pünktlich eine Minute vor zehn betrat er mit klopfendem Herzen die Räume der Berolina-Film in der Blücherstraße, Berlin SW 61, um mit dem Produzenten Otto Guttentag zu reden. Den Termin hatte ihm Thea von Harbou vermittelt. Guttentag reichte in seiner Bedeutung bei weitem nicht an Oskar Meester, Joe May und Jules Greenbaum heran, galt aber als kommender Mann. Er war, wie es in diesen Jahren vonnöten war, wenn man etwas darstellen wollte, außerordentlich korpulent, und sein Kopf erinnerte Banofsky an ein Rhinozeros – an eines, das gerade aus dem Wasser auftauchte, denn Guttentag schwitzte gewaltig. Und er schnaufte beim Sprechen, offenbar eine Folge seines Asthmas.

»Guten Tag, Herr …« Banofsky geriet nun ebenfalls ins Schwitzen, denn »Guten Tag, Herr Guttentag!« klang ziemlich albern. Also korrigierte er sich schnell. »Guten Morgen, Herr Guttentag!«

Der Filmproduzent, ein echter Berliner, hievte sich aus seinem Drehsessel und lachte. »Als erste Szene nich schlecht, de Leute lachen.«

Banofsky nickte. »Das opening ist immer wichtig.«

»Wat denn, Englisch könn’n Se ooch?«

»Ja, ich musste mich bei meinen Vorbereitungen ein wenig einarbeiten, denn alles Neue beim Film kommt – aber wem sage ich das! – aus den Vereinigten Staaten. In Hollywood wird die Musik gemacht, nicht mehr in Berlin und Woltersdorf. Alles wird sich in Bälde um den Tonfilm drehen, um die Lichtspur und so weiter.«

Guttentag gab mit seiner Mimik zu verstehen, dass er solch belehrende Vorträge nicht sonderlich schätzte. »Na jut, setzen wa uns erst mal. Könn’n Se denn ooch so jut berlinern, wie Se Englisch können, junger Mann?«

Banofsky nahm auf dem Besucherstuhl Platz. »Wieso fragen Sie?«

»Mir is von der Harbou jesajt worden, det Se ’n Drehbuch üba Heinrich Zille schreim wollen.«

»Det is absolut richtich, Herr Juttentach. Ick hab ooch schon ville Stunden mit’m ollen Zille üba sein Leb’n jeredet und ooch sonst in Zeitungen und Büchan jeblättert, ick weeß nu mehr üba ihn, als a selba wissen tut.«

Guttentag schmunzelte. »Jut, Prüfung bestanden, Herr …«

»Banofsky.«

»Banofsky, meinetwegen. Kann ick mir sowieso nich merken, die janze Gesellschaft mit -ky hinten: Tucholsky, Ossietzky, Benatzky, Skladanowsky … Tja … Wenn Se sich an Zille vasuchen wollen, Banofsky, dann müssten wa damit anfangen, det jemand in Zilles Zimmer stürzt und ausruft: ›Meesta, ick komme vonna Oberbaumbrücke, Ihre Olle ist eem abjesoffen!‹«

Banofsky brauchte einige Sekunden, bis er den Scherz begriffen hatte. »Sie meinen eine Zille.« Das war ein Lastkahn, den man auf den Berliner Gewässern überall antreffen konnte.

Guttentag erwies sich als sehr umgänglicher Mann, der sich geduldig anhörte, was Banofsky schon alles zusammengetragen hatte.

»Een’ Fülm üba unsan Pinselheinrich kann ick ma jut vorstell’n. Der Zille is doch eena vom Stamm der Kaffeesachsen, oda?«

Banofsky nickte. »Stimmt. Geboren wurde er am 10. Januar 1858 in Radeburg bei Dresden. Sein Vater, Johann Traugott Zille, war Grobschmied und Uhrmacher. 1865 siedelte die Familie um nach Potschappel. Der Vater saß im Schuldgefängnis, weil er für einen Freund gebürgt hat, der pleitegegangen war. Im November 1867 zogen sie dann nach Berlin und wohnten in der Kleinen Andreasstraße Nr. 17, gleich am Schlesischen Bahnhof.«

