Nichts ist verjährt

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Honecker besucht Helmut Schmidt. «Erich, setz dich doch hin und nimm deinen Rucksack ab», fordert der Bundeskanzler ihn auf. Honecker: «Das geht nicht, da ist mein Herzschrittmacher drin.» – «So ein großes Ding? Meiner ist doch nur so groß wie eine Streichholzschachtel.» – «So groß war meiner früher auch, aber seit wir alles auf Braunkohle umgestellt haben …»

Yaiza Teetzmann konterte immer damit, dass sie ihm mit einem Spruch aus der BRD kam. «Wie war das noch mit der AEG, wofür stehen die drei Buchstaben? Doch für: Auspacken, einschalten, geht nicht.»

Schönbier langweilte das alles. Wurde er gefragt, ob er aus dem Osten oder aus dem Westen käme, antwortete er immer: «Aus dem Süden, aus Lichtenrade.»

Martin Mutsch lebte in bescheidenen Verhältnissen. Die kleine Wohnung im dritten Stock eines Hinterhauses war vollgestellt mit Büchern, so etwa allen Bänden der legendären DIE -Reihe – Delikte, Indizien, Ermittlungen –, die eigenen Werke dadurch hervorgehoben, dass sie dem Betrachter nicht nur den schmalen Rücken, sondern das ganze Cover zeigten. Glückwunschkarten mit einer großen Siebzig drauf lagen auf dem Schreibtisch herum, so dass man daraus schließen konnte, dass er vor kurzem seinen Geburtstag gefeiert hatte.

«Dann nachträglich noch …», sagte Mannhardt, nachdem sie sich begrüßt hatten. «Bei uns in den Zeitungen war gar nichts davon zu lesen, dass Sie …»

«Bei uns auch nicht», fügte Martin Mutsch hinzu.

«Wenn Sie damit das Neue Deutschland meinen. Aber zum einen bin ich nach dem Ende der DDR zu einem – wie sagt man bei Ihnen? – No-Name-Autor geworden, und zum anderen hat die Kriminalliteratur in der DDR immer einen sehr niedrigen Stellenwert gehabt, obwohl es in der Blaulicht -Reihe sogar ein Heft von Erich Loest gegeben hat.»

Während sie Martin Mutsch in sein Wohnzimmer folgten und Platz nahmen, fiel Mannhardt noch etwas zur Blaulicht -Reihe ein. «Ist die nicht anfangs vom Ministerium des Innern herausgegeben worden?»

Martin Mutsch war erstaunt, dass ein West-Berliner so etwas wusste. «In der Tat. Die Arbeit der Volkspolizei sollte ebenso wohlwollend wie realistisch dargestellt werden. Unsere Hochliteraten haben immer gelästert, die Blaulicht- Hefte seien nötig, weil es in der DDR keine BILD -Zeitung gab. Aber als ich einmal Ärger mit der SED hatte, hat Bernhard Oybin zu mir gesagt, ich solle doch Krimis schreiben, weil ich da ein wenig frecher sein dürfe.»

«Was Sie dann ja auch getan haben.» Mannhardt wies auf die Bände der DIE -Reihe, auf denen der Name Martin Mutsch zu lesen war.

«Ja, sicher. Schließlich gab es 1500 Mark für das kleine und 2500 Mark für das doppelte Heft, was bei den niedrigen Preisen bei uns eine Menge Geld war. Und bei einer Auflage von vielleicht 175 000 Exemplaren war man schnell im ganzen Land bekannt. Das hat mir damals sehr geholfen, meine Arbeit bei der Volkspolizei aufzugeben. Aber das Schreiben ist eben eine Sucht.»

«Und Oybin hat Ihnen dabei kräftig geholfen?», fragte Schönbier, der das Referat über den Krimi in der DDR nur langweilig fand.

«Bernhard, ja … Er ist eine Seele von Mensch und hatte eine Unmenge an Freunden aus aller Welt. Immer und überall hat er geholfen.»

Klar, dachte Mannhardt, je mehr Leute Oybin kannte, desto mehr konnte er seinem Führungsoffizier erzählen und der Stasi eine Freude machen.

«Sie wissen, warum wir hier sind?», fragte Schönbier.

«Noch kann ich Zeitung lesen», antwortete Martin Mutsch. «Noch sind meine Augen gut genug.»

«Und?»

