Kempinski erobert Berlin

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»Nein.«

Schlüsselfeld wollte vermitteln. »Dann schick ihn in die Lehre, Raphael, ich habe da einen Vetter in Kreuzburg, bei dem kann er den Beruf des Kaufmanns erlernen, und dann erst tritt er bei Moritz ins Geschäft ein.«

Leopold Leichholz ließ es sich nicht nehmen, Berthold Kempinski sein Breslau zu zeigen, und er wurde richtig poetisch dabei. »Breslau ist die größte und kostbarste Perle am schimmernden Bande der Oder«, rief er aus, als sie über die Universitätsbrücke schritten, die Insel Bürgerwerder, die geformt war wie ein menschlicher Magen, mit ihren Kasernen zur Linken und der Vorderbleiche zur Rechten. »Wie eine Geliebte umschlingt sie der Strom. Breslau, alte Patrizierstadt und Zentrum von Wissenschaft und humanistischer Bildung. Ich sage nur Joseph von Eichendorff und Gustav Freytag und allein die Philosophen: Christian von Wolff, ein Vorläufer Kants, Christian Garve, ein Kämpfer gegen den Kant’schen Kritizismus, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher … Darum blieb mir nichts anderes übrig, als Philosophie zu studieren.«

Berthold Kempinski schaute ihn an. »Die Wahrheit findest du allerdings nicht im Hörsaal, sondern nur bei uns.«

»Wie das?«

»Nun: Im Wein liegt Wahrheit, und der Wein ist ein Spiegel der Menschen.«

Leichholz lachte. »Ja, die schläs’sche G’mittlichkeit. Mein Vater hat jeden Sonntag im Dorfkretscham gesessen und seinen Grünberger getrunken, so sauer der auch gewesen sein mag. Und wie hat unser großer schlesischer Dichter gereimt …«

»Der Angelus Silesius?«

»Nein, der August Kopisch.« Er musste einen Augenblick nachdenken, bis er darauf kam. »Auf Schlesiens Bergen, da wächst ein Wein,/der braucht nicht Hitze, nicht Sonnenschein./Ob’s Jahr schlecht, ob’s Jahr gut,/da trinkt man fröhlich der Trauben Blut.«

Berthold Kempinski erinnerte sich wieder. »Der Dichter trifft nun den Teufel und wettet mit ihm, dass er ihn unter den Tisch trinken kann.«

»Ja, und schließlich lallt der Teufel: Hör’, Kamerad,/beim Fegefeuer! Jetzt hab ich’s satt/Ich trank wohl vor hundert Jahren in Prag/mit den Studenten Nacht und Tag,/doch mehr zu trinken solch sauern Wein,/müsst’ ich ein geborener Schlesier sein!«

»Was wir nicht sind«, sagte Berthold Kempinski, »sondern geborene Posener, und darum hat M. Kempinski auch das Recht, seine Weine aus Ungarn zu beziehen.«

Leopold Leichholz schlug ihm auf die Schulter. »Es sei euch gedankt!«

Sie durchschritten die engen Straßen der Oder- und der Sandvorstadt und kamen über den Gneisenauplatz zur Kreuzkirche, deren spitzer Turm Leichholz spotten ließ, hier habe sich der Baumeister in der Religion geirrt und aus Versehen ein Minarett errichtet. Nicht weit entfernt lag der Dom mit seinen beiden Renaissance-Türmen und der dreischiffigen Basilika, an die mehrere Kapellen angebaut waren.

»Willst du in den Chor rein?«, fragte Leichholz.

»Nein, dazu singe ich zu schlecht.«

»Mensch, ins Kirchenschiff, den Hohen Chor zu St. Johannes.«

Berthold zeigte sich vom Breslauer Dom durchaus beeindruckt, obwohl er nicht so recht verstand, was der Freund damit meinte, wenn er sagte, der Fürstbischof Friedrich von Hessen habe im 17. Jahrhundert die gotische Ausstattung systematisch barockisieren lassen. Ein Gedanke ließ ihn nicht mehr los, seit er neulich geträumt hatte, Habel in Berlin hätte ihn adoptiert. »Was könnte man hier für ein herrliches Restaurant eröffnen!«, rief er.