»Da setzen Se ma an mit Ihrem Drehbuch!«, entschied Otto Guttentag. »Wat vorja war, det interessiert keen’ Menschen.«

»Natürlich«, beeilte sich Banofsky zu versichern. »Soll ich Ihnen gleich ein fertiges Drehbuch vorlegen?«

»Nee, nee!«, rief Guttentag. »So viel Vorschuss jibt et bei mir nich. Mir reicht et, wenn Se die einzelnen Szene erst ma skizzieren, damit ick ma ’n Bild von allet machen kann. Also noch nüscht weita als Zeit und Ort des Jeschehens, die Figuren und wat die so machen, ooch kleene Dialoge, aba nich schon allet.«

»Also eher ein Treatment?«

»Nenn’n Se det, wie Se woll’n, Hauptsache, et wird jut. Aba ’n bisschen mehr als ’n Exposé muss et schon sein.«

»Ich werde mir alle Mühe geben.« Banofsky wollte schon aufstehen, da fiel ihm ein, dass ihn Cilly um etwas gebeten hatte.

»Entschuldigung, dass ich Ihre Zeit noch länger in Anspruch nehme, aber meine Freundin ist Kostümbildnerin und lässt fragen, ob bei Ihnen nicht eine Stelle frei ist.«

»Schicken Se se mal vorbei, dann seh’n ma weita. Aba lassen Se die Jute erst ma links liejen, und kümmern Se sich um den ersten jroben Entwurf von Ihr’m Drehbuch!«

»Natürlich, das hat jetzt Vorrang. Ick werd in die nächste Zeit nüscht weita im Kopp haben als Heinrich Zille, mehr noch, ick werde richtich in den rinschlüpfen und selba der Pinselheinrich sein.«

Das aber ging nur, wie Banofsky schnell erkannte, wenn er mehr über die Jahre zwischen Zilles Geburt 1858 und dem Umzug nach Berlin 1867 in Erfahrung brachte, denn Einzelschicksale waren ohne Kenntnis gesellschaftlicher Umstände nicht ausreichend zu beschreiben. Er hatte jedoch weder die Zeit, sich tagelang in Bibliotheken umzuschauen, noch das Geld, sich teure Bücher zu kaufen. Also fuhr er zu seinem Vater nach Friedrichshagen, schließlich war der für einen Schnellkurs in preußischer Geschichte bestens geeignet. Der Gymnasialprofessor ließ sich nicht lange bitten.

»Nachdem die Revolution von 1848 gescheitert ist und die Reaktion gesiegt hat, beherrschen zwei Themen das Leben der Menschen: zum einen die Industrialisierung mit ihren sozialen Folgen und zum anderen das Streben nach einem deutschen Kaiserreich unter der Führung Preußens. Der Bevölkerung geht es schlecht. Hunger, Verarmung und Verwahrlosung bestimmen den Alltag. Zudem werden Arbeitervereine verboten und Andersdenkende verfolgt. 1857 bricht die Wirtschaft zusammen, Schuld war eine Überproduktion. 1858, im Geburtsjahr Heinrich Zilles, beginnt in Preußen die Regentschaft des Kronprinzen Wilhelm. Man hofft auf bessere Zeiten. 1862 betritt der berühmte Otto von Bismarck die politische Bühne. 1864 gewinnt Preußen seinen Krieg gegen Dänemark, 1866 wird auch Österreich besiegt. Preußens hat seine Vormachtstellung in Deutschland damit sicher. Der Norddeutsche Bund wird gegründet, er kann heute als Vorläufer des einigen Deutschen Reiches angesehen werden. Nachdem 1870 / 71 Frankreich bezwungen worden ist, wird Wilhelm I. Kaiser des Deutschen Reiches.«

Banofsky begann zu singen:

Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands! Heil, Kaiser, dir!

Fühl in des Thrones Glanz die hohe Wonne ganz, Liebling des Volks zu sein! Heil Kaiser, dir!