Martin Mutsch lachte. «Von Kollege zu Kollege: Ich an Ihrer Stelle würde aufgeben, bevor ich angefangen habe, denn ich will nicht sagen, dass die halbe DDR als Täter in Frage kommt, aber in der fraglichen Zeit werden Hunderte von Freunden und Freundinnen im Haus am Imkerweg gewesen sein – und zwar in Bernhards Abwesenheit.»

«Wie das?», fragte Schönbier.

«Im Sommer war er fast immer in seinem Ferienhaus in Baabe, auf Rügen also, und hat das Haus in Schmöckwitz gern anderen zur Verfügung gestellt, wenn die in Berlin waren. Und Katja war nie da, die hat den Imkerweg gehasst. Sein Motorboot hat hinten am Zeuthener See gelegen, auch das hat viele angelockt. Der eine hat den Schlüssel an den anderen weitergegeben, und es hat x Schlüssel gegeben. Viele von seinen verheirateten Freunden haben Schmöckwitz auch als Liebesnest benutzt, um es da mit ihren Freundinnen zu treiben. Ich habe auch einmal einen Freund mitgenommen … Sie wissen ja, dass wir Schwulen es in der DDR nicht leicht hatten. Aber es geht ja hier um eine tote Frau. Nun, ich will das einmal so formulieren: Dass Sie da bei Oybin am Imkerweg nur eine skelettierte Leiche gefunden haben, ist eigentlich erstaunlich.»

Mannhardt fand es überhaupt erstaunlich, dass man nicht eher auf den Mord am Imkerweg gekommen war.

«Bei der lückenlosen Kontrolle, die das Ministerium für Staatssicherheit über alles hatte, und bei der ausgezeichneten Kriminalpolizei bei Ihnen drüben …?»

«Nun, bei der Nomenklatura schaute man nicht immer so ganz genau hin, und Bernhard Oybin war ja zu seinen besten Zeiten so etwas wie ein Heiliger bei uns. Und offenbar ist die Frau, die da in Schmöckwitz gefunden wurde, von niemandem vermisst worden.»

«Im fraglichen Zeitraum hat es Hunderte von Vermisstenmeldungen gegeben», sagte Schönbier. «Im Westen wie im Osten, und ehe wir uns da durch alle durchgearbeitet haben …»

Mannhardt fixierte Martin Mutsch. «Dass Sie Ihrem Freund und Gönner aus der Bredouille helfen wollen, ist sicherlich verständlich und ja durchaus auch ehrenhaft, aber für uns ist er nun einmal ganz automatisch der Tatverdächtige Nummer eins.»

«Ich würde eher von einer Tatverdächtigen sprechen», sagte Martin Mutsch.

«Sie meinen seine Ex-Frau?», fragte Schönbier.

«Katja Koschlick, ja. Mit ihren Psychosen und Borderline-Störungen gehört sie eigentlich wieder in die Psychiatrie. Den ganzen Tag hockt sie nur zu Hause und sieht sich alte Filme an … und trinkt dabei. Ihr Hass auf Bernhard ist pathologisch, und ihn jetzt mit einer Mordanklage vor Gericht zu sehen wäre der Höhepunkt ihrer Rache. Dass er halb gelähmt im Rollstuhl sitzt, das reicht ihr nicht.»

Friedrichshagen am Müggelsee war an sich der ideale Ruhesitz für einen Literaten, denn hier hatten Wilhelm Bölsche und Bruno Wille gelebt und 1888/89 ihren Dichterkreis begründet, zu dem unter anderen auch Richard Dehmel, Knut Hamsun, Gerhart Hauptmann, Peter Hille, Erich Mühsam, Frank Wedekind und Else Lasker-Schüler gezählt wurden, doch Mannhardt hatte seine Zweifel, ob Bernhard Oybin mit dem Heim, in dem er lebte, sonderlich zufrieden war. Die Pflegekräfte waren mufflig und schienen demotiviert und überfordert zu sein, in den Fluren roch es nach Urin.

Die Heimleitung hatte Oybin von ihrem Kommen informiert, und so kam er ihnen auf dem Flur mit seinem Rollstuhl entgegen. Mannhardt hatte diesmal Yaiza Teetzmann mitgenommen, weil er hoffte, durch sie, der Ex-DDR-Bürgerin, einen besseren Zugang zu ihm, dem Ex-DDR-Heroen, zu bekommen.

«Wehe den Besiegten!», rief Oybin ihnen zu. «Erst nehmen sie mir die Ehre, die neuen Herren, dann berauben sie mich meines Eigentums, und jetzt schicken sie auch noch den Henker zu mir.»

