Kempinski erobert Berlin

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Damit war ihr Spiel eigentlich zu Ende, und die Jungen um Berthold Kempinski und Ludwig Liebenthal überlegten, ob sie zum Baden gehen sollten und doch lieber nach Hause, da nahte Karl-Michael Schmeisel mit seinen Kameraden. Vorhin hatte man ihn nicht mitspielen lassen, jetzt kam die Rache.

»Ich bin General Wrangel!«, schrie er. »Immer rauf auf die Revoluzzer! Alles niedermachen! Die Juden zuerst.«

Er war der Sohn des Fleischers hinter dem Markt und hatte etwas gegen die Juden, weil sie so anders waren. Sie feierten andauernd komische Feste und nicht Weihnachten wie jeder vernünftige Mensch. Außerdem kauften sie nichts bei seinem Vater. Sonderlich intelligent war er nicht, aber er hatte schnell begriffen, dass es schön war, Feinde zu haben, auf die man bei Bedarf einschlagen konnte. Hinterher kam man sich immer großartig vor.

Säbel hatten Schmeisels Soldaten nicht, aber dicke Stöcke, deren Rinde schönes Schnitzwerk zierte, und mit denen hieben sie auf Berthold Kempinski und die Seinen ein.

Nun geschah etwas, was es 1848 in Berlin nicht gegeben hatte: Die Barrikadenkämpfer solidarisierten sich mit den Soldaten und machten Front gegen General Wrangel und seine Truppen.

Nur gut, dass in diesem Augenblick Dr. Dramburger in seinem Einspänner vorbeikam und die Kampfhähne wieder auseinanderbrachte, es hätte wohl ernsthaftere Verletzungen gegeben. Erst neulich war einem Jungen bei einer ähnlichen Auseinandersetzung ein Auge ausgeschossen worden.

»Was soll denn der Unfug!«, rief er.

»Wir haben nur Barrikadenkampf gespielt«, sagte Berthold Kempinski.

»Na, dann ist ja gut«, murmelte Dr. Dramburger.

Der Geburtstag des Vaters war für Berthold wie für jedes seiner vielen Geschwister immer ein ganz besonderer Tag, denn Raphael Kempinski verstand es zu feiern. Zwar stand sein vierzigster Geburtstag schon ein wenig im Schatten der beginnenden Erkrankung seiner Frau, aber Rosalie beschwor ihn händeringend, alle einzuladen, die ihm nahestanden oder irgendwie geschäftlich wichtig waren, und dem Frohsinn keine Zügel anzulegen, wie sie es ausdrückte.

An der langen, in Form eines Hufeisens aufgestellten Tafel im Hof hinter dem Haus hatten genau vierzig Gäste Platz genommen, darunter viel Prominenz aus den südöstlichen Kreisen der Provinz.

An der Spitze der anwesenden Honoratioren stand zweifellos der Gutsbesitzer Friedrich Wilhelm von Kraschnitz, gebürtiger Niederbayer aus Landshut. Auf 72 Jahre hatte er es schon gebracht und fühlte sich auf seinem Gut am Olobok mehr als wohl. Er hatte sich auf den Obstanbau und die Schweinezucht spezialisiert und belieferte die Märkte in Adelnau, Ostrowo und Krotoschin.

Das Fürstentum Krotoschin, in den Kreisen Krotoschin und Adelnau gelegen, hatte 1819 der Fürst von Thurn und Taxis für die Abtretung seiner Rechte in den preußischen Rheinlanden an die Königliche Post erhalten. In seinem Sog war Kraschnitz nach Posen gekommen. Die Nähe zu den Radziwiłł, die in der Nähe von Raschkow Ländereien und das Jagdschloss Antonin besaßen, schmückte ungemein und brachte ihn der polnischen Kundschaft nahe, denn der Fürst Anton Radziwiłł hatte als preußischer Statthalter in Posen deren Interessen mit Nachdruck vertreten.