Leichholz lachte. »Keine schlechte Idee. Der Wein ist ja schon hier – der Messwein fürs Abendmahl. Aber ob sie ihn dir als Juden so ohne weiteres überlassen würden?«

Berthold Kempinski winkte ab. »Du weißt, ich hab mich nie so recht als Jude gefühlt.«

»Dessen ungeachtet bist du einer. Und wenn es mal Ausschreitungen gegen Juden gibt …«

»In Preußen gibt es keine«, beschied ihn Berthold Kempinski. »Und wenn ich einmal ein Restaurant aufmache, dann nenne ich es bestimmt nicht Beth ha-Mikdasch

»Immerhin kennst du den Tempel in Jerusalem.«

»Manchmal kann es ja auch ganz nützlich sein, einen Glauben zu haben«, sagte Berthold Kempinski und dachte an seinen Freund Witold, der nun schon die ersten Gefechte hinter sich hatte. »An irgendetwas muss sich der Mensch schließlich festhalten. Und man lernt am Schabbat Leute kennen, die einem später etwas abkaufen.«

»Sehr gläubig bist du wirklich nicht.«

»Wenn alle Völker auf der Welt einen Gott hätten und anbeten würden, wäre ich ja noch zu überzeugen, dass es ihn wirklich gibt, aber so … Alle haben einen anderen und behaupten, er wäre der einzig wahre. Da kann doch etwas nicht stimmen!«

»Das erinnert mich an mein zweites Semester.« Leopold Leichholz kratzte sich den Hinterkopf. »Da gibt es einen Philosophen aus Landshut, den Ludwig Feuerbach, der behauptet, dass nicht Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen habe, sondern vielmehr umgekehrt der Mensch die Götter nach seinem eigenen Ebenbilde schaffe.«

Berthold Kempinski schloss ihren Dialog mit dem Satz, dass er nur an eines hundertprozentig glaube. »Dass nämlich ein Kilo Rindfleisch eine wunderschöne Brühe ergibt.«

Dennoch ging er mit Leichholz am Freitagabend in die Storch-Synagoge in der Wallstraße 7/9, die von keinem Geringerem als Carl Ferdinand Langhans erbaut worden war. Hier trafen sich die liberalen Breslauer Juden. Es wurde aber darüber geredet, eine neue und viel größere Synagoge zu bauen und diese hier den Orthodoxen zu überlassen.

»Mir ist das alles egal«, sagte Berthold Kempinski.

Leichholz sah ihn prüfend an. »Sag bloß, du willst konvertieren?«

»Paris ist eine Messe wert, heißt es ja, aber ich bin zu bequem dazu. Außerdem scheinen mir die Grabreden bei den Juden besser zu sein als bei den Christen.«

»Daran zu denken ist doch ein bisschen früh, oder?«

Berthold Kempinski lachte. »Recht hast du. Und vielleicht werde ich einmal unsterblich, dann ist das Ganze sowie kein Problem mehr.«

Krojanke hatte zu Hause in Obersitzko eine Liste mit über zwanzig potentiellen Opfern versteckt, darunter auch Berthold Kempinski. Die wollte er sich noch holen, bevor er zu alt dafür war, mit Pferd und Wagen durch die Lande zu ziehen und im Zelt zu schlafen. Da er alles tat, um als gutmütiger und hilfsbereiter Mensch zu erscheinen, und zusätzlich das hatte, was seine Mitmenschen als »ein liebes Gesicht« bezeichneten, war er noch immer unentdeckt geblieben. Dass er keine Frau hatte, erregte keinen Verdacht. Alle wussten, dass ihm seine heißgeliebte Johanna schon in jungen Jahren weggestorben war und er damals geschworen hatte, nie wieder eine andere anzurühren. Die Leute also ließen ihn in Ruhe, und die Mittel der Polizei waren in jenen Jahren so beschränkt, dass er auch von dieser Seite nichts zu befürchten hatte. Wer nicht in flagranti ertappt wurde, der konnte über Jahrzehnte hinweg andere abschlachten, ohne dass man seiner habhaft wurde.

Nach Breslau kam Krojanke nur selten, denn hier war nicht allzu viel zu verdienen, weil es zu viele Geschäfte gab, die wie er Scheren, Messer, Sägen, Feilen, Äxte und Beile an den Mann bringen wollten. So stand er auch heute wieder ziemlich gelangweilt an seinem Stand, als es ihn traf wie ein Stich in die Brust: Lief doch da Berthold Kempinski aus Raschkow über den Platz. »Den muss ich mir noch holen«, flüsterte er. »Diesmal wirst du mir nicht entgehen.«

Einmal hatte er ihn schon in der Falle gehabt. Damals auf der Chaussee zwischen Ostrowo und Raschkow, als er ihn aufgelesen und neben sich auf dem Kutschbock platziert hatte. Bei der ersten Rast hätte er ihn erschlagen und unter einer Plane verborgen nach Obersitzko gebracht. Da war ihm ein Rad gebrochen, und Kempinski hatte es vorgezogen, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.

