Mit Feuereifer

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«Und die Deutschen?», wollte Kappe wissen.

«Über 800 Meter haben wir Rudolf Harbig, meiner Ansicht nach unser größtes Talent aller Zeiten, und über 1500 Meter Martin Kammholz. Der könnte es in diesem Jahr schon schaffen.» Ihr Fahrer war neu in Berlin, durch irgendwelche Verbindungen aus dem schwäbischen Dettenhausen in die Reichshauptstadt gekommen. Er hielt nun oben auf der Stößenseebrücke und sah auf die Havelchaussee hinunter, die 25 Meter tiefer lag. «Das ischt ja ’n Ding, da wolle mer hin, aber wie?» Er konnte es nicht fassen. Auf dem Stadtplan hatte das ganz einfach ausgesehen, da kreuzten sich Heerstraße und Havelchaussee scheinbar auf demselben Niveau.

«Wie wir dort hinkommen? Ganz einfach», sagte Deterding, «wir nehmen Tempo auf, durchbrechen das Brückengeländer, segeln auf den Stößensee hinab und fahren als Flugboot ans Ufer.» Kappe war am Abend noch mit seinem alten Freund Theodor Trampe verabredet und wollte das Dienstliche so schnell wie möglich hinter sich bringen. «Sie müssen wenden und noch einmal zum Scholzplatz zurück, dann entweder rechts in die Straße Am Postfenn oder links über die Angerburger Allee runter zur Havelchaussee.»

Der Fahrer bedankte sich, merkte noch an, dass Tote ja mit dem Warten keine Schwierigkeiten hätten, und machte sich auf den Weg.

Deterding hatte im Präsidium eine Skizze mit dem genauen Fundort erhalten. «Havelchaussee, schräg gegenüber von Pichelswerder, da wo am Rupenhorn die Bootsstände beginnen.»

Kollegen von der Schutzpolizei hatten die östliche Fahrbahn der Havelchaussee auf einer Länge von hundert Metern abgesperrt, so dass sie, als sie vom Postfenn kamen, keine Mühe hatten, ans Ziel zu gelangen. Ihre Kriminaltechniker waren schon wesentlich eher eingetroffen als sie, und Dr. Krause vom Erkennungsdienst fasste kurz seine bisherigen Erkenntnisse für Kappe und Deterding zusammen.

«Der Tote ist männlich, um die dreißig Jahre alt und gestorben, weil man ihm den Schädel zertrümmert hat. Der Blutverlust muss erheblich gewesen sein, da sich aber hier im Waldboden - auf den ersten Blick jedenfalls - keine Blut- und Kampfspuren finden, kann darauf geschlossen werden, dass der Mann anderswo umgebracht und erst danach hier abgelegt worden ist. Es spricht alles dafür, dass man ihn in der Nacht mit einem Kraftfahrzeug hierher verfrachtet und ins Gebüsch geworfen hat. Das Gelände steigt hier steil an, und kein Wanderer, der von oben durch den Wald kommt, wird den Abhang runterrutschen. Und dass hier ein Kraftfahrzeug hält, kommt auch sehr selten vor. Der Täter konnte also damit rechnen, dass sein Opfer nicht so schnell gefunden wird. Es war reiner Zufall, dass die Dame da hinten bei einem Spaziergang ausgerechnet an dieser Stelle dringend im Gebüsch verschwinden musste. Sie und ihr Mann sind gleich ins Forstamt gelaufen, um uns zu alarmieren.»

Kappe bedankte sich und hätte am liebsten Deterdings Hände festgehalten, denn der junge Kollege trommelte auf der Kühlerhaube den Radetzkymarsch, was Kappe gehörig auf die Nerven ging. «Mit einem Kraftwagen, sagen Sie … Es gibt nicht viele, die einen besitzen, und die gehören im Allgemeinen den höheren Ständen an. Oder es handelt sich um ein Dienstfahrzeug …»

«Nun halten Sie mal die Luft an!», rief Dr. Krause.

«Ein Dienstfahrzeug der Reichspost, der Reichsbahn, der Bewag oder der Gasag», sagte Deterding. «Oder an was haben Sie gedacht?»

Kappe hatte kein Interesse daran, dieses Thema weiter zu vertiefen, und drückte vorsichtig die Zweige zur Seite, um sich den Toten selber anzusehen. Etwa zehn Meter vom Straßenrand entfernt lag er. Es war klar, dass man ihn hergeschleift hatte, denn im Humus und der Schicht alter Blätter ließ sich eine breite Furche erkennen. Der Mann trug eine dunkelblaue Trainingshose und ein weißes Unterhemd, jegliches Schuhwerk fehlte.