Sein Vater winkte ab. »Ist ja gut! Lass mich fortfahren. Berlin ist auf dem besten Wege zur Weltstadt, und der Baurat James Hobrecht sorgt mit seinem Bebauungsplan für Furore. Einerseits scheint die Geschichte Großes mit dieser Stadt vorzuhaben, andererseits gibt es immer noch Elendsviertel, in denen die Menschen in katastrophalen Zuständen leben. Viele Männer finden keine Arbeit, und in den Mietskasernen, die in manchen Stadtteilen immer häufiger zu sehen sind, herrscht weiterhin bittere Armut.«

»Ohne die hätte es keinen Zille gegeben.«

»Was bewegt die Berliner Bürger im Jahre 1867 sonst noch? Der Physiker Gustav Magnus verliest in der Akademie der Wissenschaften Werner Siemens’ Abhandlung Über die Umwandlung von Arbeitskraft in elektrischen Strom ohne permanente Magnete und macht damit die Erfindung der Dynamomaschine bekannt. Der Berliner Prater sorgt erstmals für Unterhaltung. Die ›Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie‹ tritt unter dem Vorsitz von Wilhelm Griesinger zusammen. Die Mittel zum Bau der Ringbahn von Moabit über Stralow bis nach Schöneberg stehen nun zur Verfügung. Am 24. Mai fällt noch Schnee. Am Schiffbauerdamm wird die erste Markthalle eröffnet. Die Eisenbahn nach Görlitz wird in Betrieb genommen … So sieht also die Lage aus, als die Familie Zille in der Stadt eintrifft. Warum sind sie ausgerechnet nach Berlin gegangen?«

 

»Zilles Vater hatte im Dresdner Schuldgefängnis in Wechselhaft gesessen und war vor seinen Gläubigern nach Dänemark geflüchtet. Er nahm an, in Preußen vor dem Zugriff der sächsischen Justiz sicher zu sein, und träumte von einer strahlenden Zukunft in Berlin, das ihn schon immer fasziniert hatte.«

Johannes Banofsky: Drehbuch zum Zille-Film

I Beginn in Berlin

(1867–1878)

1

November 1867 — Anhalter Bahnhof und Straßen

Es ist ein ebenso trüber wie nasser Novemberabend, als Ernestine Zille mit ihrem Sohn und der vier Jahre älteren Tochter Fanny am Anhalter Bahnhof eintrifft und Heinrich Zille als Neunjähriger zum ersten Mal seinen Fuß auf Berliner Boden setzt. Sie suchen nach dem Vater, der sie vom Bahnhof abholen will. Die Lampen sind so funzlig, dass man kein Gesicht richtig erkennt. Endlich kommt Traugott Zille auf sie zu. Die Begrüßung gerät ziemlich kühl. Es gibt nur einen Händedruck.

»Schulldschung, bin ä bissel späte.«

»Biste bedudld?«

»Nee. Scheen Daach ooch!« Dann vergisst Traugott Zille das Sächsische und bemüht sich, Hochdeutsch zu reden. »Nun sind wir alle wieder beisammen. Ich habe mich lange auf diesen Tag gefreut.«

Den Angekommenen wird eröffnet, dass man bis zur angemieteten Wohnung rund eine Stunde zu laufen habe. »Aber Schweres zu tragen haben wir ja nicht.«

Heinrich Zille hatte die letzten beiden Jahre bei den Großeltern in einer weiten Landschaft gewohnt, und nun erschlägt ihn alles: die hohen Häuser, die vorbeiratternden Pferdefuhrwerke, die Menschenmassen in der Friedrichstadt. Er beginnt zu nörgeln.

»Dohrwiere nich rum!«, ermahnt ihn der Vater.

Doch der Sohn mault weiter. »Ich werd in Berlin nie dorrheeme sein.«

2

November 1867 — Berliner Straßen und Wohnung Kleine Andreasstraße Nr. 17

Anmerkung für den Regisseur: Die Zilles müssten an sich zunächst weiterhin lupenreines Sächsisch sprechen, doch ich glaube, dass der Dialekt dem Publikum auf Dauer nicht zuzumuten ist. Deshalb lasse ich sie hochdeutsch reden und nur gelegentlich in ihren Dialekt zurückfallen. Selbst der alte Heinrich Zille wurde, auch wenn er sich noch solche Mühe gab zu berlinern, den sächsischen Zungenschlag nie ganz los.