So arm die Menschen in den preußischen Provinzen auch waren, überall gab es Honoratioren und Genießer, die gute Weine zu schätzen wussten und froh waren, dass sie nicht meilenweit reisen mussten, um diese käuflich zu erwerben, sondern sie ohne großen Aufpreis ins Haus geliefert bekamen. Gutsbesitzer und Landpfarrer vor allem. Moritz Kempinski hatte das schnell begriffen und seinen Radius ganz erheblich erweitert, seit er seinen Bruder ausschicken konnte.

Berthold Kempinski fand es nicht gerade berauschend, als fliegender Weinhändler zweispännig durchs Land zu zuckeln, aber da er die Kunst beherrschte, das Beste aus allem zu machen, litt er auch nicht übermäßig. Es gab Schlimmeres auf der Welt, und »Hoch auf dem gelben Wagen« zu singen, während es durch wogende Kornfelder ging, war ja auch nicht ohne. Er liebte die Kornblumen am Wege und mehr noch den roten Mohn, und ab und an fand sich in den Dörfern auch ein Mädchen, das auf einen Prinzen wartete. Sah er zu den weißen Wolken hinauf, dann fand er, dass er dahintrieb wie sie. Irgendwie wusste er, dass das eigentliche Leben noch kam und diese Zeit nur so leer war, damit er sich nicht zu früh verbrauchte. Wer warten konnte, zu dem kam alles. Wenn es irgendwie ging, nahm er den Weg nach Nordosten, nach Ostrowo und Raschkow, um zugleich die Eltern und die Geschwister, aber auch die alten Freunde zu besuchen.

In Medzibor traf er Ludwig Liebenthal, der dort im ersten Hotel am Platze als Hausknecht arbeitete. Die Wiedersehensfreude war groß.

»Wie geht’s denn Luise?« Das war eine der ersten Fragen, die Berthold Kempinski stellte.

»Du wirst lachen, sie lebt gar nicht weit von hier als Magd in Honig. Gleich hier hinter Medzibor Richtung Krotoschin.«

»Na, da muss ich morgen mal hin.«

»Mach das. Ich glaube, sie liebt dich noch immer.«

Berthold Kempinski fühlte, dass er rot wurde. In einsamen Nächten hatte er sich oft genug vorgestellt, mit Luise ins Heu zu gehen. Und nun stellte sich heraus, dass auch sie ihn nicht vergessen hatte. Geh hin und frage sie, ob sie deine Frau werden will. Was ihn antrieb, war die Natur. Die wollte, dass er sich mit Luise vereinigte und Kinder in die Welt setzte. Alles kam, wie es kommen musste.

 

Ludwig Liebenthal umarmte ihn. »Es wäre schön, wenn du mein Schwager wirst.«

Berthold Kempinski. »Und du meiner! Was stellt sich denn Luise so vor, ich meine …« Er konnte nicht recht in Worte fassen, was er im Sinn hatte.

»Sie will unbedingt auswandern. Nach Amerika.«

»Nach Amerika.« Berthold Kempinski brauchte eine Weile, um das zu verarbeiten. »Das will ja mancher.« Bis 1848, das wusste er, waren viele Juden nach Übersee ausgewandert, inzwischen aber wollten sie nicht mehr ganz so weit und begnügten sich mit Schlesien, von wo es des Öfteren auch weiterging bis nach Berlin. »Wenn schon Amerika, dann aber bitte Lateinamerika, schließlich habe ich in der Schule Latein gelernt.«

»Wie?« Der Freund verstand den kleinen Scherz nicht und blieb ernsthaft. »Nein, in die Vereinigten Staaten möchte sie, das ist ihr großer Traum.«

Als Berthold Kempinski wieder auf dem Kutschbock saß, hatte er Zeit genug, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Der schmerzte zwar ein wenig, weil er den ganzen Abend über mit Ludwig gezecht hatte, aber dennoch. War es also sein Schicksal, Amerikaner zu werden? New York, New York. Alle Liberalen sprachen davon. Keine Fürsten mehr, keine Unterdrücker. Freiheit und viele Dollars. Konnte man drüben als Weinhändler seinen Weg machen? Vielleicht hatten sie sich ein bisschen an europäischer Kultur bewahrt und soffen nicht nur Bier and Brandy.