«Ist ja interessant», sagte Deterding, der Kappe in kurzem Abstand gefolgt war.

Kappe blieb stehen und drehte sich um. «So ist es. Daraus können wir schließen, dass es ihn nicht auf offener Straße oder bei einem feierlichen Anlass erwischt hat, sondern bei sich zu Hause, wo er wahrscheinlich Pantoffeln getragen hat. Die sind dann verlorengegangen, als man ihn hierher transportiert hat.»

«Und das bestimmt nicht mit der Straßenbahn», fügte Deterding hinzu. «Womit wir wieder beim Kraftwagen wären …»

Kappe konnte das Gesicht des Ermordeten noch nicht erkennen, weil der auf dem Bauch lag. Trotz seiner vielen Dienstjahre und der vielen Leichen, die er schon berührt hatte, erfüllte ihn immer noch eine Art heiliger Schauer, wenn er einen Toten vor sich hatte. Erstarrt stand er da.

Deterding war es schließlich, der den Mann an der Schulter packte und auf den Rücken drehte.

Da schrie Kappe auf. «Gott, das ist ja der Wanzka!» Deterding war ein Stück zurückgeprallt. «Sie kennen den?»

«Ja, das war eine schillernde Figur. Zuletzt haben wir uns in Schwerin gesehen, beim Seefeldt-Prozess. Karl-Heinz Wanzka war ein kleiner Gauner mit einer ganzen Latte von Vorstrafen als Einbrecher, Hehler, Erpresser und Zuhälter. Überall hatte er seine Finger im Spiel und wusste immer alles. Für uns hat er auch gearbeitet, Liebermann von Sonnenberg hat ihn als Spitzel eingesetzt, um mit unseren Berufsverbrechern fertig zu werden.»

«Das klingt nicht so, als ob er nur Freunde gehabt hat», merkte Deterding an. «Aber vielleicht waren seine Freunde gefährlicher für ihn als seine Feinde …»

«Danke für die Warnung», sagte Kappe.

«Was nun?», fragte Deterding.

Kappe überlegte einen Augenblick. «Wir fahren jetzt zu Wanzkas Wohnung, die Adresse dürfte ja unschwer zu ermitteln sein, und prüfen, ob es irgendwelche Spuren gibt.» Er sprach mit Dr. Krause, und der veranlasste das Notwendige.

Als Kappe und Deterding anderthalb Stunden später vor dem Mietshaus Naunynstraße 6 ankamen, hatten die Kollegen von der Kriminaltechnik schon ganze Arbeit geleistet.

«Der Mann ist nicht in seiner Wohnung erschlagen worden, sondern vor seinem Kellerverschlag. Die Blutspuren sind nicht völlig beseitigt worden», wurde Kappe berichtet.

«Wie sind Sie denn auf den Keller gekommen?», fragte Deterding.

«Weil oben bei ihm am Brett der Kellerschlüssel gefehlt hat.»

«Sehr schön», sagte Kappe, war aber mit seinen Gedanken schon bei seinem Freund Theodor Trampe, mit dem er abends verabredet war. «Morgen ist auch noch ein Tag. Da fangen wir dann an, uns in seinem Umfeld umzuhören.»

So warfen sie nur einen flüchtigen Blick in Keller und Wohnung und machten sich dann wieder davon, um noch etwas von ihrem Sonntag zu haben.

Hermann Kappe sah sich immer wieder um, ob ihm jemand folgte. Es waren herrliche Zeiten, in denen man als Kriminalkommissar auf Nummer sicher gehen musste, wenn man Theodor Trampe treffen wollte, einen alten Freund, der als ehrbarer Mensch durchs Leben gegangen war, nun aber im Verdacht stand, einer Widerstandsgruppe anzugehören. Wurde Kappe in seiner Nähe gesehen, konnte das gegen ihn verwendet werden, aber es war immer noch besser, wenn man sie in aller Öffentlichkeit beobachtete als in irgendeinem konspirativen Winkel. Also hatten sie sich an diesem Sonntagabend zu einem Spaziergang Unter den Linden verabredet.