Obwohl dreißig Jahre jünger als Kraschnitz, war der Adelnauer Landrat Gustav Gnadenfroh von ähnlicher Bedeutung. Gnadenfroh kam aus dem brandenburgischen Neuruppin, hatte in Berlin Jura studiert und war in den Staatsdienst eingetreten. Leider waren seine Noten nicht gut genug gewesen, um in Berlin in einem der wichtigen Ministerien unterzukommen, und nicht einmal für den Niederrhein hatte es gereicht. Als man ihn über seine letzte Versetzung informiert hatte, war zunächst Freude bei ihm aufgekommen, denn er hatte Adenau verstanden, und das lag in der Provinz Rheinland, wo sich nicht nur trefflich Karriere machen ließ, sondern die Nähe zu Frankreich auch vielerlei Genüsse versprach. Doch Adelnau… nur einen Steinwurf von Polen entfernt – mein Gott. So schneidig er sich gab, so weich war er, und wenn ihn seine Frau nicht in die Mangel genommen hätte, wäre er als Selbstmörder begraben worden. Seine Waffe hatte schon durchgeladen in der Schublade gelegen.

Ein wichtiger Mann, wenn auch von ganz anderer Ausrichtung als die beiden zuerst genannten Herren, war der Arzt Dr. Richard Dramburger, 1801 in Berlin zur Welt gekommen. Dort hatte er im März 1848 auf den Barrikaden am Alexanderplatz gekämpft und war nach dem Sturm auf das Zeughaus Richtung Osten geflüchtet, um sich General Wrangel und dessen Kavallerie zu entziehen. In einem Nest wie Adelnau zu praktizieren war allemal besser, als eine langjährige Strafe auf der Festung Graudenz abzusitzen. Seine Frau war schon lange tot, seine Kinder lebten in den preußischen Rheinprovinzen – was blieb ihm da anderes als seine Bienen und sein Rotwein. Abgesehen von dem schönen Gefühl, ab und an einem Menschen das Leben gerettet zu haben. Manchmal aber wäre es wohl besser gewesen, dies zu unterlassen, denn auch im Kreise Adelnau gab es eine Menge Widerlinge und Kotzbrocken. Dass er von den Behörden als Jude geführt wurde, interessierte ihn wenig, denn recht eigentlich war er Atheist und empfand jedwede Religion als Volksverblödung.

Das hörte sein Nachbar zur Rechten bei aller Toleranz nicht eben gerne, schließlich war er Rabbiner in Ostrowo. Veitel Ungar, geboren 1793, kam aus Galizien, wo sich der Chassidismus seit 1750 stark ausgebreitet hatte. Er war aber jedem kabbalistischen Mystizismus abhold und zählte sich zu den Anhängern der jüdischen Haskala, der Aufklärung, wie sie von Moses Mendelssohn personifiziert wurde. 1846 hatte er sich mit anderen reformorientierten Rabbinern in Breslau getroffen. Immer wieder klagte er darüber, an zwei Fronten kämpfen zu müssen: gegen die traditionalistischen Glaubensbrüder, die um die Reinheit des Judaismus und den Zusammenhalt des jüdischen Volkes fürchteten, und gegen alle Deutschen, die sich der Emanzipation der Juden widersetzten. Dass der Ewige ihn nach Ostrowo befohlen hatte, empfand er als arge Strafe, und oft hatte er den 7. Vers des 6. Psalms im Sinn: Matt bin ich in meinem Seufzen, ich mache schwimmen in jeglicher Nacht mein Bett, mit meinen Tränen mein Lager zerfließen.

Raphael Kempinskis engster Freund aber war der Raschkower Apotheker Eduard Schlüsselfeld, rund vierzig Jahre wie er und evangelisch getauft, was in Posen einen gewissen Seltenheitswert besaß. Seine Vorfahren kamen aus der Nähe von Ansbach und hatten sich schon immer als waschechte Preußen gefühlt. Als die Provinz Posen 1815 an Preußen gefallen war, hatte sich sein Vater aufgemacht, um jenseits der Oder eine neue Heimat zu finden. Die alte war ihm zu eng geworden. Er sah sich als Kämpfer – für die Germanisierung der Provinz Posen, gegen den vorherrschenden Katholizismus. Eduard Schlüsselfelds Statur aber hatte wenig Germanisches an sich, denn er war ein fast zwergwüchsiger kahlköpfiger Pykniker, dessen mächtiger Bauch jeden Knopf vom weißen Kittel sprengte, mochte das Mädchen ihn auch noch so fest angenäht haben.