Halt’s Maul, du altes Stasi-Schwein, dachte Mannhardt bei sich.

«Ich habe Ihre Bücher immer gern gelesen», sagte Yaiza Teetzmann. «Und insbesondere Der Dispatcher ist in meinen Augen ein Meisterwerk.»

Da leuchteten Oybins Augen. «Richtig: Was damals ein Meisterwerk war, kann heute kein Machwerk sein, und was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein.»

Mannhardt fletschte die Zähne. «Das kenne ich doch von Hans Filbinger.» Gab es furchtbare Juristen, so gab es auch furchtbare Schriftsteller.

Oybin hatte es nicht gehört, denn zu sehr war er damit beschäftigt, Yaiza Teetzmanns Figur in sich aufzunehmen.

«Kommen Sie, mein Zimmer ist gleich hier nebenan, lassen Sie uns miteinander plaudern.»

Mannhardt verstand, warum der Mann mit seinem Charme die Frauen reihenweise erobert hatte. Er war einer von denen, die auch mit neunzig noch konnten und immer sagten, ein Mann nähme seine Potenz mit ins Grab. Er ließ Yaiza Teetzmann freie Hand, denn wenn er sich einmischte, lief er nur Gefahr, dass Oybin ihm ein Disziplinarverfahren anhängte.

Oybins kleines Zimmer war eine Zumutung und mit der Würde des Menschen, wie sie im Grundgesetz fixiert war, nicht ganz zu vereinbaren, das musste sich auch Mannhardt eingestehen. Es war eine Aufbewahrungsbox für Abgeschobene, deren baldiges Ableben anzunehmen war. Irgendwie tat er Mannhardt sogar ein wenig leid.

«Ich weiß, wie kränkend es für Sie sein muss, Herr Oybin, aber …» Yaiza Teetzmann zögerte fortzufahren. «Fakt ist nun einmal, dass auf Ihrem Grundstück in Schmöckwitz eine Leiche gefunden worden ist und alles auf einen Mord hindeutet.»

«Und die West-Presse wartet nur darauf, mir den anhängen zu können», sagte Oybin. «Aber da kann ich ihr nur hinterherrufen: Nu pogodi! »

«Das heißt: Na warte!», übersetzte Yaiza Teetzmann für Mannhardt. «Und stammt aus einer legendären sowjetischen Zeichentrickserie bei uns. Da gab es einen freundlichen, wissbegierigen Hasen und einen bösen Wolf. Der verliert zwar alle Duelle mit dem Hasen, steht aber nach jeder Niederlage wieder auf und brüllt dem davonhüpfenden Hasen hinterher: Nu pogodi! »

Mannhardt wollte sich der Sinn dieser Bemerkung nicht ganz erschließen, sah er doch in Oybin nicht den lieben Hasen, sondern den bösen Wolf.

Oybin setzte zu einer längeren Rede an. «Nun, ich hasse abgestandene Redewendungen, aber manche bringen einen Tatbestand wirklich auf den Punkt, zum Beispiel: Jede gute Tat rächt sich einmal. Jahr für Jahr habe ich mindestens einem Dutzend von guten Freunden und Verwandten mein Domizil in Schmöckwitz zur Verfügung gestellt.»

 

«Da war doch sicherlich auch alles verwanzt!» Mannhardts spontaner Ausruf entsprang keiner moralischen Verurteilung, sondern der Hoffnung, dass sich in den Stasi-Unterlagen noch etwas finden ließ, das sie auf die Spur des Mörders brachte.

«Raus hier!», schrie Oybin.

Mannhardt reagierte so cool, wie er es bei Schönbier gesehen hatte. «Dem Sieger fällt es nicht schwer zu gehen. Frau Teetzmann kann ja sicher noch bleiben.»

Damit verließ er den Raum, um vor der Tür auf und ab zu gehen. Es dauerte. Nach einigen Minuten hörte er Yaiza Teetzmanns Lachen, fast war es ein Kreischen. Mannhardt stöhnte auf. Seine Kollegin als Groupie, es war nicht zu fassen. Endlich kam sie auf den Flur hinaus.

«Das war ja voller Einsatz, um ihm ein Geständnis abzuringen», sagte Mannhardt. «Hat er denn gestanden?»

«Und wie!», rief Yaiza Teetzmann.

«Könntest du bitte deine sexistischen Bemerkungen im Dienst unterlassen, ich wende mich sonst an den Männerbeauftragten.»