Kappe war eine Viertelstunde zu früh am Pariser Platz und machte noch einen kleinen Spaziergang um den nördlichen Häuserblock, also um das Karree mit der Französischen Botschaft. An der Wilhelmstraße und auf der anderen Straßenseite vor der Botschaft der UdSSR waren die Bauarbeiten an der neuen Nord-Süd-Verbindung der S-Bahn nahezu abgeschlossen. Am 27. Juli, also vier Tage vor Eröffnung der Olympischen Spiele, sollte der Tunnel zwischen den Stationen Stettiner Bahnhof und Unter den Linden feierlich eingeweiht werden. Kappe wusste nicht so recht, ob er sich darüber freuen sollte. Einerseits war es schön, dass es eine neue S-Bahn-Linie gab, bald sollte es ja auch bis zum Potsdamer Platz und zum Anhalter Bahnhof weitergehen, andererseits aber war es ein Bauwerk der Nationalsozialisten. Er wandte sich ab und bog in die Wilhelmstraße ein.

An der Ecke zur Dorotheenstraße kam ihm eine Gruppe Radler entgegen. Offensichtlich Arbeiter aus Kreuzberg, die mit ihren Frauen zum Baden am Tegeler See gewesen waren und nun nach Hause wollten. Ein Trupp Braunhemden näherte sich vom Reichstag her, einer trug eine Hakenkreuzfahne. Als keiner der Radfahrer mit «Heil Hitler!» grüßte und den Arm zum «Deutschen Gruß» heben wollte, rissen sie den letzten Arbeiter vom Rad und schlugen ihm mit den Worten «Kannst du Hund nicht grüßen!» mehrmals ins Gesicht.

Kappe konnte das alles nur ertragen, wenn er sich einredete, es sei ein Film und er könne das Kino jederzeit verlassen, um ins normale Leben zurückzukehren. Das normale Leben … Das gab es ringsum in Dänemark, Holland, Belgien, Frankreich und der Schweiz, aber nicht mehr in Deutschland. Dann musst du eben auswandern! Er wusste genau, dass er zu einem solchen Schritt nicht fähig war. Es fehlten ihm der Mut und die Kraft dazu, und außerdem wäre Klara niemals mitgekommen, dazu war sie zu sehr ins «völkische Leben» eingebunden. Alles war hoffnungslos. Sein einziger Trost war, dass es vielen Hunderttausenden noch schlechter ging als ihm, wie etwa dem Mann, den er gleich treffen würde.

Trampe, nun auch schon 58 Jahre alt, arbeitete seit ein paar Monaten als Elektroinstallateur in einer kleinen Klitsche in den Höfen an der Hasenheide. Diesen Beruf hatte er erlernt, bevor er sich als Journalist und Funktionär betätigt hatte. Mit dem Verbot der SPD war seine Karriere schlagartig zu Ende gewesen, und er hatte insofern Glück gehabt, als er mit einem zu Brei geschlagenen Gesicht davongekommen war, nachdem ihn die SA im September 1933 abgeholt und in ihren Folterkeller in der Hedemannstraße geschleppt hatte. Dreizehn Stunden hatte er bis zum Hals in einem Wasserbecken gestanden, dann hatten die SA-Schergen eingesehen, dass er wirklich keine Ahnung von den Aktivitäten Carl Severings hatte, des ehemaligen SPD-Politikers und Reichsinnenministers.

 

Pünktlich um 19.30 Uhr stieg Trampe an der Ecke Hermann-Göring-Straße/Hindenburgplatz aus der Straßenbahn. Sie begrüßten sich wie zwei Fremde - sicher war sicher - und vermieden es, allzu dicht nebeneinanderher zu gehen. Es gab einiges zu erzählen.

Mit einem bitteren Lächeln berichtete Trampe vom Schicksal einiger Weggefährten. «Manche kommen schon wieder frei. Rudolf Ziegenhagen, der Buchhändler von der Allgemeinen Arbeiter Union, sitzt seit Januar 1934 im KZ Lichtenberg und soll Anfang Oktober entlassen werden, und Wilhelm Krüger schon in vierzehn Tagen. Der ist vor zwei Jahren wegen ‹Vorbereitung zum Hochverrat› verurteilt worden und sitzt seitdem in Tegel, zusammen mit Franz Klühs, das war ein ehemaliger Kollege von mir, Redakteur beim Vorwärts.»

Kappe wollte es so genau nicht wissen, er vermutete aber, dass der Freund irgendwie mit der sogenannten Gruppe Nordbahn in Verbindung stand. Von deren Existenz wusste er, seit er in der Kantine Gestapo-Leute belauscht hatte. Man vermutete, dass Hermann Schlimme, ein früherer Sekretär des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), und einige Reichsbannerleute aus SO 36 und Baumschulenweg auch nach der Verhaftungswelle von 1933/34 ihre illegale Arbeit fortsetzten und Verbindung zum SPD Vorstand in Prag unterhielten. Man wollte jemanden in diese Gruppe einschleusen, und der sollte die Nordbahner dann ans Messer liefern.