Je mehr er sich dem Dorfe Honig näherte, desto unruhiger wurde er. Wie hielt man um die Hand einer Vollwaise an? Luises Vater war ja auf ewig verschollen und ihre Mutter schon lange gestorben. Fragte man da den Bruder? Möglicherweise, aber Ludwig hatte ja schon sein Plazet gegeben. Also standen alle Türen offen. Oder waren die eigenen Eltern vorher zu fragen? Da geriet er ins Wanken. Aber was sollte sein Vater gegen Luise haben? Dass sie arm war und ihm eine gute Partie den Start ins Leben sehr erleichtert hätte. Schon richtig, aber bislang hatte keine der höheren Töchter zwischen Posen und Breslau Anstalten gemacht, ihn zu erwählen. Außerdem liebte er Luise, wenn Liebe hieß, dass er sie besitzen wollte.

Als er Akazien am Wegesrand sah, stieg er ab und pflückte ihr einen wunderschönen Strauß aus Feldblumen.

Eine Stunde später hielt er vor dem Gehöft des Bauern Gurkow. Es war nicht schwer zu finden gewesen, Ludwig hatte ihm alles genau beschrieben. Irgendwie hatte Berthold gehofft, dass hier tausend bunte Bänder wehten. Aber Luise hatte ja von seiner Ankunft nichts wissen können.

Er zog die Bremse seines Wagens an und stellte den Pferden Wasser und Hafer hin, um Zeit zu gewinnen und alles zu mustern. Vorn am Wohnhaus klebte viel Schinkel, was hieß, dass der Bauer recht wohlhabend war. Da hatte es Luise ja gut getroffen.

Er nahm seinen Blumenstrauß und trat durch das offene Tor in den Hof. »Hallo, ist da wer?«

Ein Hüne mit Haaren wie Haferstroh kam mit der Forke vom Misthaufen herab. Offenbar der Knecht. »Was ist?«

»Pardon, ich suche die Luise.«

»Hier ist keine Luise.«

»Ich bin doch aber richtig bei Gurkow?«

»Was wollen Sie hier?«

»Na, die Luise sprechen.«

Da erschien Luise Liebenthal auf der kleinen Terrasse, die man vor die Küche gesetzt hatte, um vom Hochparterre über eine Treppe in den Hof und zu den Ställen zu gelangen.

Ein Hahn krähte, ein Kater schmiegte sich an ihre Beine, aber die Szene war dennoch alles andere als idyllisch, denn Berthold Kempinski hatte schnell begriffen, dass auch der andere ein Auge auf Luise geworfen hatte und sie nicht kampflos hergeben würde.

»Berthold!«, rief Luise von oben. »Du hier?«

»Ja, um dich zu holen!« So schoss es aus ihm heraus, ohne dass er eine Chance gehabt hätte, es zu verhindern.

»Luise gehört mir!«, schrie da der Mann auf dem Misthaufen und kam mit seiner Forke drohend auf Berthold zu. Der wich einen Schritt zurück und fragte Luise, wer das denn sei.

»Heinrich, der Sohn vom Bauern. Er will mich auch.«

»Und wen willst du?«

»Lass mir einen Augenblick Zeit.«

Luise Liebenthal schloss die Augen, und Berthold Kempinski hatte das Gefühl, sie warte auf eine Eingebung des Himmels.

Als sie sich dann sicher war, kam sie die Treppen herunter und in seine Richtung gelaufen. Er breitete schon die Arme aus, um sie aufzufangen.

Da machte sie einen kleinen Schlenker und warf sich Heinrich Gurkow an die Brust.

In Kongresspolen waren die Aufständischen 1864 endgültig gescheitert. Sie hatten es nicht verstanden, ein tragfähiges Programm für die Bauernbefreiung zu entwickeln, und so war die Unterstützung aus dem Lande weithin ausgeblieben, erst recht, als der Zar mit einem Ukas die Leibeigenschaft aufgehoben hatte. Unter Romuald Traugutt hatte man schließlich den Partisanenkrieg gegen die Russen verloren. Die überzogen das Land mit Terror und henkten Traugutt und andere Rädelsführer. Hunderte Rebellen waren es, die öffentlich hingerichtet wurden, und es hieß, zwanzigtausend Polen seien nach Sibirien in die Verbannung geschickt worden.

