Mamsellenmord in der Friedrichstadt

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»Sie meinen, dass wir also gar nichts anderes tun können als warten, bis er wieder jemanden tötet?«

Gontard nickte. »So ist es. Besonders schmerzlich für mich ist, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann, obwohl ich ganz in der Nähe war. Aber wir haben oben bei Willibald Alexis wirklich nicht einen einzigen verdächtigen Laut gehört, keinen Schrei, nichts. Auch als ich zwischendurch einmal aus dem Fenster gesehen habe, ist mir nichts Verdächtiges aufgefallen. Die entscheidende Frage ist für mich, ob die Mamsell schon seit längerem von einem Kerl verfolgt worden ist oder ob es ein Zufall war, dass es ausgerechnet sie getroffen hat. Haben Sie sich denn schon im Umkreis der Matschke umgehört?«

»Nein, so weit waren wir noch nicht. Wir gehen aber anschließend zu ihrer Familie.«

Sie fanden Marie Matschke, die Mutter, und Anna, eine jüngere Schwester der Ermordeten, in einer Kellerwohnung in der Commandantenstraße, in der sie für andere Leute Wäsche wuschen und plätteten. Ihre Tränen waren versiegt, sie fügten sich stumm in das, was das Schicksal ihnen angetan hatte.

»Ich hatte zehn Kinder«, sagte Marie Matschke. »Vier sind mir im Wochenbett gestorben, das fünfte ist nun umgebracht worden, bleibt mir immer noch die Hälfte. Na, wenn det nüscht is!«

»Ich kondoliere«, sagte Werpel und wartete, bis Marie Matschke ihr Bügeleisen beiseitegestellt hatte, um ihr die Hand zu drücken. »Wir werden auch alles tun, damit der Mörder gefasst wird. Gab es denn einen Mann, der Ihrer Tochter nachgestellt hat?«

»Die Amalia hatte keinen Bräutigam, leider.«

»Doch, Mutta, da war immer so ein Rumtreiber, der hinter ihr her war.« Ihre Tochter versuchte sich zu erinnern. »Bölzke heißt er.«

»Albert Bölzke!«, rief Werpel. »Ja, den kenne ich, der hat schon einiges auf dem Kerbholz.«

Sie zogen los, Bölzke zu suchen, fanden ihn aber erst am nächsten Morgen in der Stadtvogtei, wo er des Nachts wieder einmal als Schnapsleiche eingeliefert worden war. Mittlerweile war er schon weitgehend ausgenüchtert.

»Kennen Sie eine Amalia Matschke?«, fragte Werpel ihn.

Bölzke gähnte. »Wer soll’n das sein?«

»Na, die Mamsell, die Se uffjeschlitzt ham!«, rief Krause, woraufhin Werpel ihn mit einem Blick strafte, der seinen Ärger über die voreilige Äußerung des Constablers erkennen ließ.

Bölzke war im Nu hellwach. »Und nun wollen Sie mir det anhäng’n?«

Werpel blickte ihn eindringlich an. »Wir wissen, dass Sie der Matschke nachgestellt haben, um mit ihr in Beziehung zu treten.«

Bölzke winkte ab. »Die war mir viel zu dick!«

»Und trotzdem wollten Sie mit ihr anbändeln!« Werpel hatte die Absicht, ihn herauszufordern.

»Jeder leidet mal unter Geschmacksverirrung, Herr Commissarius.«

Werpel versuchte es nun mit dem Erlkönig : »Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.«

Bölzke grinste. »Nee, Sie, an dem Abend, wo sie die Mamsell abgestochen ham, da bin ick bestimmt nich durch Nacht und Wind jeritten.«

Jetzt hatte Werpel etwas entdeckt, das ihm fast einen Jubelschrei entlockt hätte. »Und wie kommt das Blut da auf Ihre Jacke?«

»Det is mein eijenes.«

»Wie kam es denn dazu?« Werpel zweifelte an dieser Aussage.