Um sich nicht weiter auf vermintes Gelände zu begeben, erzählte Kappe von seiner Familie. Die beiden großen Kinder hätten keinerlei Schwierigkeiten in der Lehre und der Schule, glaubten aber immer mehr an den Quatsch, den sie in HJ und BDM zu hören bekämen. «Und Klara bestärkt sie noch in allem, während ich es nicht wage, den Mund aufzumachen. Das ist mein ganzer Widerstand, mehr würde uns alle gefährden.» Er kam sich jämmerlich vor.

Trampe versuchte, ihn zu trösten, indem er berichtete, dass bei Ullstein drei Mann fristlos entlassen worden waren, weil sie bei einem Betriebsappell nichts in die Sammelbüchsen getan hatten.

«Am Schwarzen Brett hat dann ein Anschlag gehangen, auf dem die Belegschaft darüber informiert worden ist, dass die drei sich gegen die Betriebs- und die Volksgemeinschaft vergangen hätten und die Kollegen sich deshalb weigerten, noch länger mit ihnen zusammenzuarbeiten.»

«Mir geht leider alles Heldenhafte ab», bekannte Kappe.

«Quatsch!», rief Trampe. «Schon dass du nicht in der NSDAP

bist und deine Fahne nach dem Wind hängst, ist eine Menge.»

«Danke, aber …» Kappe war von einer umfassenden Lethargie erfüllt und fühlte sich auch am helllichten Tage wie ein Schlafwandler.

Als sie an der Ecke Friedrichstraße angekommen waren, erkundigte sich Trampe, was es bei ihm beruflich Neues gebe.

Kappe zögerte mit einer Antwort. «Nicht viel. Leider … oder Gott sei Dank. Heute Nachmittag hatten wir eine Leiche an der Stößenseebrücke. Männlich, 33 Jahre alt, vor dem eigenen Keller erschlagen und in den Grunewald verbracht. Noch keine heiße Spur, nichts.»

«Und wie heißt der Mann, wenn man fragen darf?»

«Dienstgeheimnis», antworte Kappe. «Aber morgen früh steht es ja sowieso in allen Zeitungen: Wanzka, Karl-Heinz Wanzka, Kellner und noch vieles mehr.»

«Wanzka!», rief Trampe. «Der aus der Naunynstraße?»

«Ja. Kennst du den?»

Trampe nickte. «Klar, den kennt doch jeder im Kiez. Für die einen ist er ’ne fiese Ratte, Spitzname die Wanze, für die anderen ein liebenswerter Schlawiner und Frauenheld. Überall schnüffelt er herum und weiß immer alles …», er stockte, «… wusste immer alles … Man muss ja nun in der Vergangenheitsform über ihn reden, und über Tote soll man nichts Schlechtes sagen, aber …»

Kappe war neugierig geworden. «Aber?»

«Für mich war er immer das, was die Braunen so gerne von uns behaupten, für mich war er ein gewissenloser Lump, um den es nicht weiter schade ist.» Trampe wurde lauter. «Ich möchte nicht wissen, wie viele von uns er verpfiffen hat, so dass sie jetzt im Gefängnis oder im KZ sitzen. Ich weiß genau, dass er Zuträger von diesem Zäcklau ist … beziehungsweise war.»

Kappe zuckte zusammen. «Zäcklau?»

«Ja, und ich würde mich nicht wundern, wenn der ihn aus dem Verkehr gezogen hat, weil Wanzka zu viele Interna kannte und für Zäcklau langsam gefährlich wurde.»

