Der kalte Engel

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kapitel 7

Hertha Stöhr hasste es, so spät nach Hause zu kommen. Gleich 20 Uhr. Ihre alte Mutter saß zu Hause und war sicherlich wieder dabei, sich zu Tode zu ängstigen. Besonders jetzt, wo sie gerade diese Leiche gefunden hatten. Zerstückelt. Und es gab immer noch Volksgenossen, die sangen: Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir, und mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir … Entsetzlich. Immer wenn sie an Ruinengrundstücken vorbeikam, beschleunigte sie ihre Schritte. Sicherlich lagen überall ermordete Menschen. Oder der Täter war gerade dabei, jemanden umzubringen und so zu zerlegen, dass er ihn bequem in die Ruinenkeller werfen konnte. Wahrscheinlich ein Lustmörder. Zeiten waren das. Da war der Krieg vorbei, und dennoch lebte man weiterhin in Angst und Schrecken.

Hertha Stöhr war 62 Jahre alt und Kriegerwitwe. Wegen ihres Asthmas war sie frühzeitig in Rente gegangen. Sie hatte ein Leben lang bei der AEG gearbeitet, zuletzt als Stenokontoristin. Dort war sie sehr beliebt gewesen und wurde noch immer zur Weihnachtsfeier eingeladen. Wie heute auch. Deshalb war sie so spät noch unterwegs.

Sie wohnte im Hause Kantstraße 154a, das war auf der südlichen Seite der Straße, fast an der Ecke Fasanenstraße, ganz in der Nähe der zerstörten Synagoge und schräg gegenüber vom Delphi-Kino und dem Theater des Westens. Eine gutbürgerliche, zuweilen schon noble Gegend war das, und sie hatten sich das leisten können, weil ihr Mann als Bankbeamter nicht schlecht verdient hatte. Wenn auch vier Treppen hoch, wo die Miete etwas günstiger war. Aber immerhin. Dreieinhalb Zimmer, Küche und Bad. Ihre Mutter war am Bayerischen Platz ausgebombt worden und wohnte nun bei ihr. Im früheren Herrenzimmer. Im halben Zimmer schlief sie, und das große Wohnzimmer teilten sie sich. Das ehemalige Schlafzimmer konnte sie vermieten. So kam man ganz gut über die Runden.

Endlich hatte sie die Haustür erreicht. Bevor sie die Schlüssel aus der Tasche zog, sah sie sich nach allen Seiten um. Ob nicht ein Unhold auf sie zugestürzt kam? Nein. Sie schloss auf und drückte auf den Lichtschalter. Gott sei Dank gab es keine Stromsperren mehr. Vier Stockwerke hoch. Und das bei ihrem Asthma. Von ihrem Körpergewicht ganz abgesehen. Auch die Hungerjahre hatten sie kaum abmagern lassen. Sie war eben ein guter »Futterverwerter«. Also dachte sie mit Schrecken an den mühsamen Aufstieg. Wie gern hätte sie einen Fahrstuhl gehabt! Zwischen dem zweiten und dritten Stock hatte sie sich auf halber Treppe einen Stuhl hingestellt, um immer ein wenig verschnaufen zu können. Den dritten schon, die ersten beiden waren ihr geklaut worden. Dieser nun war mit einer Kette an der Wand befestigt.

Im Treppenhaus traf sie Frau Schütz, die Portiersfrau, auf Berlinisch: die Portjesche. Maria Schütz wohnte im ersten Stock und stand im Ruf, ein jedes Mal, wenn sie Schritte hörte, zum Türspion zu eilen und zu sehen, wer das Haus betreten hatte oder gerade verlassen wollte. Männer, die spätabends Damenbesuch nach Hause bringen wollten, hielten die Hand vor das tückische gläserne Auge in der Türfüllung, und die Kinder machten sich den Spaß, das Ding immer wieder zuzukleben. Andere freuten sich darüber, dass die Schütz so wachsam war. Gerade jetzt, wo so viel passierte. »Wer nichts zu verbergen hat, der braucht sich auch nicht aufzuregen.« Unglücklicherweise war die Portiersfrau geistig nicht besonders helle, manche meinten auch, sie hätte die Stufe zum Schwachsinn lange überschritten. »Die hat doch ’n Dachschaden, seit sie im Krieg einen Tag lang verschüttet gewesen ist.« Das brachte ihr auch einen »Freifahrschein« ein, wenn die Phantasie wieder einmal mit ihr durchging und sie den Mietern der Kantstraße 154a etwas andichtete, was gar nicht stimmte: dass jemand klaute oder andauernd betrunken war, Kinder in die Wohnung lockte oder ein abgetauchter Obernazi war.