Die Kinder saßen natürlich an einem Extratisch, doch Berthold Kempinski hatte die Rolle des Mundschenks übernommen, und so konnte er die Tafel ständig umrunden und lauschen, was die Erwachsenen so redeten.

Landrat Gnadenfroh hielt eine Eloge auf Bismarck. »Ohne ihn hätten sich die Deutschen vor den österreichischen Karren spannen lassen und gegen Russland mobil gemacht. Dann wäre der Krimkrieg auch zu uns nach Posen gekommen und hätte Raschkow verwüstet. Ich hebe mein Glas auf sein Wohl. Und auf das der Hohenzollern.«

»Bismarck mag ja noch angehen«, wandte Dr. Dramburger ein. »Aber die Hohenzollern … Es ist schon ein Elend, wie Friedrich Wilhelm IV. ein modernes und demokratisches Deutschland verspielt hat. Lehnt der Mann die Kaiserkrone ab! Ungeheuerlich. Man munkelt in Berlin, er sei geisteskrank.«

Gnadenfroh fuhr auf. »Ich muss mir das verbitten!«

Raphael Kempinski lachte. »Ja, das musst du, Gustav, sonst wird dich der Teufel holen, der Manteuffel.« Damit spielte er auf die Gesinnungsprüfung für Beamte an, die der preußische Ministerpräsident Otto Freiherr von Manteuffel nach der Märzrevolution von 1848 durchgesetzt hatte.

Die Männer diskutierten noch einige Zeit über die Deutsche Frage und waren einheitlich der Meinung, dass die nächsten Jahrzehnte vom Kampf zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland gekennzeichnet sein würden.

»Das wird nicht ohne Krieg abgehen«, sagte Friedrich Wilhelm von Kraschnitz. »Aber Preußen wird siegen, und die deutschen Staaten werden nicht umhinkönnen, sich Preußen anzuschließen – und es wird ein Deutsches Kaiserreich geben. Mit Berlin als Hauptstadt.«

Berthold Kempinski hatte als Kind geglaubt, die Erde sei eine kleine Scheibe um Raschkow herum. Auf der einen Seite reichte sie bis zur Stadt Posen, auf der anderen bis nach Breslau. Dahinter kam der Rand, und man fiel in die Hölle, sollte man weitergehen. Erst langsam hatte er begriffen, dass die Scheibe viel größer war, und nicht Raschkow war ihr Mittelpunkt, sondern Berlin. Mit zwölf Jahren wusste er natürlich, dass die Erde eine Kugel war, und wenn die Erwachsenen nun davon sprachen, dass Berlin in den nächsten hundert Jahren der Nabel der Welt werden würde, sah er sich darin bestätigt. Aus dem Geschichtsunterricht wusste er, dass jeder Bürger des gewaltigen Römischen Reiches sein Glück nur in Rom selber finden konnte. Wer anderswo lebte, der lebte nicht eigentlich. Und im Deutschen Kaiserreich würde es nicht anders sein. Entweder man ging nach Berlin, oder man verschlief sein Leben. Er nahm es als Omen, dass Berlin und sein Vorname die ersten drei Buchstaben gemeinsam hatten.

Veitel Ungar, über drei Ecken mit den Kempinskis verwandt, kam das Stichwort Berlin sehr gelegen, und er berichtete von seinem jüngsten Besuch in der preußischen Residenz.

 

»Sie haben letztes Jahr den Tempel der Jüdischen Reformgemeinde in der Johannisstraße geweiht, und mein Freund Samuel Holdheim ist erster Rabbiner geworden. Die Liberalen wollen in der Oranienburger Straße eine riesige neue Synagoge bauen.«

Dr. Dramburger winkte ab. »Sollen sie lieber Fabriken bauen, das bringt mehr Segen für alle, Lokomotivfabriken vor allem, damit wir endlich eine Eisenbahn nach Raschkow kriegen, auch gegen den Widerstand unserer Gräfin. Wenn man in fünf Stunden in Berlin sein könnte …«

Berthold Kempinski erhoffte sich nichts sehnlicher. Gleichzeitig hatte er Angst vor Berlin. Das war ein Moloch, der ihn verschlang. Wie hieß es immer: Der Mensch versuche die Götter nicht. Wenn er sich irgendwo zurechtfinden und durchs Leben schlagen konnte, dann vielleicht in Adelnau und Ostrowo, vielleicht auch noch in Breslau, aber nie und nimmer in Berlin.