SECHS

KONRAD ZÄCKLAU war am 18. März 1898 in Wilhelmshaven als Sohn eines Kammerjägers zur Welt gekommen, hatte die Gemeindeschule absolviert und eine Lehre als Kürschner mit guten Noten abgeschlossen. Kaum hatte man ihm den Gehilfenbrief in die Hand gedrückt, eilte er zur Musterung, rückte in die Kaserne ein und kämpfte nach seiner Ausbildung in den letzten Monaten des Krieges als Infanterist in Frankreich. Anderes Leben konnte er ohne jeden Skrupel töten, das hatte er bei seinem Vater gelernt, und er machte keinen großen Unterschied zwischen Ratten, Mäusen und Wanzen und Franzosen und Engländern. Töten oder getötet werden - das war das Gesetz des Kosmos, und man musste nur dafür Sorge tragen, dass man sich auf Seite der Stärkeren befand. Nur leicht verletzt, aber mit dem Eisernen Kreuz dekoriert, kehrte er im Januar 1919 nach Wilhelmshaven zurück und stieß dort zur Marine-Brigade Ehrhardt. Eingebunden in eine Batterie leichter Feldhaubitzen, war er dabei, als sein Freikorps half, der Revolution in Braunschweig und der Münchener Räterepublik ein schnelles Ende zu bereiten. Danach ging es nach Berlin, wo man im Rahmen des Kapp-Putsches das Berliner Regierungsviertel besetzte. Nach dessen Scheitern wurden Teile der Freikorps in die reguläre Reichswehr eingegliedert, Zäcklau aber hasste das neue System von Anfang an und schloss sich lieber der Organisation Consul an, auf deren Konto die Ermordung des ehemaligen Finanzministers Matthias Erzberger und des Außenministers Walther Rathenau ging. Als Ernst Röhm Männer für seine SA suchte, wandte er sich an Ehrhardt, doch der wollte zunächst nichts mit Hitler zu tun haben und schimpfte nach dessen gescheitertem Putschversuch in München nur auf ihn: «Herrgott, was will der Idiot schon wieder?» Schließlich ließ sich Ehrhardt doch überreden und überstellte mehrere seiner Männer an Hitler, darunter auch Konrad Zäcklau. Über mehrere Stationen war Zäcklau dann zur Gestapo gekommen und gehörte seit kurzem zum «Sonderdezernat II 1 Homosexualität» beim preußischen Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa).

Wer Konrad Zäcklau als Nachbarn oder Sportkameraden erlebte, hätte es für unmöglich gehalten, dass dieser Mensch andere kaltblütig töten konnte und das auch schon gut und gerne zwanzigmal getan hatte, denn Zäcklau war immer sanft und verbindlich und seiner Frau wie seinen fünf Kindern ein vorbildlicher Mann und Vater. Aufgrund seiner Beziehungen hatte er im Neubauviertel westlich des Zentralflughafens eine schöne Viereinhalb-Zimmer-Wohnung bekommen, was bei seinen fünf Kindern auch nötig war. Vom Bayernring waren es nur ein paar Minuten bis zur Berliner Straße und zum U-Bahnhof Flughafen.

Bevor Zäcklau seine Wohnungstür aufschloss, klingelte er. Damit jeder wusste, dass er es war, benutzte er dazu das Morsealphabet: lang - lang - kurz - kurz. Das stand für den Buchstaben Z. Dann zählte er bis dreißig, um Gisela und den Kindern Gelegenheit zu geben, sich auf dem Korridor in Reih und Glied aufzustellen und ihn mit einem fröhlich geschmetterten «Heil Hitler, lieber Vater!» zu begrüßen. Das klappte ausgezeichnet. Er küsste seine Frau und tätschelte dann Siegfried, Freya, Edda, Adolf und Horst nacheinander die Wange.

«Besondere Vorkommnisse?» Seine Frage kam scharf, und die Kinder zuckten zusammen. Am liebsten hörte er von seiner Frau «Keine! Alle fünf sind artig gewesen» - heute vergeblich.

«Adolf hat vor Wut, dass er kein kleines E schreiben konnte, alles Übrige von seiner Schiefertafel gewischt. Freya hat beim Einholen die Milchkanne umhergeschleudert und die Hälfte ausgekippt, und Siegfried hat sich auf dem Schulhof von Günther verprügeln lassen und ist dann weinend nach Hause gekommen.»

«Danke!» Zäcklau hatte nun schnell zu entscheiden, welche Strafe für jedes der drei Vergehen angemessen war. Am meisten ärgerte ihn die Feigheit seines Ältesten. Erst bekam Siegfried links und rechts eine gescheuert, dann versetzte er dem Jungen einen Fausthieb auf die Nase. «So! Das ist dafür, dass du dich nicht gewehrt hast.» Als Siegfried nun losheulte, griff er zum Teppichklopfer und ließ den so lange auf dem Hintern des Jungen tanzen, bis ihm der Arm weh tat. «Und das soll mal ein richtiger deutscher Mann werden! Memme du!» So wie Siegfried sich verhielt, war zu befürchten, dass er mal ein warmer Bruder wurde. «Geh mir aus den Augen! Los, ab in die Besenkammer! Zwei Stunden Arrest und heute nichts mehr zu essen und zu trinken!»