»Das ist aber noch nicht alles«, sagte Friedrich Wilhelm von Kraschnitz. »Tausende von polnischen Adelsfamilien sind enteignet worden, die katholische Kirche wird unterdrückt, Russisch ist Amts- und Schulsprache geworden. Kongresspolen existiert nicht mehr und ist russische Provinz geworden. ›Weichselland‹ nennen sie es oder ›Gouvernement Warschau‹.«

»Mich interessiert Witolds Schicksal. Und Sie mit Ihren vielen Verbindungen nach Russland können doch da sicher etwas ausrichten.« Vor allem deswegen Berthold war Kempinski aufs Gut gekommen, nicht wegen des Weines, den Kraschnitz bestellt hat. »Ich flehe Sie geradezu an!«

»Ich werde alles versuchen, was in meiner Macht steht, aber wenn er schon auf dem Weg nach Sibirien ist, dann …« Er brach ab, denn sein Leibdiener war in den Raum getreten und kam zu ihm hin, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Kraschnitz nickte und blickte dann zu Berthold Kempinski hinüber. »Ihr Vater weiß, dass sie hier sind, und hat jemanden geschickt. Ihre Mutter liegt im Sterben, und Sie sollen so schnell wie möglich nach Raschkow kommen.«

Mit Rosalie Kempinski ging es zu Ende, und alle ihre Kinder und näheren Verwandten hatten sich an ihrem Bett versammelt. Sie sah so elend aus, dass Berthold es kaum schaffte, in ihre Richtung zu blicken.

Obwohl es ihr furchtbar schwerfiel und sie immer von Hustenkrämpfen erschüttert wurde, wollte sie ihrem Mann und ihren Kindern noch ein letztes Wort mit auf den Weg geben. »Moritz, du kümmerst dich um Berthold und machst ihn zum Kompagnon. Und du, Berthold, bist Moritz ein ehrlicher Partner und fügst dich in alles ein.«

Kapitel 4 1871

Mit der Schlacht bei Sedan am 2. September 1870 und der Gefangennahme von Napoleon III. war der Deutsch-Französische Krieg entschieden, und die Deutschen sollten am 18. Januar 1871 den preußischen König Wilhelm I. zum Kaiser krönen. Nicht alle Menschen zwischen Maas und Memel und von der Etsch bis an den Belt stimmten in den nationalen Jubel ein, aber es gab in den deutschen Landen einen Aufbruch ohnegleichen. Die deutsche Agrarrevolution kam zum Abschluss, die industrielle Revolution strebte ihrem Höhepunkt entgegen. Jetzt musste man wagen, wollte man gewinnen.

Vor diesem historischen Hintergrund wollte Breslau sein Schiffer-Silvester ganz besonders ausgelassen feiern. Es war ein einzigartiges Fest der Lebensfreude, das die Oderschiffer abbrannten. Begannen sie ihren Umzug, sprach sich das wie ein Lauffeuer herum, und wer sich vergnügen wollte, der stürzte aus dem Haus, um sich ihnen anzuschließen. Durch die Altstadtgassen wälzte sich der Strom, um den Ring und über den Neumarkt, und ergoss sich schließlich in die Straßen zur Oder, wo in den vielen kleinen Schifferlokalen bis weit in den Neujahrstag hinein gefeiert wurde. Getrunken wurden Breslauer Spezialitäten wie der Schirdewan und die Hennig-Creme. Für die Musik sorgten Schnutenorgel und Schifferklavier, also Mund- und Ziehharmonika, und es wurde tüchtig getanzt und gesungen.

»Wie die Welle hüpft vom Kiel,/wie der Wind fegt über Deck,/ jagen plötzlich Tanz und Spiel/alle Müh’ des Jahres weg./Schiffer-Karle, Schiffer-Franz/mit der Frieda und Sophie/drehen sich im Dauertanz/junge Welt, was kostet sie!«

Berthold Kempinski kämpfte sich mit seinen Freunden Leopold Leichholz und Witold Klodzinski durch die Menge. Die beiden waren unheimlich aufgekratzt und wollten ordentlich feiern. Grund dazu hatten sie. Der eine hatte im vergangenen Jahr sein Studium beenden können und verdiente seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer bei einer wohlhabenden jüdischen Familie, der andere war mit nur leichten Blessuren aus Frankreich heimgekehrt.