Auf der Schillingsbrücke überqueren Traugott und Ernstine Zille mit ihren beiden Kindern die Spree und sehen rechts vor sich das Gebäude der Frankfurter Eisenbahn. An der Andreaskirche vorbei kommen sie in die Koppenstraße und auf der zur Kleinen Andreasstraße. Hier sind die Ärmsten der Armen zu Hause. Aber Heinrich Zille ist solche Verhältnisse gewohnt. Umso mehr staunt er, als sie den Hausflur betreten, denn eine Gaslampe an der Wand sorgt für eine gewisse Helligkeit, die Treppenstufen sind aus Holz gefertigt, und die Treppengeländer zieren eine feine Drechslerarbeit.

»Das ist ja richtig fürstlich hier!«, ruft er.

Als die Familie jedoch die Wohnung betritt, die der Vater gemietet hat, ist sein Schrecken groß. Sie haben kein eigenes Quartier, sondern müssen sich die Räumlichkeiten mit drei anderen Mietern teilen. Nur eine einzige Stube und eine kleine Küche gehören ihnen, der Abort befindet sich auf dem Hof.

Das Namensschild klebt schon an der Tür: ZILL.

»Warum nur Zill?«, fragt die Mutter. »Wo hast du denn das E gelassen, Traugott?«

Der Vater lächelt. »Das hat nicht mehr raufgepasst.«

Der wahre Grund ist ein anderer: Der Vater fürchtet, dass ihn die Behörden wegen seiner Strafverfahren in Sachsen auch in Berlin suchen werden, und hat seinen Familiennamen deswegen ein wenig verändert.

Heinrich wirft zuerst einen Blick in die Küche und ist entsetzt.

»Hier woll’n mr iwwerwinndorrn?«

Es gibt zwar einen Ofen, aber Holz und Kohlen sind nirgendwo zu entdecken. Sie werden den Winter über entsetzlich frieren müssen. Einen Tisch hat der Vater nicht auftreiben können, ein großer Pappkarton soll ihn ersetzen. Eine Tasse ohne Henkel steht auf dem Deckel des Kartons, vier verbogene Bestecke liegen herum, allerdings nur Gabeln und Löffel, keine Messer.

»Und womit sollen wir das Fleisch schneiden?«, fragt die Mutter. Der Vater lacht. »Hier wird es nie Fleisch geben.«

Stühle fehlen auch, es gibt nur einen wackligen Schemel. Heinrich hofft auf die Stube, doch dann steht er wie versteinert in deren Tür und verfällt vor lauter Erschütterung ins Hochdeutsche. »Ist das ein Dreckloch hier!«

Auf dem Fußboden sind Strohsäcke ausgebreitet: ihre Nachtlager. Ein paar Bündel liegen herum. Das sind ihre Kleidungsstücke, ihr ganzes Hab und Gut. Die graue Tapete hängt zerrissen an der Wand. Blutflecke zerquetschter Wanzen schmücken sie.

»Ehe ich hier einziehe, kannst du mich mit der Axt erschlagen«, sagt die Mutter.

»Sei froh, dass wir überhaupt ’ne Bleibe haben!«

Heinrich Zille geht zurück in die Küche und holt dort aus der Tasche seiner Mutter eine Bleistiftzeichnung hervor, die er während der langen Zugfahrt angefertigt hat. Auf dem Pappkartontisch ergänzt er sie mit ein paar Strichen. Sie soll sein Geburtshaus am Markt in Radeburg darstellen.

»Wenn ich mein Bild hier aufhänge, haben wir was Schönes im Zimmer.«

Der Vater grinst. »Die Wanzen werden sich ebenfalls freuen, haben sie doch dahinter ein sicheres Quartier.«

3

März 1868 — Schlächterei

Heinrich Zille betritt einen Schlächterladen, stellt sich an und wartet, bis er an der Reihe ist.

»Na, Kleena, wat willste?«, fragt ihn die Fleischersfrau.