«Okay, entschuldige. Nein, Oybin hält das alles für eine Rufmordkampagne. Er wird sich in den nächsten Tagen hinsetzen und mir eine Liste mit allen Freunden und Bekannten geben, die in den fraglichen Jahren bei ihm in Schmöckwitz in seiner Abwesenheit zu Gast gewesen waren. Soweit er sich erinnern kann.»

«Und will», fügte Mannhardt hinzu.

«Wenn es ihn entlastet, wird er schon wollen.» Mannhardt hatte da so seine Bedenken. «Er wird doch keinen Freund der Klassenjustiz ausliefern wollen.»

«Warten wir’s ab.»

«Ich könnte mir schon vorstellen, dass er’s selber war», sagte Mannhardt.

«Dir geht’s ja nur um die klammheimliche Freude!», hielt Yaiza Teetzmann ihm vor.

«Zugegeben, aber als West-Berliner – und damit als Opfer der DDR-Diktatur – darf ich die wohl haben.»

FÜNF
2007

HANS-JÜRGEN MANNHARDT hockte hinter seinem Schreibtisch und gab sich, da er allein im Zimmer war, dem Büroschlaf hin. Abgesehen davon, dass dieser gesund sein sollte, vertraute er als jemand, der brav seine Kirchensteuern zahlte, auch der alten Verheißung: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe. In diesem Falle hoffte er auf eine Erleuchtung, was den Schmöckwitzer Leichenfund betraf.

Und es schien so, als hätte er auf die richtige Karte gesetzt, denn als nach einer halbstündigen Siesta Yaiza Teetzmann zu Besuch kam, brachte diese frohe Kunde mit.

«Du, sie haben am Imkerweg im Grab noch etwas gefunden.»

«In welchem Grab?», fragte Mannhardt.

Yaiza Teetzmann schlug sich mit der flachen rechten Hand gegen die Stirn. «Mensch, da an der Hauswand, wo das Skelett gelegen hat!»

Mannhardts Gehirn brauchte einige Sekunden, bis es mit dem Booten fertig war. «Ach, da bei Oybin … Haben sie noch den Personalausweis der Toten gefunden?»

«Nein, aber so etwas Ähnliches: eine Kette mit einem Anhänger dran, und auf dem stehen die Initialen A. K.»

«Na prima!», rief Mannhardt. «Suchen wir nach allen vermissten Frauen mit den Vornamen Anna, Annegret, Anneliese, Annerose, Amalie, Amalaswintha – das war eine Königin der Goten, aber die wird ja kaum in Schmöckwitz ermordet worden sein –, Agnes, Asta, Anastasia …»

«Ist ja gut!» Leicht genervt unterbrach ihn Yaiza Teetzmann. «Ich bewundere dein Gedächtnis, aber …»

«Das K, ich weiß. A. K.? Da fällt mir auf Anhieb nur die Anna Karsch ein, die deutsche Sappho aus Berlin, aber die hieß ja Anna Louisa und muss so um Napoleon herum gestorben sein. Also kommt sie für Schmöckwitz kaum in Frage.»

Yaiza Teetzmann hatte keine Lust zu literarischen und sonstigen Ausflügen. «Das kleine Kettchen ist zerrissen, was darauf schließen lassen könnte, dass die Frau erwürgt worden ist.»

«Ich würde eher sagen, dass es gerissen ist, als der Täter die Frau in die Grube am Haus geworfen hat. Komisch aber, dass ihm das nicht aufgefallen ist.»

«In seiner Panik …» Yaiza Teetzmann sah da keine Probleme. «Sie wird ja noch bekleidet gewesen sein, als er sie aus dem Haus geschafft hat, und dunkel ist es vielleicht auch noch gewesen.»

«Werden wir also in den nächsten Tagen alle Vermisstenlisten nach dieser A. K. durchflöhen», sagte Mannhardt.

«Haben wir keine Praktikanten dafür?»

«Musst du mal welche beantragen.»

Mannhardt hatte keine rechte Lust dazu. «Dass das Geld dafür da ist, möchte ich bezweifeln. Schließlich müssen wir drei Opernhäuser und den Neubau des Stadtschlosses finanzieren.»

Obwohl er solche Arbeiten hasste, machte er sich selber auf die Suche nach den Vermisstenlisten der Jahre 1972 bis 1982, denn Bernhard Oybin zur Strecke zu bringen war ihm jedes Opfer wert. Doch bis zum Feierabend war er keinen Schritt vorangekommen, so dass er sich erst einmal in die U-Bahn setzte und nach Hause fuhr.