»Na, als wir am Hamburger Thor ’n bisschen Rabatz jemacht ham, hat mir einer von die Wachleute mit sei’m Säbel eens übern Schädel jezogen. Seh’n Se nich die Narbe hier?«

»Das war doch, nachdem Sie die Matschke abgestochen haben!«, hielt Werpel ihm entgegen.

»Hiermit sind Se festjenommen«, sagte Krause. »Ich wusste doch, det ick nich die janze Zeit über umsonst mit dem Herrn Commissarius mitjelatscht bin.«

Fünf

Gedankenverloren saß Christian Philipp von Gontard in seinem Bureau in der Vereinigten Ingenieur- und Artillerieschule. Ihm war, als würden die höheren Mächte seine Leidenschaft zur Mörderjagd missbilligen und sich über ihn lustig machen: Da hältst du dich für so unendlich klug und weise - und merkst nicht, wie ganz in deiner Nähe jemand abgestochen wird! Minuten, bevor sie ermordet worden war, hatte die Mamsell Amalia Matschke noch ins Zimmer gesehen und gefragt, ob noch Weißwein gewünscht würde, und er war es, der gerufen hatte: »Ja, ich bitte sehr darum!« Hätte er nichts mehr trinken wollen, dann wäre sie nicht in den Keller geeilt - und lebte noch. Natürlich trug er im juristischen und moralischen Sinne keine Schuld an ihrem Tod, dennoch lastete alles schwer auf ihm. Ja sicher, auch Willibald Alexis, Julius Eduard Hitzig und zwei, drei andere der Herren hatten etwas trinken wollen, aber erst, nachdem er sich gemeldet hatte. Vielleicht hätte er weniger gelitten, wenn die Matschke mit einer Pistolenkugel oder einem einzigen gutgezielten Schuss getötet und nicht so grausam zugerichtet worden wäre. Die Gedärme waren ihr aus dem Bauch gequollen! Ihm wurde noch immer übel, wenn er daran dachte. Und wieder und wieder hörte er seine innere Stimme: Du allein bist schuld, dass es so gekommen ist! Er kam von dem Bild nicht los, das sich ihnen im Keller bei Willibald Alexis geboten hatte, als sie nach dem Schrei seiner Frau nach unten gestürzt waren. Er hätte nie gedacht, dass so viel Blut im Körper eines Menschen kreisen würde. Fünf bis sechs Liter waren es, hatte er von Kußmaul erfahren. Und dann dieser massige Körper der Matschke! Der Mörder hatte ihr die Kleidung vom Leib gerissen.

Gontard schüttelte sich. Er regte sich zwar auf, wenn die Berliner in ihrer drastischen Art Vergleiche mit Tillacks Jolanthe zogen, aber auch er hatte im ersten Augenblick die Assoziation gehabt, dass hier ein Tier von einem anderen gerissen worden war. In Wutike waren einige Male Fuchs und Marder in seinen Hühnerstall eingedrungen und hatten, weit über ihren Hunger hinaus, Dutzende von Tieren getötet. Aber auch ein anderer Gedanke ging ihm durch den Kopf: dass jemand womöglich als junger Mensch in den Krieg gegen Napoleon gezogen war und es bis heute nicht verkraftet hatte, wie sein Bajonett damals, mit einer aufschießenden Blutfontäne, in den Leib der feindlichen Soldaten gefahren war. Oder dass alles einen rituellen Hintergrund hatte. Von den Hindus hörte man, dass sie bei bestimmten Festen Tausende von Tieren opferten. Sollte auch hier im nüchtern-rationalen Berlin jemand glauben, die Welt erlösen zu können, indem er ein Tier abschlachtete? Nun gut, das könnte man annehmen, wenn er sich nur Tillacks Schwein ausgesucht hätte … Warum hatte er dann aber auch die Mamsell Matschke getötet? Waren es womöglich zwei Täter? Jedenfalls hatte der Leichen-Commissarius, mit dem er schon gesprochen hatte, die Frage, ob man der Matschke Gewalt angetan hatte, verneint. Gontard überlegte, ob er mit Professor Ideler von der Charité sprechen sollte, aber er glaubte nicht, dass Ideler wirklich etwas von den Tiefen der menschlichen Seele verstand. Wo gab es schon einen Gelehrten, der Einblicke in die Abgründe der Seele hatte? Er musste mit Kußmaul darüber reden und auch überlegen, wie man verhindern konnte, dass es weitere Bluttaten gab. Werpel durfte man in dieser Sache nicht allein lassen.