»Ein halbes Pfund Schöpsenfleisch, bitte.«

Das Gelächter der Anwesenden schallt ihm entgegen. »Wat soll’n ditte sein?«

Eine Kundin glaubt es zu wissen. »Schöppsen sind doch die, die bei’t Jericht neben die Richta sitzen tun.«

Der Fleischer kommt von seinem Hackklotz herbei. »Wir sind doch hier keene Kannibalen nich!«

Seiner Frau tut der Junge leid, und sie will ihm eine Brücke bauen. »Wat is’n der Schöps für’n Tier?«

Heinrich Zille hat Angst, wieder etwas Falsches zu sagen, und beschränkt sich darauf, das gemeinte Tier lautmalerisch darzustellen. »Böööööh!«

»Mensch, een Schaf!«, ruft der Fleischer. »Hammelfleisch willste also.«

»Ja.«

»Warum sachste det nich jleich?«, tadelt ihn die Fleischersfrau und verabreicht ihm gleich noch eine Portion Lebenshilfe. »Wenn de in Berlin wat werden willst, dann musste so sprechen wie wa alle hier. Und wenn nich, denn kannste jleich wieda abschwirren.«

4

April 1868 — Wohnung Kleine Andreasstraße Nr. 17

Jettschmuck wird langsam zur Mode. Die meisten Berliner denken, dass sich der Name der Steine, die wie pechschwarzer Bernstein aussehen, von einer gewissen Jette, also Henriette, herleitet, und kaum einer weiß, dass die versteinerte Kohle zuerst am türkischen Fluss Gagae gefunden und zu Schmuck geschliffen worden ist. Bei den Juwelieren heißt der Stein aus Pechkohle Gagat, und aus der italienischen Form giaietto muss dann im Englischen jet und im Deutschen Jett geworden sein. Wegen seiner Farbe war der Jettschmuck insbesondere bei trauernden Witwen beliebt. Das hat Heinrich Zille, der es liebt, durch Berlin zu streifen, zur Osterzeit herausgefunden.

»Vater!«, ruft er beim Eintreten in die Küche. »Ich glaube, mit Jettschmuck können wir eine Menge Geld verdienen. Die Leute sind verrückt danach.«

Traugott Zille tippt sich an die Stirn. »Bei dir isses wohl imm Ohwerschiebchn nich ganns richdch!« Arme Leuten könnten sich doch keinen teuren Jettschmuck leisten, fügt er hinzu.

»Nee, aber den nachgemachten. Großvater hat mir gezeigt, wie das bei Ketten geht.«

Heinrich hat sich aus einer nahe gelegenen Werkstatt eine kleine, handliche Maschine ausgeliehen, und damit stanzen der Vater und er nun aus dicker Pappe Uhrenketten aus. Die kochen sie anschließend kurz in Leinöl, lackieren sie und schieben sie zum Trocknen in die geheizte Bratröhre.

Ernestine Zille, die Mutter, sitzt daneben und bastelt mit Fanny zusammen aus alten Lumpen und Putzlappen farbige Tintenwischer. Um sie für Kinder interessanter zu machen, schmückt sie diese noch mit kleinen Hunden und Katzen, die sie aus Stoffresten ausschneidet.

»Heinrich, mal noch zwee Oochen uff de Köppe druff, du kannst das so scheen.«

»Und was is mit den Igeln?« Gemeint sind die kleinen, mit Sand gefüllten Kissen, in die Frauen ihre Nadeln stecken.

»Alles färrdch. Morgen kannst du sie in die Läden bringen.«

5

April 1868 — Papierwarengeschäft in der Brüderstraße

Der alte Bormann ist damit beschäftigt, Schulhefte und Bleistifte auszupacken und in seinen Regalen zu verteilen, als Heinrich Zille mit einem Leinenbeutel in der Hand seinen Laden betritt. Man merkt, dass er sich bemüht, wie ein echter Berliner zu sprechen.

»Juten Tach, Herr Bormann, da bin ick wieda mal mit det Beste, wat wa zu Hause jefriemelt ham.«

Der Papierwarenhändler richtet sich auf und strahlt. »Mensch, Heinrich, det klingt ja schon so, als wenn de hier jeborn worn bist. Prima! Denn zeich ma her, wat de allet mitjebracht hast!«

Zille holt Tintenwischer und Stecknadel-Igel aus seinem Beutel. Bormann prüft alles sorgfältig. Die Tintenwischer findet er sehr gelungen, die Igel aber weist er zurück.