Witold Klodzinski hatte sich vor sechs Jahren schon auf dem Weg in ein sibirisches Arbeitslager befunden, als es Kraschnitz mit seinen Verbindungen zu deutschen Diplomaten in St. Petersburg gelungen war, ihn den Russen doch noch zu entreißen. Voller Dankbarkeit für seine Rettung hatte er sich dann widerstandslos in sein Schicksal ergeben, mit den Ostrower Ulanen in den Krieg zu ziehen. Natürlich war ihm das contrecoeur gegangen, denn das Herz der Polen hatte immer schon für Frankreich geschlagen, und der Sieg über die Franzosen stärkte nur die Deutschen und ließ ein freies und großes Polen in eine noch fernere Zukunft rücken, aber zuerst kam das Menschliche, und er wollte Kraschnitz nicht enttäuschen.

Berthold Kempinski freute sich über das Glück seiner beiden besten Freunde, haderte aber doch ein wenig mit dem eigenen Schicksal. Er hatte kein Studium beendet, konnte sich weder Professor nennen und seiner Gelehrsamkeit rühmen, wie der eine, noch hatte er etwas Abenteuerliches erlebt und galt als Held, wie der andere, er verschleuderte weiterhin all seine Gaben und war im Grunde nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Ladenschwengel. »Da darf ich Ihnen zuerst die alles entscheidende Frage stellen, mein Herr: Rot oder weiß?« Er sah sich als armseliges Zirkuspferd Abend für Abend, Jahr für Jahr durch die Arena laufen, immer im Kreis herum, obwohl er doch die Anlage zu einem Rennpferd hatte, das immerzu siegen und wertvolle Preise einheimsen konnte. Im neuen Jahr musste alles anders werden, musste er endlich raus aus seinem Trott. Breslau war eine Sackgasse, in Berlin spielte die Musik.

Sie mussten langsam zusehen, dass sie in einer der vielen Kneipen und Gaststätten einen Platz ergatterten, wollten sie auf das neue Jahr mit Sekt anstoßen, doch das Gedränge vor den Eingängen war so groß geworden, dass sie kaum noch hoffen konnten.

»Witold, geh du mal voran!«, rief Berthold Kempinski. »Du hast Kampferfahrung und kannst den Durchbruch schaffen.«

Witold Klodzinski sagte nicht nein und spielte den Rammbock, die beiden anderen folgten ihm.

Anfangs ging es ganz gut, dann aber verlor Berthold Kempinski ein wenig den Anschluss, und der Druck der Menge trieb eine junge Frau wie einen Keil zwischen ihn und Klodzinski. Es ließ sich nicht vermeiden, dass er ihr kräftig auf den Fuß trat. Sie schrie auf.

»Pardon!« rief er. »Aber das ist mein erster Auftritt heute.«

»Sie haben mir den Fuß gebrochen, Sie Gawwalier! Ich werd gleich ohnmächchdch.«

»Kommen Sie, ich stütze Sie.« Dessen bedurfte es eigentlich keiner besonderen Aufforderung, denn sie wurde von den Nachdrängenden ohnehin gegen seinen Körper gepresst. »Witold, andere Richtung, wir müssen raus hier!«

Das gelang dann auch mit einiger Mühe, und als sie schließlich am Rande des Menschenstromes eine halbwegs ruhige Insel gefunden hatten, stellte sich heraus, dass das Fräulein nur noch humpeln konnte.

»Wie soll ich denn so nach Hause kommen?«, fragte sie.

»Wir tragen Sie hin«, versprach ihr Berthold Kempinski, den die Kleine, sechzehn mochte sie sein, gehörig dauerte. »Wo kommen Sie denn her?«

»Aus Leibzsch.«

»Das dürfte ein bisschen weit sein. Aber dass Sie aus Leipzig stammen, hätte ich nie vermutet.«

»Nu, door säggs’sche Dialeggd iß iwwerall ä bisschen andorsch. Mier mergn glei, wenn eener aus Drehsden oder aus Leibzsch gommd. Wie in Leibzsch so schbrichd morr ooch inn Worrzn, Grimme unn ooch in Borrne. Schon in Eilnborch unn ooch in Dorche gamorr gee G schbrechn. Doord gibbds dorrfohr ä J.«

 

Alles lachte schallend, und sie erklärte, dass in Leipzig zwar ihr Elternhaus stünde, sie aber durch mehrere Zufälle bei einem Arzt in der Berliner Straße gelandet sei. »Hier in Breslau. Als Dienstmädchen.«

»Dann ist das mit dem Tragen ja wirklich kein Problem«, sagte Leopold Leichholz. »Wenn wir die Neue Oderstraße Richtung Bahnhof hochgehen, sind wir gleich an der Berliner Straße. Passen Sie mal auf, Fräulein …«

»Hess, Helene Hess.«

»Wieso Hässlich?«, fragte Berthold Kempinski, sie bewusst miss verstehend. »Sie müssten doch eigentlich Schön heißen, Helene Schön, die schöne Helene.«

»Sie können aber Gommblemännde machen.«

»Nicht nur das…«

Schon war er dabei, seine Hände mit denen von Witold Klodzinski zu verschränken, so dass sich für das Fräulein ein schöner Sitz ergab. So zogen sie denn los. Leichholz, der für solche Transporte zu schwächlich war, wies ihnen den Weg.