In diesem Augenblick wurde an seine Bureautür geklopft. Er fuhr zusammen und brauchte Sekunden, um zu begreifen, wo er war. »Ja bitte, herein!«, rief er schließlich.

In der Tür stand Georg von Glombeck und fragte ihn, wo er denn bliebe, sein Unterricht habe schon vor zehn Minuten beginnen sollen.

»Mein Gott!« Gontard fühlte sich wie bei einer sündigen Tat ertappt und suchte, anfangs stammelnd, nach einer Rechtfertigung für seine Nachlässigkeit. »Ich … ich … bin da in eine Angelegenheit involviert … Sie kennen doch meine Leidenschaft dafür, Verbrechen aufzuklären, und da gibt es momentan diese grausamen Morde, erst das Schwein bei Tillack und dann …« Er wusste, dass er diesen Satz so nicht zu Ende bringen konnte. »Ja, es steht auch in der Vossischen, dass ich bei Willibald Alexis zu Gast war, als es geschah. Wie dem auch sei, ich komme schon! Worüber wollten wir heute sprechen?«

»Über Raketen bei der Artillerie«, antwortete von Glombeck.

»Aha, danke …« Gontard raffte seine Unterlagen zusammen und lief in Richtung Hörsaal. Zum Glück hatte er sich gut vorbereitet und konnte seinen Offizieren einiges Interessante berichten.

»Der erste überlieferte Raketenstart fand, wie sollte es anders sein, im Kaiserreich China statt, und zwar 1232, noch bevor hier in der Mark Brandenburg die Bayern herrschten und der Falsche Waldemar in Erscheinung trat. Aber zurück zu den Chinesen! Im Krieg gegen die Mongolen setzten sie bei der Schlacht von Kaifeng eine Art Rakete ein, das heißt, sie schossen eine Vielzahl simpler, von Schwarzpulver angetriebener Geschosse auf die Angreifer ab. Die Raketen sollten weniger den Gegner verletzen, als die feindlichen Pferde erschrecken. Rund drei Jahrhunderte vergingen, bis auch wir Europäer so weit waren. Hier gab es den ersten dokumentierten Start einer Rakete 1555 im siebenbürgischen Hermannstadt. Der Flugkörper verfügte über ein Drei-Stufen-Antriebssystem. Wieder sollte viel Zeit vergehen. 1804 dann stellte der Engländer William Congreve mit der von ihm entwickelten und später nach ihm benannten Raketenwaffe, einer Art Brandrakete, erste größere Versuche an. Sie wurde 1806 bei Boulogne, 1807 beim Bombardement von Kopenhagen, 1809 beim Angriff auf die französische Flotte bei Île d’Aix und bei der Beschießung von Vlissingen sowie 1813/14 vor Glückstadt eingesetzt. Während der Befreiungskriege schickten die Engländer ihren Verbündeten Raketenbatterien, die 1813 bei den Belagerungen von Wittenberg und Danzig sowie in der Völkerschlacht bei Leipzig zum Einsatz kamen. Congreves Raketen wurden ferner im Krieg von 1812 gegen die Amerikaner eingesetzt.«

Es wurde nun über die Raketenwaffe diskutiert, und die Mehrheit der Anwesenden war dafür, sie in Preußen nicht einzuführen, weil sie gegenüber den üblichen Artilleriegeschossen keine Vorteile zu bieten schien. Erst wenn es die Technik möglich machen würde, sie vom Abschusspunkt aus präzise ins Ziel zu lenken, wäre die Raketenwaffe vorzuziehen. Die meisten im Raum hielten das allerdings für völlig unmöglich. »Sie kann doch keinen kilometerlangen elektrischen Draht hinter sich herziehen!«, rief einer.