»Nee, Junge, so jeht det nich, die kannste jleich in’n Müll werfen.«

»Warum denn ditte?«

»Weil ihr ihnen mit Sand jefüllt habt«, erklärt ihm Bormann.

»Ja, weil wa den umsonst kriejen.«

»Aba eua Sand is nass!« Der Händler rollt mit den Augen, man sieht aber, dass er den Jungen mag. »Wat passiert, wenn eena Nadeln in eure Kissen steckt, Nadeln aus Eisen, na? Die rosten! In die Kissen jehörn Sägespäne rin, vastehste?«

6

April 1868 — Schneidemühle

Heinrich Zille, mit einem leeren Korb in der Hand, sieht gebannt zu, wie zwei Arbeiter vom Stamm einer Kiefer, der auf zwei Böcken liegt, eine Scheibe nach der anderen absägen. Das Gleichmaß ihrer Bewegungen – hin und zurück – erinnert ihn an die Pleuelstangen einer Dampflokomotive. Sein Blick richtet sich auf die Sägespäne, die sich unter dem Bock langsam zu häufen beginnen. Wieder fällt eine Scheibe auf die Erde. Er tritt vor und sieht den älteren der beiden Arbeiter an.

»Kann ick die Sägespäne ham?«

»Nee, die komm bei uns in’n Ofen.«

»Bitte, bitte!« Zille sieht den Arbeiter so flehentlich an, dass der weich wird.

»Meinetwegen.«

Zille bückt sich und schaufelt die angehäuften Sägespäne mit bloßer Hand in seinen Korb. Es pikt mächtig, aber er unterdrückt den Schmerz.

7

Mai 1868 — Vor einer Volksküche

Auf Initiative von Lina Morgenstern entsteht in Berlin eine Reihe sogenannter Volksküchen: Großküchen, die zum Selbstkostenpreis Mahlzeiten an arme Familien ausgeben.

Vor einer dieser Volksküchen sehen wir in einer Schlange Heinrich Zille mit seiner Mutter stehen. Beide haben einen Kochtopf in der Hand.

»Is det peinlich«, murmelt der Sohn.

Die Mutter weist ihn zurecht. »Brich dorr geene Zagge aus dorr Grohne!«

»Ick weeß, bessa, als det wa vahungan.«

8

Mai 1868 — Gegend um den Frankfurter Eisenbahnhof am Stralower Platz

An disponiblen Droschken ist bei Ankunft der Eisenbahnzüge öfters Mangel – so steht es in dem Buch Neuester Führer durch Berlin, Potsdam und Umgebungen aus dem Jahre 1860. Diesen Umstand macht sich Heinrich Zille zunutze, um sich und seinen Eltern weitere Einnahmen zu verschaffen. Die Droschken halten von 7 Uhr früh bis 10 ½ Uhr abends an den Bahnhöfen.

 

Wir sehen Heinrich Zille aus Richtung der Koppenstraße kommen und auf die Droschken zusteuern, die in langer Reihe vor dem Empfangsgebäude des Frankfurter Bahnhofs warten. Er spricht den ersten Kutscher an.

»Wann kommt’en der nächste Zuch aus Frankfurt?«

»Nachmittags kommt nur eena. Kurz vor fünfe.«

Doch der Zug lässt auf sich warten. Heinrich geht zum ausgehängten Fahrplan, auf dem steht 4.50 Nm als Ankunftszeit. Als der Zug um 5.30 Uhr immer noch nicht eingetroffen ist, machen sich die Droschkenkutscher wie auf Kommando davon. Wagen auf Wagen rollt in Richtung Remise davon.

»Wat soll schon sint?«, hört Heinrich sie fragen. »Wahrscheinlich is wieda mal ’ne Lokomotive kaputt. Oda in Frankfurt hattet Hochwassa jejehm.«

Er bleibt stehen, weil er ohnehin nichts Besseres zu tun hat. Vielleicht kommt der Stationsvorsteher aus seinem Kabuff und verrät den Berlinern, die Gäste abholen wollen, was passiert ist.

Tatsächlich tritt dieser wenig später auf den Perron. »Eintreffen des Zuges aus Frankfurt in zehn Minuten!«, schreit er.