Als er aufgeschlossen hatte, kam ihm Heike entgegen, die sehr erstaunt darüber war, ihn zu sehen.

«Ich dachte, du wärst gleich weitergefahren.»

«Weitergefahren?», wiederholte Mannhardt. «Wohin denn?»

«Na, in die Fasanenstraße ins Literaturhaus. Da tritt doch heute Abend einer deiner besten Freunde auf.»

«Einer meiner besten Freunde?» Mannhardt ging gedanklich alle seine Freunde durch, aber die schrieben nur Einkaufszettel und Urlaubskarten. «Wer soll denn das sein?»

«Na, der große Bernhard Oybin.»

Der Berliner Landesverband des VS, des Verbandes deutscher Schriftsteller, in der Gewerkschaft ver.di hatte sich vor geraumer Zeit eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel (Fast) vergessene Schriftsteller einfallen lassen, und diesmal war Bernhard Oybin an der Reihe. Ort der Veranstaltung war der Kaminsaal des Literaturhauses in der Fasanenstraße.

Mannhardt kam vom U-Bahnhof Kurfürstendamm und staunte, dass man den alten Kult-Boulevard der West-Berliner noch immer nicht zum kurfürstlichen Jagdweg zurückgebaut hatte. Der Bahnhof Zoologischer Garten hatte ja seinen Status als ICE-Halt verloren und war tief gesunken. Während die Ost-Berliner jedem zu Mauerzeiten hinterlassenen Furz andächtig nachtrauern durften, machte man sich über die nostalgischen Gefühle der West-Berliner nur lustig. Wenigstens wurde der Palast der Republik nun abgerissen.

Die Fasanenstraße war nicht gerade Mannhardts Lieblingsgegend. Die hier ansässigen Galerien und das Literaturhaus waren ihm nicht nur fremd, sondern so zuwider, dass er jedem Anarchisten klammheimlich Beifall gespendet hätte, wenn der mit einem Stein oder einem Molotowcocktail in der Hand angetreten wäre, um die bourgeoisen Ausbeuter und all die süßlichen Schöngeister ein wenig zu ärgern. Sofort verbot er sich aber diesen Impuls, denn zum einen war er Beamter des Landes Berlin, und zum anderen waren diese Gedanken wohl auch ein wenig faschistoid.

Aber auch, dass sich ein Stasi-Schwein wie Bernhard Oybin nun in seinem West-Berlin produzieren durfte, ärgerte ihn gewaltig. Wozu hatten die West-Berliner eigentlich heroisch gegen den Kommunismus gekämpft?!

Als er den Vorgarten des Literaturhauses durchquerte, sah er, dass sich mehrere Leute mühten, in Ermangelung einer Rampe einen Mann im Rollstuhl nach oben zu tragen. Schnell lief er hin, um zu helfen. Zu viert schafften sie es letztendlich. Sowohl drinnen wie auch draußen gab es eine Menge Stufen, und Mannhardt geriet nicht nur ins Schwitzen, sondern malträtierte auch seine Bandscheibe in einem Maße, dass es heftig zu schmerzen begann.

Erst als sie oben angekommen waren, bemerkte er, wem er da eigentlich geholfen hatte: keinem Geringeren als Bernhard Oybin.

Der starrte ihn an. «Sie?!»

«Ja.» Mannhardt reckte sich. «Bei uns gelten nicht die Weisungen des Zentralkomitees der SED, bei uns gilt das Lukasevangelium: Liebet eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen …»

Damit ging er zum Kaminsaal, um sich einen Platz ganz hinten in der letzten Reihe zu sichern. Oybin starrte ihm hinterher, das merkte Mannhardt, ohne dass er sich umdrehen musste. Und wenn er wirklich der Mörder war, musste er sich ganz schön verunsichert fühlen.

Langsam füllte sich der Raum, der vielleicht sechzig Gästen Platz bot, wenn man die Stühle eng genug stellte. Mannhardt musterte die Gesichter. Die meisten sahen nach alten Kadern aus. Jetzt hatten sie doch noch den Kudamm erobert. Die Jüngeren und die Journalisten schienen gekommen zu sein, weil sie eine Sensation erwarteten. Würde die Szene zum Tribunal werden und jemand Oybin so in die Enge treiben, dass er ein Geständnis ablegte? Dies war Mannhardts große Hoffnung, aus diesem Grund war er hier.