Die Familie des Arztes war schon tüchtig am Feiern, der Doktor fand aber noch Zeit, den schon dick angeschwollenen rechten Fuß des Mädchens zu versorgen. Anschließend lud er die drei jungen Männer ein, mit ihm und seinen Gästen zu feiern. Sie sagten nicht nein, zumal es hieß, der Champagner sei schon kalt gestellt.

Caspar Sprotte war 1840 in Berlin als Sohn eines Schauspielers zur Welt gekommen und hatte mit heißem Bemühen Malerei und Baukunst studiert, ohne aber von den anderen als das Genie wahrgenommen zu werden, als das er sich selber sah. Auch seine Romane und Gedichte hatten nie einen Verleger gefunden. Schließlich war er in die Fußstapfen seines Erzeugers getreten und versuchte sich nun nach zwei Jahren an einer mittelmäßigen Schauspielschule als gehobener Statist an den Bühnen der preußischen Provinz. So hatten all die Großen einmal angefangen, und es gab schlechtere Plätze als Breslau und geringere Rollen als den Pförtner in Shakespeares Macbeth. Elend war das Leben eines Bohemiens in den Zeiten kaiserlichen Glanzes, aber Sprotte genoss es dennoch.

Vor der nächsten Probe saß er in der Kantine des Breslauer Stadttheaters am Exerzierplatz und memorierte seinen Text. »Das ist ein Klopfen! Wahrhaftig, wenn einer Höllenpförtner wäre, da hätte er was zu schließen. Poch, poch, poch: Wer da! In Beelzebubs Namen? Ein Pächter, der sich in Erwartung einer reichen Ernte aufhing…«

Das ging. Wenn er nur etwas zu trinken gehabt hätte! Bei seiner geringen Entlohnung war er gezwungen, sich zwei Stunden an einem Schoppen Wein festzuhalten.

Als er sein Glas bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, lechzte er geradezu nach einem frischen Trunk, und just in diesem Augenblick kam ein Mann mit einem großen Korb voller Weinflaschen vorüber.

»Wein her!«, rief Sprotte. »Wein her, Burschen!/Stoßt an mit dem Gläselein, klingt! klingt!«

»Bravo«, rief der Mann mit den Weinflaschen. »Shakespeare, Othello, II. Akt, 3. Szene.«

»Ihr Bravo retour!« Da Sprotte im Gegensatz zu dem anderen seine Hände frei hatte, konnte er anhaltend klatschen. »Welche Bildung bei einem Boten!«

»Das hing bei meinem Vater im Bureau. Wir sind eine alte Weinhändlerfamilie.«

»Wir haben auch mit Weinen zu tun, mit Lachen und Weinen.«

»Sie sind hier im Engagement?«

»Erraten.« Sprotte rückte einen zweiten Stuhl zurecht. »Setzen Sie sich doch.«

Man stellte sich vor, und Caspar Sprotte erfuhr, dass der andere Berthold Kempinski hieß und kein simpler Bote war, sondern Kompagnon des Weinhauses M. Kempinski & Co., das auch Lieferant der Theaterkantine war, und außerdem Absolvent des bekannten Gymnasiums in Ostrowo. Sie kamen schnell ins Gespräch.

»Wie fühlen Sie sich hier?«, fragte der Schauspieler.

»Gemessen an Raschkow und Ostrowo erscheint mir Breslau wie eine strahlende Residenz«, antwortete Berthold Kempinski.

»Ach, Bres is lau. Leben lässt sich’s nur in Berlin.« Er hätte fast seine Probe verpasst, so sehr geriet er ins Schwärmen. Ein Assistent holte ihn schließlich.