Die Runde fragte den Rabbiner, was es denn in Berlin Neues gäbe.

»Nu, sie haben da Säulen auf den Straßen.«

»Ja, Kotsäulen«, rief Raphael Kempinski. »Von den vielen Hunden.«

»Nein, mit Reklame drauf.«

»Für Hundefutter?«

»Wirst du mich wohl ausreden lassen! Hohe Säulen aus Blech, die ein Herr Litfaß aufstellt, damit man Plakate drauf anschlagen kann.«

»Und was ist drin?«

»Was soll drin sein? Luft.«

»Keine Bedürfnisanstalt?«

»Nein. Die Pissoirs stehen daneben, sehen aus wie antike Rundtempel und haben eine Palmettenbekrönung.«

Berthold Kempinski konnte es nicht fassen. In Berlin erleichterten sie sich nicht in hölzernen Buden, sondern in kleinen Tempeln. Was für eine herrliche Stadt musste das sein!

Friederike Gnadenfroh bemühte sich nun, das Niveau der Tafelrunde wieder etwas zu heben, und fragte, ob denn jemand schon den neuen Roman von Joseph Victor von Scheffel gelesen habe.

Nein, den Roman Ekkehard kannte niemand, Friedrich Wilhelm von Kraschnitz nutzte aber die Gelegenheit, um auf Gustav Freytag und dessen neuestes Werk Soll und Haben hinzuweisen. »Den Freytag kenne ich noch aus der Zeit, als er Privatdozent an der Universität in Breslau gewesen ist. Bis 1847, glaube ich. Jetzt sitzt er in Dresden, und sein Freund Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha hat ihn zum Hofrat gemacht.«

Veitel Ungar verzog das Gesicht. »Soll und Haben ist ein übles Machwerk und sollte vom König verboten werden, weil es Hass und Zwietracht sät. Der deutsche Kaufmann wird bei ihm als tüchtig und redlich, der jüdische als faul und betrügerisch dargestellt, und die polnische Landbevölkerung erscheint als eine Schar von halbwilden Barbaren.«

»Ich habe gehört, dass es ihm nur um das aufstrebende deutsche Bürgertum geht«, sagte Landrat Gnadenfroh. »Daran kann ich nichts Verwerfliches finden. Und wenn ich an unseren polnischen Hausmeister, den Kadschinsky, denke, dann kann ich ihm so unrecht nicht geben. Der zieht eine derartige Wodkafahne hinter sich her …«

»Auf meine Polen lasse ich nichts kommen!«, rief da von Kraschnitz. »Das bin ich meinem Freund Antoni schuldig.«

Fürst Anton Heinrich Radziwiłł, geboren 1775 in Wilna, entstammte dem reichsten und mächtigsten Adelsgeschlecht der ersten Polnischen Republik, hatte in Göttingen studiert und war an den preußischen Hof gekommen, wo er 1796 Prinzessin Luise Friederike von Preußen geheiratet hatte, die Nichte Friedrichs des Großen und Schwester des von allen angebeteten Prinzen Louis Ferdinand. 1815, als das Posener Gebiet als Großherzogtum an Preußen gefallen war, kam er als preußischer Generalleutnant und Statthalter des Königs nach Posen und bemühte sich um die Versöhnung von Polen und Deutschen. Mit dem Ausbruch des Novemberaufstandes in Kongresspolen war dieser Traum aber ausgeträumt, zumal sein Bruder Michał den Oberbefehl über die aufständischen polnischen Truppen innehatte. 1831 war das Ende der Posener Statthalterschaft gekommen, 1833 starb Radziwiłł in Berlin.

»Begraben ist er aber im Dom zu Posen«, sagte von Kraschnitz. »Und oft genug pilgere ich dorthin.«

»Posen ist eine Totgeburt«, sagte Schlüsselfeld. »Polen und Deutsche sollten getrennt leben und wirtschaften.«

»Wir Juden sind doch die verbindende Klammer«, rief Veitel Ungar.

»Und der ungarische Wein«, fügte Raphael hinzu.