Wie bei solchen Veranstaltungen üblich, begann man mit einer Verspätung von mehr als zehn Minuten. Man wartete noch auf die Literaturwissenschaftlerin, die man eingeladen hatte, um Biographisches zu Bernhard Oybin zu sagen. Endlich erschien sie und wurde neben ihm platziert, dann trat der Vorsitzende an den Tisch, um die Begrüßungsworte zu sprechen. Er wies darauf hin, dass dies heute eine ganz besondere Veranstaltung sei.

«Normalerweise beginne ich ja immer mit dem Brecht-Wort: Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt, heute aber muss ich anders beginnen, denn der Kollege, der diesmal im Mittelpunkt steht, ist ja, wie wir alle sehen, noch höchst lebendig. Über sein Leben und Schaffen und seine gesellschaftliche Wirkung wird uns Frau Dr. Renate Riebensahm Auskunft geben, die über ihn promoviert hat. Im Westen, so viel sei schon vorweggenommen, ist Bernhard Oybin für das breite Publikum ein Unbekannter, während er in der DDR jedem Schulkind vertraut war. Das kommt in Deutschland öfter vor, auch umgekehrt. Auch um diesem Mangel etwas abzuhelfen, haben wir Bernhard Oybin zu dieser Veranstaltung eingeladen. Obwohl es ihm gesundheitlich nicht gut geht – kein Wunder nach den Aufregungen der letzten Tage –, wird er selber das tun, wozu wir sonst immer einen Schauspieler einladen: nämlich aus den Werken Bernhard Oybins vorlesen. Dazu wünsche ich Ihnen allen ein hohes Maß an intellektuellem Vergnügen.»

Nachdem gebührend geklatscht worden war, begann Renate Riebensahm mit ihren Ausführungen. Mannhardt kannte ja Oybins Lebenslauf und hatte schnell mit Langeweile und Müdigkeit zu kämpfen. Um wach zu bleiben, starrte er auf die Knie der Referentin, die unter dem Tisch hervorschauten, aber libidinöse Gedanken wollten sich partout nicht einstellen. Zu dürr war die Dame, zu sehr Oberlehrerin. Er wendete den Kopf nach links, um jemanden zu entdecken, der so aussah, als wäre er gekommen, um Oybin in die Pfanne zu hauen. Auf den ersten Blick war keiner auszumachen. Er entschloss sich zuzuhören.

«… was Bernhard Oybin war, das hatte er der Partei zu verdanken, und er war jung und idealistisch genug, um zu wissen, dass er ihr dies alles zurückzugeben hatte – mit seiner gesellschaftlichen Tätigkeit, vor allem aber mit seinen Romanen. Wir hören dazu eine Passage aus dem Fährmann von Ketzin, wo Martin, der hochbegabte Textilingenieur, der in den Westen gegangen war, voller Enttäuschung und reumütig in die DDR zurückgekehrt, um im Kreise seiner wahren Freunde am Aufbau eines menschlichen Sozialismus mitzuwirken.»

Mannhardt murmelte, dass er eine Kotztüte brauche, wurde dann aber, als Oybin zu lesen begann, mit jedem Satz es ergriff ihn, weil Martins Träume auch seine Träume gewesen waren, und leise summte er vor sich hin, was Linda Perry von den 4 Non Blondes immer sang: « Twenty-five years and my life is still/Trying to get up that great big hill of hope/For a destination … And I pray, oh my god do I pray/I pray every single day/For a revolution.»

Bernhard Oybins Meisterschaft hatte zweifellos darin bestanden, die Menschen auf diesen wunderbaren großen Berg der Hoffnung mitzunehmen, der Hoffnung auf eine friedliche und glückliche Gesellschaft, in der jeder gebraucht und geschätzt wurde.

Mannhardt, zu Tränen gerührt und in den Tiefen seines Herzens immer irgendwie Sozialist geblieben, verzieh Bernhard Oybin in diesem Augenblick all seine Verfehlungen. Er hasste die DDR und bejubelte ihren Untergang, doch er konnte auch verstehen, warum Menschen sich voll auf sie eingelassen hatten. Wer hätte 1945/46 auch ahnen können, wie alles einmal enden würde? Das Experiment hatte gewagt werden müssen.

Als sowohl die Lesung wie auch die wissenschaftliche Kommentierung zu Ende waren und die Diskussion begann, fürchtete Mannhardt das, was er anfangs so erhofft hatte, dass nämlich jemand vortrat und Oybin des Mordes überführte. Und in der Tat, das Tribunal ließ sich nicht aufhalten.