Heinrich begreift blitzschnell, worin seine Chance liegt, und rennt zur Droschkenremise an der Mühlenstraße. Dort wurden die Kutscher durch die Darbietungen eines fliegenden Puppenspielers amüsiert.

»Los, alle zum Bahnhof zurück!«, ruft Heinrich Zille. »Der Zug aus Frankfurt kommt in’n paar Minuten!«

Ein Pfiff des Vormannes. Wer nicht ohnehin die Wartezeit auf dem Bock sitzend verbracht hat, springt hinauf. Alles greift zu den Zügeln und brüllt »Hü!«.

Der Verdienst der Männer ist gut, und dass Zille ihnen den Tip gegeben hat, ist ihnen ein paar Groschen wert.

9

1869 — Wohnung der Familie Zille

In der Küche, die wir aus Bild 2 kennen, sitzen Heinrich Zille und seine Mutter. Sie bastelt ihre Tintenwischer, er blättert in einem Magazin und stößt dabei auf einen reichbebilderten Artikel über den englischen Maler William Hogarth (1697–1764), der mit seinen ironischen und gesellschaftskritischen Bildern als Vater der modernen Karikatur gilt.

Die Mutter wirft einen missbilligenden Blick auf den Sohn. »Duh gannsd oh ma hellfn!«

»Das hier ist gerade so spannend, ich lese einen Bericht über William Hogarth. Er hat in London gelebt und war der Sohn eines verarmten Lateinlehrers …«

»Du bist der Sohn eines verarmten Schmieds, Schlossers, Uhrmachers und Goldschmieds«, wirft die Mutter ein und beginnt zu klagen. »Hat so viele Berufe, der Mann – und findet keine Arbeit.«

»Das ist nicht seine Schuld, Mutter, es liegt an den Zeiten.« Damit wendet sich Heinrich wieder Hogarth zu. »Silbergraveur und Kupferstecher hat er gelernt und sogenannte moralische Bilder gezeichnet: käufliche Frauenzimmer, Wüstlinge, verarmte Adlige …«

»Ja, ja, mid des Geschigges Mächden, da iss gä ew’ger Bund zu flechden.«

Zille liest, dass sich Hogarth auch einen Namen als comic history painter gemacht hat. »Koomick hisstorie peinter soll er auch gewesen sein … Hat sich der komischen Historie zugewandt, steht hier. Das gefällt mir, das möchte ich auch mal machen. Ich möchte so gern zum Zeichenunterricht gehen.«

Die Mutter tippt sich an die Stirn. »Duh haßd scha änn Biebmadds! Wo soll’n das Geld herkommen?«

Beide schweigen fortan. Die Mutter widmet sich wieder voll und ganz ihren Tintenwischern, Heinrich Zille träumt davon, ein Künstler wie William Hogarth zu sein. Da wird an der Tür geschlossen, und der Vater kommt herein.

»Hurra, wir sind gerettet! Sie haben mich bei Siemens & Halske genommen! Jetzt ist Schluss mit der Armut bei uns, und in ein paar Jahren bauen wir uns ein Haus in Rummelsburg.«

»Kann ich jetzt Zeichenunterricht kriegen?«

»Ja, mein Sohn. Was du selbst verdienst, musst du nicht mehr zu Hause abgeben, das kannst du dafür ausgeben.«

10

1869 — Wohnung des Zeichenlehrers Spanner

Es ist eine ärmliche Dachstube in Berlin O, Blumenstraße, in welcher der schon etwas ältliche Schullehrer Anton Spanner privaten Zeichenunterricht gibt, um seine Finanzen aufzubessern. Spanner hat einen einfachen Kerzenständer vor Zille aufgebaut, den der Junge mit dicker schwarzer Kreide abzumalen versucht.

»Das Zeichnen hat mir schon immer in der Schule Spaß gemacht«, erklärt Heinrich.

»Junge, konzentrier dich!«, mahnt Spanner.

»Bin schon fertig.« Zille reicht dem Lehrer das Blatt mit dem Kerzenständer.