Die Strafen für die beiden anderen Kinder fielen milder aus: Adolf hatte drei Schiefertafeln mit dem Buchstaben E zu füllen, und Freya sollte am Sonntag keinen Milchpudding bekommen.

Zäcklau war zufrieden mit seinen Erziehungsmaßnahmen.

«Dann können wir ja essen. Was gibt es heute, Gisela?»

«Erbseneintopf, Konrad.»

«Gut, das ist ein ehrliches deutsches Essen. Am besten munden mir die Erbsen aus der Gulaschkanone, aber da wir keine solche im Hause haben …»

Zäcklau ließ es sich schmecken. Während der Mahlzeit hatten die Kinder zu schweigen, und auch seine Frau durfte nur etwas sagen, wenn er sie vorher gefragt hatte. Ansonsten hielt er seine Monologe, und alle hatten zuzuhören.

«Reichsjugendführer Baldur von Schirach hat im Rundfunk bekanntgegeben, dass schon neunzig Prozent aller Zehnjährigen in das Deutsche Jungvolk eingetreten sind. Ja, Kinder, noch nie in der deutschen Geschichte war einer jungen Generation ein so schönes Schicksal beschieden wie euch. Ihr lebt in einem jungen Reich, erfüllt mit einem freudigen Leben, mit einer starken Hoffnung, mit einer unzerstörbaren Zuversicht. Edda, was habt ihr zum Geburtstag unseres Führers in der Schule gelernt?»

Die Achtjährige ließ ihre Gabel fallen, schnellte in die Höhe und legte los. «Lieber guter Führer, wie haben wir dich lieb, mit uns’ren kleinen Händen woll’n wir dir Blumen schenken. Hab du uns dann auch lieb. Lieber guter Führer, wie haben wir dich lieb! In unserm kleinen Herzchen hast du das schönste Plätzchen. Wie haben wir dich lieb!»

«Bravo!» Zäcklau klatschte Beifall. «Setzen, eins!»

Nach dem Essen legte sich Zäcklau eine halbe Stunde auf die Couch und hielt ein kleines Schläfchen, dann machte er sich auf zur SA. Mit ihrem Dienst waren SA-Männer wie er den größten Teil ihrer Freizeit beschäftigt. An sich hatte er nur vier Tage im Monat dienstfrei, aber er konnte es sich leisten, nicht zu jedem Termin zu erscheinen. Der Dienstplan seines Sturms hing im Korridor neben dem Spiegel, und beim Überfliegen las er: Sturmabend, Abtreten wegen Hochzeit, Geländeübung für Arbeitslose, großer Übungsmarsch, Sportfest, Singstunde, Inspektionsausmarsch, Inspektionsappell, Geländedienst Sturmlokal, kleiner Übungsmarsch …

Heute war Sport im nahe gelegenen Realgymnasium angesagt, und er machte sich auf den Weg, natürlich in Uniform. Deren wichtigster Bestandteil war das Braunhemd. Dazu kamen das Halstuch, die Mütze, die am linken Oberarm zu tragende Hakenkreuzbinde, die braune Hose und das Koppel. Erst jetzt fühlte er sich wie ein richtiger Mann.

Nachdem sie ein paar Runden gedreht hatten, machten sie Kraftübungen am Reck, trugen einen Wettbewerb im Stangen- und Seilklettern aus und spielten dann Faustball.

Der beste Spieler in seiner Mannschaft war Hans Zantoch, ein alter Kamerad aus der Koppenstraße am Schlesischen Bahnhof, der gern einmal nach Tempelhof kam und in Zäcklaus Sturm mitmachte.

Nach dem Sport saßen sie gerne noch in einer Kneipe an der Katzbachstraße, tranken ein Bier und sprachen über dieses und jenes.

«Du siehst schlecht aus», sagte Zäcklau. «Haste Sorgen?» Zantoch winkte ab. «Nee, ganz im Gegenteil: Meine Schwiegermutter liegt im Sterben.»

«Und nischt zu erben?», fragte Zäcklau.

«Nee, nischt außer Schulden.»

Zäcklau nickte. «Das ist allerdings ’n Grund, so käsig auszusehen wie du.»

Zantoch fühlte sich auf den Schlips getreten. «Wenn ick so grau im Gesicht aussehe, denn liegt dit an dem Zementstaub, mit dem ick jeden Tag zu tun habe. Maura is wat anderet als im Büro hocken. Du wolltest doch mal sehen, ob du wat Bessret für mich findest.»