 

«Werden Sie denn nun auch einen Roman über den Mord am Imkerweg schreiben?», lautete die erste Frage.

Oybin versuchte, gelassen zu bleiben. «Warum sollte ich?»

«Um auch auf dem westlichen Markt Erfolg zu haben. Jetzt, wo Sie unter Mordverdacht stehen, reißt sich doch die Presse um Sie.»

«Ich habe mein Leben gelebt, ich brauche keine Erfolge mehr», erwiderte Oybin. «Man hat mir alles genommen: erst mein Land, dann mein Haus und mein Grundstück und nun auch noch meine Ehre. Ein Mörder soll ich sein?!»

Da sprang Professor Schwellnuss auf, der so saß, dass Mannhardt ihn vorher gar nicht wahrgenommen hatte.

«Sie Lügner!», schrie Schwellnuss. «Das Grundstück am Imkerweg hat, seit Schmöckwitz parzelliert worden ist, meinen Verwandten gehört, und als meine Tante, weil die Stasi hinter ihr her war, nach West-Berlin geflüchtet ist, hat es ihr das DDR-Regime geraubt und Sie, Herr Oybin, damit belohnt. Das war von Anfang an widerrechtlich, und wenn Sie im letzten Jahr gehen mussten, dann allein deswegen, weil das Recht es so wollte.»

«Das Recht der Sieger!», warf Oybins Biographin ein.

«Das Recht eines demokratischen Rechtsstaates!», rief Schwellnuss. «Und wenn Sie, Herr Oybin, noch etwas Ehre im Leib hätten, dann würden Sie jetzt für all die Jahre, die Sie am Imkerweg gesessen haben, die Pacht zahlen. Nicht an mich, sondern an die Opfer des Stalinismus und des DDR-Unrechtregimes. Aber das tun Sie ja nicht. Wie heißt es doch so schön in einem DEFA-Film: Die Mörder sind unter uns!»

In diesem Augenblick fasste sich Bernhard Oybin ans Herz und sackte in sich zusammen.

Kirsten Klinkhammer saß mit ihrem Mann im Restaurant des Fernsehturms und genoss die Aussicht auf ihre Heimatstadt. Da sie sich langsam drehten, bekamen sie nacheinander alles zu sehen – Ost wie West.

Planetarium, da habe ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbracht, in der Stargarder Straße. Die geht von der Prenzlauer Allee ab. In der Nähe war auch ein großer Park. Dann sind meine Eltern in den Westen rüber, zwei Monate vor der Mauer.»

Ihr Mann nahm ihre Hand. «Gut, dass die das getan haben, sonst wären wir uns nie über den Weg gelaufen. Eine Frau aus der DDR hätte ich ja nie heiraten können.» Sie lachte. «Als Amerikaner schon. Gegen einen Haufen Devisen wäre das sicher gegangen.»

«Damals war ich ja noch kein Amerikaner.»

Dr. Matthias Klinkhammer kam aus Karlsruhe, hatte an der TU Berlin Physik studiert und war dann als Forscher in die USA gegangen. Vorher hatte er Kirsten kennengelernt, bei einer Ferienreise mit ARTU nach Griechenland. Ende 1980 war sie mit ihm nach Kalifornien gegangen. «Bloß raus aus Deutschland, bevor es hier zum großen Knall kommt!» Die BRD wie auch die DDR als großes atomares Schlachtfeld.

Jetzt kamen sie alle fünf Jahre nach Deutschland und staunten. Insbesondere über Berlin. Die Stadt war aufregender als alles andere.

«Auch die Zeitungen machen sich langsam», sagte ihr Mann.

«Zu Kaisers Zeiten hatten die Berliner Zeitungen noch eine Liste mit prominenten Gästen. Im Adlon abgestiegen sind … Schade, da würdest du heute auch aufgeführt werden.»

«Du aber auch. Wegen deiner Verdienste um die deutsche Sprache.»

Kirsten Klinkhammer war Deutschlehrerin an einem College in Berkeley und versuchte heroisch, gegen die Übermacht des Spanischen und neuerdings auch gegen die des Chinesischen anzukommen.

Während sie auf ihr Essen warteten, warfen sie einen Blick in den Lokalteil der Zeitung, die sie vorhin auf dem Alex gekauft hatten. Plötzlich schrie Kirsten Klinkhammer auf.

«Was ist denn?», fragte ihr Mann.

«Das darf doch nicht wahr sein!»

«Was?»

«Na, das hier mit Oybin.»