 

Nach seiner Unterrichtsstunde machte sich Gontard, ohne es besonders eilig zu haben, auf den Weg zum Berliner Schloß, wo er im Geheimen Kabinett für Militärangelegenheiten einen Vortrag über den Ausbildungsstand der preußischen Artillerie-Offiziere zu halten hatte. Mit einer Aktenmappe unter dem Arm schlenderte er die Linden hinunter, bis er auf der Schloßbrücke den Criminal-Commissarius Waldemar Werpel entdeckte, wie dieser, weit über das Geländer gebeugt, in die trüben Wasser der Spree hinunterstarrte.

»Na, lauern Sie auf ein Leichenteil, das in Richtung Spandau treibt?«

»Mir war übel«, erklärte ihm knapp Werpel, dessen leicht gelblich grüne Gesichtsfarbe eigentlich schon alles erklärte.

Gontard grinste. »Ihnen ist wohl der Fall der Mamsell Matschke auf den Magen geschlagen, wie?«

»Ich muss irgendetwas gegessen haben, das schon verdorben war.«

Gontard nickte und kommentierte diese Aussage mit einem leicht variierten Hamlet-Zitat. »Ja, ja, something is rotten in the state of Prussia

»Wer hat sich zusammengerottet?«, fragte Werpel, der, zum Glück für Gontard, kein Englisch verstand.

»Ich denke, die Arbeitsmänner am Hamburger Thor haben sich zusammengetan.«

»Genau!« Werpel kämpfte gegen einen neuen Brechreiz, konnte aber diesmal standhalten. »Dort wurde auch der Bölzke mit dem Säbel am Kopf getroffen.«

»Wer ist Bölzke?«, fragte Gontard.

Werpel erklärte es ihm. »Verdächtig ist er, weil sie mir bei den Matschkes zu Hause erzählt haben, dass er hinter der Amalia her war, und sein Hemd voller Blutspritzer war. Aber er behauptet, dass es sein eigenes Blut sei, weil ihn der Wachtmann am Hamburger Thor mit dem Säbel getroffen hat.«

»Hatte er denn eine Wunde am Kopf?«

Werpel verneinte das. »Es soll von seiner blutenden Nase gekommen sein, die er dadurch bekam, dass er zu Boden gestürzt ist.«

Gontard nickte. »Daraufhin haben Sie ihn wieder laufenlassen?«

»Ja, aber nur …«, Werpel senkte seine Stimme, »… damit er seine nächste Tat begehen kann.«

»Wie meinen Sie das?« Gontard war verwundert über Werpels Vorgehen.

»Bisher kann ich nicht beweisen, dass Bölzke der Mamsellenmörder ist. Aber wenn es dunkel wird, dann folge ich ihm unauffällig, um ihn auf frischer Tat zu ertappen.«

»Sehr gut«, lobte Gontard ihn für diese Strategie. Auch er fand, dass man etwas anderes kaum tun konnte. »Ich an Ihrer Stelle würde meine Constabler auch nach blutigen Kleidungsstücken suchen lassen. Der Täter muss sich ziemlich beschmutzt haben, und irgendwie muss er seine Kleider auch beiseiteschaffen. Dass er sie verbrennt, denke ich nicht, denn das wäre im Frühjahr zu auffällig.«

»Apropos Kleidung, der Tillack meint, dass der Mörder

’ne Rotkappe sein kann.«

Gontard lachte. »Ein Soldat mit einer roten Mütze, ein Franzose also?«

»Nein, eine Rotkappe ist ein Kobold mit Krallen und rotglühenden Augen. Der tötet Menschen, um mit deren Blut die Farbe seiner Kappe immer wieder aufzufrischen.« Gontard war nachdenklich geworden. »Dann wäre der Mörder womöglich einer aus dem Irrenhaus.«

»Ich habe schon mit Herrn Professor Ideler gesprochen«, sagte Werpel. »Aus seiner Abteilung ist aber niemand entwichen.«

Gontard zog seine goldene Uhr aus der Westentasche.