»Nicht zu vergessen: das deutsche Beamtentum.« Das zu betonen, konnte sich der Landrat nicht nehmen lassen.

»Ausgerechnet Sie mit Ihrem Kastengeist!«, protestierte Dr. Dramburger. »Immer neue Heerscharen von Beamten schickt Berlin nach Posen und verschärft damit nur die Trennung der Gesellschaftsklassen.«

»Das Deutsche wird sich alsbald durchsetzen«, sagte Schlüsselfeld, »denn der Deutsche hat die überlegene Technik. Gerade hat Robert Wilhelm Bunsen herausgefunden, wie man mit Hilfe der Elektrolyse Aluminium herstellen kann.«

Berthold Kempinski wurde vom Vater in den Keller geschickt, um neuen Wein zu holen. Ihm schien, dass die Erwachsenen die Welt nur ertragen konnten, wenn sie tranken. Somit hatte derjenige, der mit Weinen handelte, immer ein gutes Auskommen.

Irgendwie lag es ihm im Blut. Schon als Siebenjähriger hatte Berthold Kempinski nichts lieber als Gasthof gespielt. Im Hof des väterlichen Haus stand ein alter Küchentisch, an dem man im Sommer hin und wieder speiste und an dem die Mutter und die größeren Kinder Brechbohnen schnipselten, die Steine aus Kirschen und Pflaumen pulten, rote und weiße Johannisbeeren von den Rispen streiften und Kartoffeln schälten. War dieser Tisch einmal frei, stibitzte er sich ein altes Bettlaken, um es als Tischdecke zu nutzen, und schaffte angestoßene Teller und Gläser herbei, auch verbogene Gabeln und Löffel und stumpfe Messer. Dann war er Gastwirt, Koch und Ober in einem und brachte seinen Gästen alles, was deren Herz begehrte.

»Für mich bitte den Hirschbraten mit Preiselbeeren und den passenden Rotwein dazu«, verlangte Moritz, sein älterer Bruder.

Berthold beeilte sich, alles so schnell wie möglich zu servieren. Ein Stück dunkles Brot wurde zum Hirschbraten, ein Klacks Kirschmarmelade kam als Zierde hinzu. Die Salzkartoffeln waren sogar echt und vom Mittagessen übriggeblieben, auch der Kirschsaft, der den Rotwein ersetzte, konnte getrunken werden.

»Sind der Herr zufrieden?«, fragte Berthold.

»Sehr wohl.«

»Danke.« Berthold machte eine leichte Verbeugung.

Sein Freund Ludwig Liebenthal war weniger anspruchsvoll als Moritz und begnügte sich mit einer Erbsensuppe. »Die kann auch ohne Speck sein.«

»Nein, nicht doch, Sie sollen sich bei mir fühlen wie der Herr Baron von Kraschnitz. Also mit viel Speck.«

Die Suppe wurde aus Wasser, vorzeitig vom Baum gefallenen kleinen Kastanien, zerriebenen Blättern und Brennnesseln zusammengerührt, als Speck musste zerstückelte Kiefernborke dienen.

Ludwig Liebenthal, der ewig hungrig war, verzog das Gesicht. »Da ist ja nichts bei, was man wirklich essen kann.«

Berthold Kempinski zeigte sich bestürzt. »Oh, das tut mir unendlich leid, und ich bitte vielmals um Verzeihung. Kann ich Sie vielleicht milder stimmen, mein Herr, wenn ich Ihnen einen köstlichen Nachtisch und ein wohlschmeckendes Getränk serviere, ohne dass Ihnen das berechnet wird?«

Ludwig Liebenthal gab sich so hochnäsig wie der Landrat Gnadenfroh. »Ja, ich bitte darum.«

Berthold Kempinski ging in die Küche und erbettelte für den Freund aus dem Armenhaus eine Schale Grießpudding mit Kirschkompott und ein Glas mit Stachelbeersaft.

»Ich hoffe, Sie damit zufriedengestellt zu haben.«

»Sie hoffen nicht umsonst, mein Lieber.«

»Dann empfehlen Sie uns bitte weiter.«

Berthold Kempinski war glücklich, wenn die anderen zufrieden waren. Wie man sprach und wie man sich gab, hatte er sich bei den Festen abgesehen, die sein Vater hin und wieder veranstaltete, aber auch, wenn er von den Eltern ab und an in ein Restaurant mitgenommen wurde. Sein Vater belieferte viele Gaststätten im Landkreis Adelnau mit ungarischem Wein und mit Delikatessen vom Balkan und musste dementsprechend oft einkehren, um die geschäftlichen Kontakte zu pflegen.