 

«Wart mal ab.» Zäcklau wusste von den Plänen, eine paramilitärische Bautruppe aufzustellen, die der Führer brauchte, um die großen Pläne umzusetzen, die ihm durch den Kopf gingen. Diese Organisation sollte von Fritz Todt geleitet werden, der sich als Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen beim Bau der Reichsautobahn hervorgetan hatte.

Bis halb elf saßen sie noch beisammen und freuten sich, dass politisch alles so gekommen war, wie sie es sich erträumt hatten, seit sie am 16. November 1928 Hitlers Rede im Berliner Sportpalast gehört hatten.

Als Zäcklau nach Hause kam, lag seine Frau schon im Bett und sagte, dass sie sich nicht wohl fühle. Trotzdem nahm er sie noch einmal kräftig ran, denn das war er sich als Mann schuldig. Danach hieß es, schnell einzuschlafen, denn am nächsten Tag erwartete ihn wieder sein schwerer Dienst.

Die Männer im «Sonderdezernat II 1 Homosexualität», aus dem im Oktober 1936 die «Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung» hervorgehen sollte, litten unter einer irrationalen Angst. Ihrer Ideologie zufolge entzogen sich Homosexuelle der nationalen Pflicht zur Familiengründung, und sie fürchteten, dass die «warmen Brüder» immer mehr Männer zu «widernatürlicher Unzucht» verführten und sich die «Volksseuche» Homosexualität immer weiter ausbreitete, so dass ihnen der Nachwuchs verlorenging, den sie für ihre imperialistischen Pläne dringend benötigten. Die gleichgeschlechtliche Liebe war also kein Privatvergnügen mehr, sondern Volksverrat. Und wovor sie Angst hatten und was aus ihrer Sicht das deutsche Volk in seiner Substanz bedrohte, das wollten sie ausrotten. Davon einmal abgesehen, waren ihnen weibische Männer, auch wenn sie nicht zu den Schwulen zählten und Frau und Familie hatten, zutiefst zuwider. Wie der deutsche Junge und Mann zu sein hatte, war von Adolf Hitler vorgegeben worden: «Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen.» Ein richtiger Mann war nur, wer von jedem rassigen Weib bis aufs Blut gereizt wurde, und alle «Arschficker» wollten sie zumindest kastrieren, damit sie von ihrem Trieb wegkamen, lieber aber noch ins KZ stecken und vernichten.

Gerhard Kanthack kam auf eine Zigarettenlänge herein, und sie erzählten sich die neuesten Schwulenwitze.

Zäcklau fing an. «Eine Blondine geht an einem Taxenstand vorbei. Der Taxifahrer bekommt gleich einen Ständer und ruft ihr was hinterher. Sie kommt zurück, und als sie ihren Kopf durch das offene Fenster steckt, kurbelt er schnell die Scheibe hoch und klemmt ihren Kopf ein. Dann steigt er aus, geht um das Auto herum und nimmt sie von hinten. Als er fertig ist, lässt er die Blondine wieder frei und sagt: ‹Na, was sagste jetzt? Wir Taxifahrer sind doch tolle Hengste!› Nimmt die Blondine die Perücke ab und meint: ›Ja, wir warmen Brüder aber auch.›»

Der Witz, den Kanthack erzählte, war kürzer: «Woran erkennt man einen schwulen Schneemann? - An der Karotte im Arsch.»

Danach machten sie sich an die Arbeit und diskutierten die Frage, wie vor und während der Olympischen Spiele mit Gästen umgegangen werden sollte, die in Berlin homosexuelle Abenteuer suchten.

«Da sind doch von den Schweinen von damals bestimmt noch welche übriggeblieben», sagte Kanthack. «Und die kommen jetzt nach Berlin, um … Ja, manche kriegen den Arsch nicht voll genug.»

«Damals …», wiederholte Zäcklau. «Meinst du Röhm?»

«Nein, noch früher, der Kaiser und sein schwuler Freund, der … der … Hardenberg? Nee …» Kanthack kam nicht auf den Namen und rief bei der Friedrich-Wilhelms-Universität an, um sich die Sache erklären zu lassen. Nach ein paar Minuten hatte man ihn zum richtigen Institut durchgestellt.

«Sie meinen Philipp Fürst zu Eulenburg und Hertefeld auf Schloss Liebenberg, genannt Phili, den besten Freund von Kaiser Wilhelm II., einen Freund der schönen Künste, selbst komponiert hat er auch. 1906 hat der Publizist Maximilian Harden dem Eulenburg vorgeworfen, regelmäßig mit Männern Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, und auch Zeugen beigebracht, die das unter Eid bestätigt haben.»