»Oh, ich glaube, ich muss mich beeilen, man erwartet mich im Schloss.«

Die Führer durch die preußische Residenz schwärmten vom Berliner Schloss, an dem seit vier Jahrhunderten gebaut wurde:

Es imponiert durch erhabene Großartigkeit und einfache Pracht. Die schöne Façade an der Wasserseite mit Erkern und Thürmen, der ältere Theil des Schlosses, erinnert an die romantische Ritter zeit. Eine andere Erinnerung, die sich an das Schloß knüpft, ist die weiße Frau, die zu Zeiten durch die Gemächer des Schlosses wandeln und den Tod eines Gliedes der königlichen Familie ver künden soll. Für den Berliner ist das Schloß der Mittelpunkt der wichtigsten historischen und politischen Erinnerungen. Hier wurden Feste und Turniere, Vermählungen, Taufen und Besuche gefeiert; hier feierte man Friedrichs des Großen Siege; hier wohn te Napoleon; hier ruhte die Leiche der Königin Luise; hier wurde dem König Friedrich Wilhelm IV. die Krone auf das edle Haupt gesetzt.

Gontard stand dem Bau eher ablehnend gegenüber, obwohl auch Verwandte von ihm an seiner Vollendung mitgewirkt hatten. Auf irgendeine Art fühlte er sich dem Berliner Unwillen von 1447/48 verbunden, dem Widerstandskampf der Berliner und Cöllner Stadtbürger gegen den Bau einer Burg auf der Spreeinsel - an jener Stelle, an der später das Schloss erbaut wurde. Für die Bürger hatte sie eine Zwingburg der Hohenzollern dargestellt, die ihre städtische Autonomie gefährdete.

Aber das Ganze hatte sich nicht aufhalten lassen, und heute freute sich das biedermeierliche Berlin darüber, dass unter der Regie von Friedrich August Stüler und Albert Dietrich Schadow eifrig am neuen Kuppelbau gewerkelt wurde. Der Entwurf stammte vom König, und Karl Friedrich Schinkel hatte ihn bearbeitet.

Das Militärkabinett war ein unmittelbares Organ der Kommandogewalt des preußischen Königs zur Bearbeitung von Personalsachen des Offizierkorps und zugleich Vermittlungsstelle für die Militärbehörden. Sein Leiter war August Wilhelm von Neumann-Cosel, ein Generallieutenant der Infanterie aus dem oberschlesischen Neiße, der sich in den Feldzügen gegen Napoleon hervorgetan hatte.

Gontard betrat den Innenhof des Schlosses und sah ein wenig hilflos zu den vielen Fenstern hinauf, als würde dort derjenige stehen, der ihn erwartete, und ihm den Weg weisen. Da dies nicht geschah, fragte er einen der vorübereilenden Lakaien. Sechshundert Zimmer hatte das Schloss, und in diesem Labyrinth konnte man sich leicht verirren.

»Entschuldigen Sie, wissen Sie, wie ich zum Militärkabinett komme?«

»Dorthin kommen Sie gar nicht. Da hätten Sie schon gegen Napoleon dabei sein müssen, aber zu der Zeit waren Sie wohl noch zu klein.« Schon war er verschwunden.

Gontard kannte seine Berliner und musste zugeben, dass der Mann so unrecht nicht hatte. Er machte sich auf den Weg zum Kastellan, um den um Auskunft zu bitten. Doch er hatte nur ein paar Schritte getan, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.

»Darf ich Ihnen helfen, Herr von Gontard?«

Gontard erschrak und brauchte einen Augenblick, um den Mann einzuordnen. »Oh, wir kennen uns von Willibald Alexis her.« Natürlich, es war Konrad von Sandkirchen, der Obergewandkämmerer des Königshauses. »Sie wohnen und arbeiten ja hier - bestimmt können Sie mir weiterhelfen.«

»Ich vermute, Sie wollen zur Sitzung des Militärkabinetts.«

»Gut geraten!«, sagte Gontard. »Ich soll Auskunft darüber geben, welche meiner Artillerie-Zöglinge das Zeug zur Karriere haben.«