Spanner stößt einen Laut des Unmuts aus. »Kind, dein Strich ist nicht flott und treffsicher genug. Ein Naturtalent bist du nicht. Und was heißt das? Üben, üben, üben! Also los!«

11

Mai 1870 — Umkleidezimmer einer Tingeltangel-Truppe

Fünf Sängerinnen einer Damenkapelle bereiten sich auf ihren Auftritt vor. Die meisten sind halbnackt, eine ist nur mit Strümpfen bekleidet. Das ist die einzige Schlanke, alle anderen sind dralle Frauenzimmer. Sie kann ihren Text schon auswendig und trällert ihr Lied mit zur Decke gerichteten Augen. Neben ihr sehen wir die Klavierspielerin, die mit breitem Hintern auf einer Reisetruhe sitzt und in die Tasten haut. Die dritte der Künstlerinnen hat sich vor einer Frisierkommode aufgebaut und macht sich zurecht. Sie hat eine knappe Schürze umgebunden, die aber ihr mehr als voluminöses Gesäß nicht bedecken kann. Die beiden anderen Sängerinnen stehen in der Mitte des Raumes und studieren ihre Lieder. Die eine hat schon ihr Unterkleid übergestreift, die andere ist nackt und zeigt eine außergewöhnlich starke Schambehaarung.

Heinrich Zille sitzt am Rande dieser Szene auf einem Kanapee und studiert die Damen. Wir erahnen, warum er später mit nie nachlassender Lust dralle Frauen zeichnen wird.

Die Direktorin kommt herein, mit einigen Briefen und mehreren Kostümen in der Hand. Sie steuert auf Zille zu.

»So, Heinrich, die Briefe bringste nachher zur Post. Und wenn die Kostüme alle im Koffer sind, trägste den zur Bahn und gibsten auf nach Frankfurt.«


Gesangsprobe einer Tingeltangel-Gruppe

12

Juni 1870 — Vor dem Brandenburger Tor

Heinrich Zille ist gerade einmal zwölf Jahre alt, hat aber als Stadtführer schon reichlich Zulauf. Wir sehen ihn mit etwa einem Dutzend Berlin-Besuchern vor dem Brandenburger Tor, wo er die kesse Berliner Göre gibt und mit fester Stimme und ein wenig marktschreierisch wiedergibt, was er zu Hause in Löfflers Stadtführer gelesen hat.

»Das Brandenburger Tor, meine hochverehrten Herrschaften, ist nach Ansicht von Kennern das schönste Tor in ganz Deutschland. Es ist nach dem Muster der Propyläen in Athen von Carl Gotthard Langhans erbaut worden und war 1793 fertig. Obendrauf sehen Sie eine Victoria in einer Quadriga stehen. Sie ist ein Werk von Gottfried Schadow. 1807 ist sie von den Franzosen nach Paris entführt worden, 1814 haben die Preußen sie aber zurückgeholt.« Ein korpulenter Herr aus Hamburg fühlt sich mehr und mehr gelangweilt und fällt Zille ins Wort. Dabei schwenkt er ein Exemplar des Hintertreppenromans Die Bauernfänger von Berlin. »Deswegen bin ich an die Spree gekommen, nicht der Bauwerke wegen! Die sind in Paris oder Wien doch ein wenig imposanter. Ich möchte hier das Fürchten lernen.«

Heinrich Zille verbeugt sich und bemüht sich um sein bestes Hochdeutsch. »Sehr wohl, der Herr. Das Fürchten möchten Sie lernen … Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf dem Alexanderplatz, wollen zum Denkmal Friedrichs des Großen Unter den Linden, wissen den Weg aber nicht und sehen sich unsicher nach allen Seiten um. Da kommt ein Berliner, fragt Sie freundlich, ob er Ihnen helfen kann. Er begleitet sie zu Friedrich dem Großen, Sie kommen ins Gespräch mit ihm und laden ihn zu einem Glas Bier ein. Er führt sie zu einer Kneipe, in der ganz zufällig mehrere Männer Karten spielen. Die laden Sie zum Mitspielen ein, Sie nehmen Platz und werden dann im Kümmelblättchen-Spiel, einer Art Hokuspokus mit Kartenerraten, gründlich übers Ohr gehauen und um einige Taler erleichtert. Die Dummen werden nicht alle.«