Rosalie Kempinski freute sich über die Leidenschaft ihres jüngsten Sohnes und hätte ihn im späteren Leben gern als Gastwirt gesehen, der Vater aber war davon weniger begeistert. »Der Junge hat mehr im Kopf, als den Leuten Lungenhaschee an den Tisch zu bringen, der soll einmal studieren und was Besseres werden, wie oft soll ich das noch wiederholen, ein richtiger Arzt.«

Aus der Stadt Posen hatte man den Kommissarius Wilhelm Owieczek nach Raschkow geschickt, um den Mord an dem Regierungsreferendarius Sigismund von Schecken aufzuklären. Owieczek war 45 Jahre alt und voller Ehrgeiz, obwohl ihm ein Asthmaleiden die Karriere zu verbauen drohte. Bei den Ulanen hatte man ihn deswegen aussortiert. Wegen seiner Figur, die man schwerlich noch als untersetzt bezeichnen konnte, und seines ständigen Schnaufens hieß er bei seinen Kollegen nur »das Dampfross«.

Schnell hatte sich seine Anwesenheit herumgesprochen, aber obwohl viele Raschkower seine Nähe suchten, um ihre Bedeutsamkeit zu unterstreichen, tappte er auch nach drei Tagen intensiven Nachforschens noch immer völlig im Dunkeln. Neider und persönliche Feinde schien von Schecken nicht gehabt zu haben, zumal er erst zwei Wochen zuvor als Revisor in die Stadt gekommen war. Notizen hatte sich von Schecken keine gemacht, und Owieczek waren auch keinerlei Gerüchte zu Ohren gekommen, dass der Stadtkämmerer und der Bürgermeister vielleicht Gelder unterschlagen haben könnten, was ein Mordmotiv gewesen wäre. Die Deutschen hingegen flüsterten, dass die Polen es getan hätten, um ein Zeichen zu setzen: Noch ist Polen nicht verloren, und wir werden uns niemals mit der Fremdherrschaft in Posen abfinden. Doch auch hier verlief jede Spur im Sande. Lange hatte er einen gewissen Pjotr Klodzinski aus Ostrowo in die Mangel genommen, doch dessen Alibi war nicht zu erschüttern gewesen: Zur Tatzeit hatte er bei Friedrich Wilhelm von Kraschnitz gesessen und Rotwein getrunken. Zeugenaussagen gab es keine, fest stand nur, dass Sigismund von Schecken mit einer Axt erschlagen worden war und Berthold Kempinski seine Leiche gefunden hatte. Der Knabe war der Einzige, an den sich Wilhelm Owieczek halten konnte.

Und so war es nicht verwunderlich, dass Berthold auch an diesem Nachmittag wieder Besuch vom Kommissarius bekam.

»Junge, überleg’ doch noch einmal ganz genau, wem du …«, Owieczek musste kurz abbrechen, weil ihm die Luft wieder einmal knapp zu werden drohte, »… wem du beim Gang zum Referendarius alles begegnet bist.«

»Nur dem Lehrer Hohensee.«

»Ach, das ist doch ein alter Mann, der kann doch keine Kraft mehr haben, eine Axt zu schwingen.«

»Wenn er uns mit der Haselrute haut, dann beißt das aber ganz schön«, wagte Berthold Kempinski einzuwenden.

»Ist er denn aus der Richtung gekommen, wo der Referendarius gewohnt hat?«

»Nein, aus der anderen.«

»Na, siehst du.« Owieczek starrte Berthold an. »Und wenn du nun selber… Die Kraft hättest du wohl trotz deines Alters.«

Berthold Kempinski erstarrte. »Warum sollte ich denn …«

»Na, vielleicht braucht ihr Blut zu Hause, damit euer Wein eine bessere Farbe bekommt und nicht mehr so sauer schmeckt.« Owieczek lachte so dröhnend, dass ein Asthmaanfall die Folge war.