»Dann folgen Sie mir bitte, denn ich glaube, Neumann-Cosel sitzt heute mit seinem Stab im Grünen Hut, im Runden Zimmer.«

Der »Grüne Hut«, nach seinem hutförmigen Kupferdach so benannt, war ein runder, in neuerem Mauerwerk größtenteils versteckter Turm der alten befestigten Burg des Markgrafen Friedrich II. Bis zur Zeit des Großen Kurfürsten hatte er als Gefängnis gedient, und es hieß, hier habe auch die Eiserne Jungfrau, ein Folterwerkzeug, gestanden.

Sie hatten ein Stückchen zu gehen, und unweigerlich kam die Rede auf die ermordete Mamsell. Auch Konrad von Sandkirchen zeigte sich erschüttert.

»Da bringt die Mamsell eben noch den Wein - und wenig später ist sie tot und grausam zugerichtet.«

Gontard stieß einen tiefen Seufzer aus und übte sich in Selbstironie. »Ich aber habe keine Idee, wie ich ihren Mörder finden könnte - und dies, obwohl ich doch seit Jahren davon ausgehe, unübertrefflich zu sein, was das Detegere betrifft.«

»Detegere?«, fragte Konrad von Sandkirchen.

»Das ist das lateinische Verb für entdecken, aufdecken.« Der Obergewandkämmerer war erstaunt. »Ich wusste gar nicht, welchen Leidenschaften unsere Offiziere nachgehen.«

Gontard lachte. »Es ist nun einmal so, dass der Hof nicht alles weiß, was im Volke geschieht.«

Konrad von Sandkirchen nickte. »Der Hofstaat ist eben ein Staat im Staate, wie das Wort schon sagt. Das mag strittig sein, aber mit Leibniz neige ich dazu, unsere Welt als die beste aller möglichen anzusehen.«

»Da kann ich Ihnen nur zustimmen«, sagte Gontard.

»Mit der Einschränkung allerdings, dass die beste aller möglichen Welten dynamisch zu denken ist: Nicht der derzeitige Zustand der Welt ist der bestmögliche, sondern die Welt mit ihrem Entwicklungspotential ist die beste aller möglichen Welten.«

Konrad von Sandkirchen ging nicht auf den Zündstoff ein, der in dieser Bemerkung enthalten war, sondern kommentierte diese leichthin mit Heraklit: »Ich weiß, man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen

»Was die Spree betrifft, ganz sicher nicht, denn man verschluckt sich schon beim ersten Mal an einem Stück Kot.«

»Ich bitte Sie, mein lieber Herr von Gontard - ich bin ein sehr empfindsamer Mensch.«

Sie plauderten noch ein wenig über Philosophisches wie etwa die unzureichende Entsorgung der Fäkalien in Preußens Residenz, dann waren sie am Grünen Hut angekommen. Gontard bedankte sich bei Konrad von Sandkirchen für seine Dienste als Cicerone, dann trat er ins Runde Zimmer, um von Neumann-Cosel und seine Offiziere zu begrüßen. Schnell war die heutige Sitzung eröffnet.

»Ich danke Ihnen im Namen des Königs für Ihr Kommen, meine Herren. Es geht heute um die Frage, welche unserer jungen Offiziere das Zeug zum schnellen Avancement haben. Ich habe vor mir eine Aufstellung der verschiedenen Waffengattungen liegen und werde jetzt die Namen einzeln aufrufen und um Ihre Stellungnahme bitten.«

Erst war die Infanterie an der Reihe, und Gontard hatte Zeit und Muße, das Ambiente des Runden Zimmers auf sich wirken zu lassen. Vor allem drei Gemälde weckten Gontards Interesse, und er versuchte, die Bildinschriften zu entschlüsseln. Nach gut zwanzig Minuten hatte er sie entziffert: Pesne, Bildnis der Königin von Schweden - La Fosse, Der verlorene Sohn - Wouwerman, Pferdemarkt. Am besten von den dreien kannte er Antoine Pesne, den preußischen Hofmaler, dessen hundertster Todestag in elf Jahren zu feiern war. Auch Charles La Fosse, Großonkel Pesnes und Hofmaler Ludwigs IV., war ihm einigermaßen vertraut. Nur über Philips Wouwerman, einen niederländischen Barockmaler, wusste er wenig - allenfalls, dass er noch einmal an die 150 Jahre älter sein mochte als die beiden Erstgenannten und sich offenbar auf Pferde spezialisiert hatte. Gontard sah sich durch den Grunewald reiten - und fuhr zusammen, als plötzlich sein Name fiel.