Mannhardt nutzte Schönbiers Abwesenheit und spielte Dart gegen sich selbst. Mannhardt konzentrierte sich und warf. Plobb, plobb, plobb. Als er zur Sisalscheibe ging, um die Pfeile wieder herausziehen, klopfte es an seiner Tür. Auch das noch! Sein «Ja, bitte, herein!» klang nicht besonders freundlich.

Es war ein Ehepaar, das sich mit leicht amerikanischem Akzent als Mr und Mrs Klinkhammer aus Berkeley vorstellte. «Dr. Matthias und Kirsten Klinkhammer.»

«Sehr schön …» Mannhardt konnte sich keinen Reim auf ihren Besuch bei ihm in der Keithstraße machen. «Hier ist die 12. Mordkommission. Wenn Sie nur Opfer eines Diebstahls oder eines Überfalls geworden sind, dann …»

«Nein, nein, wir sind schon wegen eines Mordes hier!», rief Kirsten Klinkhammer.

«Wann, wo, wie?», fragte Mannhardt mit leiser Ironie.

«Wahrscheinlich 1980, in Schmöckwitz draußen.» Mannhardt brauchte einige Sekunden, um das zu fassen. «In Schmöckwitz draußen … Dann nehmen Sie doch bitte Platz.» Er schob den beiden mit einigem Eifer die Besucherstühle hin. «Da bin ich ja mal gespannt, wo da die Zusammenhänge sind.»

«Ganz einfach: Meine Frau hat beim Mittagessen das von diesem Schriftsteller gelesen, diesem …«

«Bernhard Oybin», half sie ihm aus.

«Ja, von der Aufregung im Literaturhaus und seinem Kollaps … Dass er verdächtigt wird, eine Frau mit den Initialen A. K. ermordet zu haben.»

«Und da ist mir sofort eingefallen, dass ich eine Cousine hatte, eine Annett, Annett Krause, die 1980 plötzlich verschwunden ist. Lektorin war sie und mit Bernhard Oybin eng befreundet. Und auch oft bei ihm in Schmöckwitz draußen. Wie gesagt, seit Mitte 1980 hat sie sich nicht mehr bei mir gemeldet, und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Ich war ja zu dieser Zeit schon in West-Berlin und konnte von da aus nichts unternehmen. Und dann sind wir in die USA gegangen.»

Mannhardt schrieb sich alles auf. «Woran können Sie sich denn noch erinnern?»

«Nur daran, dass sie auch mal kurz verlobt war, sich dann aber wieder von diesem Mann getrennt hat. Der hat das nicht hinnehmen wollen, und es gab ein Riesentheater. Einmal hat er sie sogar mit einem Messer bedroht.»

«An den Namen dieses Mannes können Sie sich nicht zufällig erinnern?», fragte Mannhardt.

«Nein, tut mir leid. Nur dass er so einen komischen Vornamen hatte, warten Sie …» Kirsten Klinkhammer zermartete sich das Gehirn.

Mannhardt versuchte, ihr auf die Sprünge zu helfen.

«Komische Vornamen … August, Nepomuk, Balthasar, Hesekiel …»

«Nein, nein … Jetzt hab ich’s: Konradin!»

Drei Tage brauchte die 12. Mordkommission, um die Angaben der Frau Klinkhammer zu verifizieren. Eine Lektorin namens Annett Krause war wirklich im Juli 1980 aktenkundig geworden. Ein Konradin Moschner, Schauspieler und Synchronsprecher, hatte zu Protokoll gegeben, sie habe die Absicht gehabt, Republikflucht zu begehen, wahrscheinlich über Ungarn nach Jugoslawien und von dort in die BRD. Die DDR-Behörden schienen das auch geglaubt zu haben, denn in den Akten war nichts weiter über sie zu finden. Martin Mutsch und Katja Koschlick, von Mannhardt befragt, kannten Annett Krause und wussten von ihrer Beziehung zu Oybin. Beide waren überzeugt davon, dass sie damals beim Fluchtversuch an der ungarischjugoslawischen Grenze erschossen worden war.

Konradin Moschner hatte am 24. Dezember 1980 Selbstmord begangen. In seinem Abschiedsbrief hatte gestanden, dass er mit seiner schweren Schuld nicht mehr leben könne.

Daraufhin bekam Mannhardt die Weisung, die Ermittlungen im Mordfall Schmöckwitz einzustellen. In den Zeitungen war davon die Rede, dass es einen Freispruch erster Klasse für Bernhard Oybin gegeben habe.

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