«Danke, das reicht mir.» Kanthack legte auf. «Da siehst du mal, und ich wette um tausend Reichsmark, dass die höheren Stände bei uns noch immer durchseucht sind, und jetzt kommen ihre schwulen Freunde im Sommer alle nach Berlin, Aktion Offener Arsch.» Er schüttelte sich vor Ekel. «Wenn es nach mir ginge, würde ich im Juli und August alle Deutschen in Schutzhaft nehmen, die irgendwie unter den Paragraphen 175 fallen.»

Zäcklau hatte leichte Bedenken. «Der Führer will vor dem 1. August nichts, was für die ausländische Presse ein gefundenes Fressen ist.»

Kanthack grinste. «Die muss ja nicht alles mitkriegen, bei Wanzka regt sich ja auch keiner auf. Also weitermachen, aber möglichst lautlos. Und versuche endlich einmal herauszukriegen, ob es Homosexuelle unter unsern Sportlern gibt. Das ist ein unerträglicher Gedanke für mich, dass da einer auf dem Siegespodest stehen könnte, der schwul ist!»

Wieder hatte Zäcklau Bedenken. «Aber wenn er nun eine Goldmedaille für Deutschland und den Führer holt?»

Kanthack winkte ab. «Ich hab mit von Tschammer und Osten gesprochen, der rechnet damit, dass wir rund neunzig Medaillen gewinnen, davon dreißig goldene - da kommt es nun auf die eine oder andere auch nicht mehr an, denn wir werden so oder so auf dem ersten Platz landen, vor den Vereinigten Staaten.»

Zäcklau nickte. «Gut, dann weiß ich Bescheid. Noch was?»

«Ja. Da liegt bei mir auf ’m Schreibtisch ein anonymer Brief aus der Uhlandstraße, wo einer angibt, dass das Geschäft unter ihm, Guhrau Herrenbekleidung, ein heimlicher Schwulentreff ist. Guck dir das mal an.»

Zäcklau grinste. «Ich wollte mir schon lange mal einen neuen Anzug kaufen. Und wenn der Verkäufer mir dann in den Schritt fast … Huuuch!» Er sprach mit einer Kastratenstimme weiter.

«Mein Name ist Detlev, und wie geht deine Hose auf?»

Eine Stunde vor Feierabend machte sich Zäcklau auf den Weg in die Uhlandstraße. Die Gegend um den Kurfürstendamm war ihm irgendwie verhasst. Sie stand bei ihm für die «Systemzeit», also die Weimarer Republik, mit ihrer süßlich-schlaffen Dekadenz. Da war man auf den abendlichen Straßen von Händlern mit hochgeschlagenem Kragen angesprochen worden: «Kokain gefällig?» Und der alte Gassenhauer «Mutter, der Mann mit dem Koks ist da - Junge, halt’s Maul, ich weiß es ja» hatte einen ganz anderen Sinn bekommen. Auch der Luxus des KaDeWe war ihm ein Dorn im Auge. Es war pervers, Austern zu essen und sich goldene Klunkern um den Hals zu hängen. Alles verweichlicht, alles entartet, dachte Zäcklau voller Abscheu. Was er sich wünschte, war wieder einmal ein Krieg, der die Leute zwang, einfach und bescheiden zu leben: Männer, die in die Kasernen eingezogen wurden, und Frauen, die in langen Schlangen nach Kartoffeln und Butter anstanden. Immer wieder ging ihm ein Gedicht im Kopf herum, das er in der Schule gelernt hatte:

Der Krieg ist gut! Er weckt die Kraft der Jugend/Und zieht in seinem Schoß/So manchen Sinn für hohe, wahre Tugend/Zu schönen Taten groß./Der Krieg ist gut! Er ruft aus feigem Schlummer/Den trägen Weichling auf … Er lehret uns entbehren und genießen,/Er würzt auch schwarzes Brot … Zur Schlacht, zur Schlacht! Wir alle lernten sterben/Für Vaterland und Pflicht.

Es stammte von einem Feldmarschall namens von dem Knesebeck, und Zäcklau nahm sich wieder einmal vor, die Quelle ausfindig zu machen und sich das ganze Gedicht eingerahmt ins Büro zu hängen. Ja, das waren die Menschen, die er hasste, die ausgerottet werden mussten: die trägen und die feigen Weichlinge, die Schwulen.

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