»Was können Sie uns über ihn berichten?«, fragte ihn von Neumann-Cosel.

Gontard sah den Generallieutenant mit großen Augen an. »Über Philips Wouwerman?«

»Nein, über Georg von Glombeck.«

»Georg von Glombeck«, wiederholte Gontard, um Zeit zu gewinnen. »Er ist zweifellos ein sehr alerter, einfallsreicher junger Mann - einer, der sich von den anderen abheben und nicht nur im Strom mitschwimmen will.«

Ein hoher Offizier vom 3. Preußischen Artillerieregiment in Magdeburg meldete erhebliche Bedenken gegen von Glombeck an. »Ja, klug und keck mag er sein, weit über dem Niveau seiner Kameraden, aber ich erinnere mich noch gut daran, dass ein Bombardier Klage gegen ihn eingereicht hat. Seine Frau habe ihn bekocht, und Glombeck habe sie Mal für Mal bedrängt, sich mit ihm einzulassen.«

Gontard horchte auf. Sollte Glombeck schon früh einen Hang dazu gehabt haben, füllige Mamsellen verführen zu wollen? Das war eine Spur, der nachgegangen werden sollte.

Nach drei Stunden entließ Neumann-Cosel die eingeladenen Offiziere, und Gontard machte sich auf den Heimweg. Unterwegs fiel ihm ein, dass er Henriette versprochen hatte, ihr ein Mittel gegen ihre Magenschmerzen mitzubringen. So trat er in die Polnische Apotheke in der Friedrichstraße ein, wo ihn aber nicht Dr. Julius Schacht bediente, sondern Theodor Fontane, den er kannte, seit der 1839 seine erste Novelle Geschwisterliebe veröffentlicht hatte und 1843 von Bernhard von Lepel in den literarischen Verein »Tunnel über der Spree« eingeführt worden war.

 

»Sie sind wieder hier?« Gontard gab seinem Erstaunen Ausdruck.

»Ja, ich war doch nur vierzehn Tage in England.«

Gontard wurde präziser. »Ich meine, Sie sind wieder hier in der Apotheke und nicht mehr in der Kaserne?« Das bezog sich darauf, dass Fontane seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger beim Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiment No. 2 abgeleistet hatte.

»Nein, meinen Dienst habe ich hinter mich gebracht. Er hat mir sehr viel Freude bereitet. Es ist ja bekannt, dass ich das Militärische mag.« Fontane nahm den Zettel entgegen, den Gontard ihm reichte. »Nach der Zeit in der Kaserne war ich dann eine Weile in der väterlichen Apotheke in Letschin.«

»Das Dorfleben an der Oder muss Ihnen gutgetan haben, Sie machen einen sehr zufriedenen Eindruck.«

»Ach, wissen Sie, wer immer unzufrieden ist, der taugt nichts und ist meist dünkelhaft und boshaft dazu. Während man sich über andere lustig macht, lässt man selber viel zu wünschen übrig.« Fontane reichte Gontard ein Tütchen mit Kräutertee über den Ladentisch. »Dies hier ist für Ihre Frau, der ich gute Besserung wünsche.«

Gontard bedankte sich, trat wieder auf die Straße hinaus und lief in Richtung Dorotheenstraße. Nach wenigen Schritten kam ihm sein Freund Friedrich Kußmaul entgegen und überredete ihn, noch für ein halbes Stündchen mit ins Lesecafé Stehely zu kommen. Dort trafen sie auf den Zeitungsschreiber Grahsen, den Gontard bei Willibald Alexis kennengelernt hatte, und den Schriftsteller, Dramatiker und Journalisten Karl Ferdinand Gutzkow. Sein 1835 erschienener Roman Wally die Zweiflerin war in Preußen verboten worden, wie bald alle seine Schriften, und 1836 war er wegen Verächtlichmachung der Religion zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden. 1843 aber durften seine Werke wieder erscheinen.