»Schade«, sagte Berthold Kempinski. »Wann kann man Sie denn auf der Bühne erleben?«

»Nächsten Monat ist Premiere.« Sprotte schielte auf die Weinflaschen. »Wir können ja tauschen: Eine Flasche Wein gegen eine Theaterkarte.«

»Zwei Flaschen gegen zwei Karten.«

»Gut. Machen wir.«

Die Jüdische Gemeinde zu Breslau wuchs von Jahr zu Jahr. Hatte man 1850 an die 7200 Bürger mosaischen Glaubens gezählt, so sollten es 1900 schon mehr als 19 000 sein. Und so erwarb die Jüdische Gemeinde im Südosten der Schweidnitzer Vorstadt ein 4,6 Hektar großes Areal, das Raum für zwanzig Gräberfelder bot. Im November 1856 konnte dort das erste Begräbnis stattfinden.

Moritz und Berthold Kempinski gingen über diesen »Ort des Lebens« und suchten das Grab ihres Kunden Salomon Auerbach, dessen Sarg sich letztes Jahr in die Erde gesenkt hatte.

»Der Ewige gab, der Ewige nahm; es sei der Name des Ewigen gepriesen!« Mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit zitierte Moritz Kempinski Hiob 1, Vers 21.

Berthold Kempinski lachte und dachte an die Kria. »Nicht so feierlich, sonst zerreiße ich mir noch meine Kleider!« Für die nahen Verwandten des Verstorbenen war das fest vorgeschrieben. Damit sollte der Schmerz nach außen hin sichtbar gemacht werden. Der Riss in den Gewändern symbolisierte den Riss im Herzen.

Moritz Kempinski simulierte weiterhin den Gang von der Trauerfeier zum Grabe, der mehrmals unterbrochen wurde, um die Mühsal dieses Weges anzuzeigen, und rezitierte den Anfang des 91. Psalms: »Wer in dem Schutze des Höchsten sitzet, der ruhet im Schatten des Allmächtigen. Ich spreche zum Ewigen: Meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, dem ich vertraue. Denn er wird dich retten von der Schlinge des Vogelstellers.«

»Das tut ja nun in Breslau weniger not«, kam Berthold Kempinskis Zwischenruf.

Der Bruder sah ihn tadelnd an. »Treib aus den Spötter!« Das war aus den Sprüchen Salomos, und weil er viele von denen auswendig kannte, fügte er noch hinzu: »Mancher kommt zu großem Unglück durch sein eigen Maul.«

»Du, ich bin da die große Ausnahme: Mein Maul ist mein größtes Kapital und Glück. Ich unterhalte die Leute damit, ich sorge dafür, dass sie sich amüsieren – und sie danken es mir. So sind wir alle glücklich.« Berthold Kempinski hatte es in all den Jahren in Breslau gelernt, den Aggressionen des Bruders mit einem entwaffnenden Humor zu begegnen.

Der Bruder sah ihn böse an. »Ich möchte dir heute nicht bei uns am Abendbrottisch gegenübersitzen.«

»Da brauchst du nichts zu befürchten, ich gehe heute Abend ins Theater.«

Helene Hess kam aus einfachen Verhältnissen, ihr Vater war Rangierer bei der Königlich Sächsischen Eisenbahn in Leipzig und ihre Mutter Beiköchin in einem Gasthaus in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs, und wie alle Mädchen ihres Standes träumte sie davon, einmal in die höheren Kreise einzuheiraten. Und ein Weinhändler mit einem Geschäft am Ring zählte ganz sicher dazu.

Vor ihr auf der Waschkommode stand der Blumenstrauß, den ihr Berthold Kempinski geschickt hatte. Zusammen mit einem Billett, das zwar kein richtiger Liebesbrief war, aber immerhin eine gewisse Anbetung erkennen ließ. Ins Theater lud er sie ein, und Theater war etwas für Herrschaften. Sein genaues Alter kannte sie noch nicht, aber sie schätzte, dass er mehr als zehn Jahre vor ihr auf die Welt gekommen war. Es war nichts Außergewöhnliches, dass ein Mann so viel älter war als die Frau, die er heiratete, es war sogar gut so, da hatte er sich schon die Hörner abgestoßen. Ein Beau war Berthold Kempinski nicht, aber durchaus ansehnlich und vor allem ein lustiger Kerl. Und in ihm steckte viel Energie, das hatte sie bei ihrer kurzen Begegnung zu Silvester instinktiv gespürt. Wenn er nun wirklich ernsthafte Absichten hatte … Sie war doch erst sechzehn und kannte die Welt nur aus Kolportageromanen. Mit wem sollte sie reden? In Breslau hatte sie noch keine beste Freundin gefunden.

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