»Dafür sind meine Schriften jetzt in Österreich verboten«, sagte Gutzkow. Man hatte sich über seine 1845 erschienenen Wiener Eindrücke an der Donau zu sehr erregt. »Und dennoch, seit ich eine Weile in Wien gelebt habe, möchte ich auf den Wiener Kaffee und auf seine vielen phantastischen Zubereitungsarten nicht mehr verzichten.« Um dies zu unterstreichen, rief er der Bedienung zu: »Bitte, einen Umgestürzten Neumann!«

»Pst!«, machte Gontard. »Wenn hier das Wort Umsturz fällt, laufen die Schnüffler sofort zu Doktor Wiesenburg, und man bringt uns in die Stadtvogtei.«

Sie kamen zu einem Thema, das weniger gefährlich war: die Ermordung der Mamsell Matschke im Hause des Willibald Alexis.

Gontard sah Friedrich Kußmaul an. »Du hast doch ein wenig Kenntnis von dem, was man neuerdings als Psychiatrie bezeichnet.«

Kußmaul gab sich bescheiden. »Darüber weiß ich kaum etwas, eigentlich nur, dass der Begriff von Johann Christian Reil aus Halle geprägt worden ist. Etymologisch ist er aus griechisch psyche, das heißt Seele, und iatrós, Arzt, zusammengesetzt und bedeutet wörtlich übersetzt etwa Seelenheilkunde, aber wir wissen über die menschliche Seele ebenso wenig wie über das Leben auf Mars und Venus, und dieser Ideler in der Charité weiß noch viel weniger.«

»Ich wüsste gern, was den Mörder der Matschke an- und umtreibt. Wer könnte mir denn dabei weiterhelfen?« Kußmaul überlegte. »Karl Georg Neumann ist ein fähiger Mann, aber der hat seinen Wirkungskreis nach Trier verlegt, und Wilhelm Griesinger, dessen Buch Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten wirklich ein Meilenstein ist, sitzt in Tübingen. Aber dass einer der beiden in der Lage ist, anhand der Tatmerkmale Rückschlüsse auf den Täter zu ziehen, halte ich für ausgeschlossen. Wäre der Mann vorher auffällig geworden, dann wäre er schon im Irrenhaus. Also vermute ich, dass er ein nach außen hin ganz unauffälliger Zeitgenosse ist. Aber wie soll man einem solchen ansehen, zu welchen Taten er fähig ist?«

Das alles machte Gontard wenig Mut. Auf dem Nachhauseweg aber hatte er eine Idee. Er sah auf einem Hinterhof an einer Wäscheleine eine Reihe von Hosen flattern und fragte sich, was wohl der Täter mit seiner Kleidung gemacht hatte. Nach dem Blutbad in Tillacks Stall wie in Willibald Alexis’ Keller hatten doch Rock und Hose voller Spritzer und Flecke sein müssen. Irgendwie musste er sich seiner verräterischen Kleidungsstücke danach entledigt haben. Hatte er sie verbrannt, hatte er sie in die Spree geworfen, hatte er sie irgendwo vergraben, lagen sie bei ihm zu Hause in einer Abstellkammer, hatte er versucht, sie zu waschen? Die Mamsell Matschke war ermordet worden, als sie über Die Hosen des Herrn von Bredow geredet hatten, und vielleicht war das ein Wink des Schicksals: Vielleicht sollte er nach blutbefleckten Hosen suchen, den Hosen des Mörders. Gontard überlegte, was er mit seinen Hosen gemacht hätte, wäre er der Täter gewesen. Er hätte sie, nachdem das Blut getrocknet war, heimlich zu den Lumpen gegeben.

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