»Guten Abend, Frau Schütz. Na, wie geht’s?« Hertha Stöhr war im Umgang mit der Schütz immer sehr vorsichtig. »Wieder viel Arbeit gehabt? Zum Glück war es ja mit dem Schnee noch nicht so schlimm dies Jahr.«

Die Portiersfrau sang erst einmal Schneeflöckchen, Weißröckchen, dann erklärte sie, dass sie nichts lieber habe als frisch gefallenen Schnee. »Da sieht man immer die Spuren: wer gekommen ist, wer gegangen ist.«

»Herzlichen Dank auch, dass Sie immer so gut auf alles aufpassen.«

»Jetzt erst recht, wo sich der Mörder hier in Berlin herumtreibt.«

»Hören Sie bloß auf!« Hertha Stöhr schüttelte sich.

»Stellen Sie sich mal vor, Sie liegen so zerstückelt in ’ner Ruine rum. Was das für’n Gefühl sein muss.«

Hertha Stöhr machte, dass sie weiterkam. »Ja, einen schönen Abend dann noch.« Immerhin hatte sie beim Plausch mit der Portiersfrau Atem holen können, so dass sie diesmal ihren Rastplatz nicht brauchte. Ihre Mutter, in diesem Jahr achtzig Jahre alt geworden, stand lauernd auf dem Flur und hatte die Tür schon geöffnet, lange bevor sie oben war.

»Hertha, bist du’s?«

»Nein, Mutter, mein Geist«, schnaufte sie.

»Hast du wieder getrunken?«

»Nur zwei Flaschen Weinbrand.«

»Kind!«

Hertha Stöhr stöhnte leise. Ihre Mutter vergaß immer wieder, dass »ihr Kind« nun selber schon Rentnerin war, und machte ihr jeden Tag dieselben Vorhaltungen. Hertha Stöhr küsste sie nur kurz auf die Wange und wollte sich dann an ihr vorbeischlängeln, um ihren Mantel aufzuhängen. Doch ihre Mutter hielt sie fest.

»Hertha, sieh mich an. Hast du dich wieder mit diesem Walter Kusian herumgetrieben?!«

»Mutter, ich war bei der AEG-Weihnachtsfeier.«

»Dieser Kusian ist ein böser Mensch. Man muss nur mal in seine Augen sehen. Ich erkenne jeden Menschen, wenn ich ihm in die Augen sehe.«

»Und wenn du seinen Personalausweis siehst, weißt du auch, wie er heißt.«

»Wie bitte?« Sie konnte ihrer Tochter nicht ganz folgen. »Ich habe dir doch verboten, dich mit diesem Kusian einzulassen.«

»Mutter, ich habe mich nicht mit ihm eingelassen, er hat mir nur einmal Brennholz gebracht. Balken aus den Ruinen, die er mit abgeräumt hat.«

»Und was hast du ihm dafür gegeben?«

Sie nahm ihre Mutter weiter auf den Arm. »Natürlich das, womit man Männer immer glücklich machen kann.«

»Kind!« Adelheid Nauendorf, frühere Katechetin, war entsetzt. »Ich muss mich deiner wirklich schämen. Obwohl du ein erwachsener Mensch bist, aber so etwas. So eine Schande. Lieber wäre ich erfroren.«

»Wieso ist es eine Schande, wenn man jemanden mit Zigaretten bezahlt? Ich rauche nicht, du rauchst nicht …«

»Wirklich nur mit Zigaretten?«

»Mutter, ich schwöre es dir.« Damit war diese Plänkelei beendet. Aber es war bestimmt noch nicht die letzte an diesem Abend. »Komm ins Zimmer, ich koche Tee, und dann machen wir’s uns gemütlich. Wir können Radio hören …«

»Ja: Mach mit.« Das war ein buntes Unterhaltungsquiz mit Ivo Veit, das eigentlich alle hörten.

»Das gibt’s erst morgen, am Sonnabend.« Sie blätterte im Telegraf, der Tageszeitung, die sie abonniert hatten. Doch ihre Mutter hatte, wie sich alsbald herausstellen sollte, die Seite mit dem Radioprogramm zum Feueranmachen verwendet.

»Ich geh’ nachher mal alle Sender durch.« Das waren auf der Mittelwelle aus dem Westen der RIAS und der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) und aus dem Osten der Berliner Rundfunk, der allerdings auch aus dem Westsektor sendete, aus dem Funkhaus an der Masurenallee unter dem Funkturm. »Vielleicht gibt es irgendwo etwas Spannendes.«

»Nein, da krieg’ ich nur noch mehr Angst. Vielleicht liegt bei uns im Keller auch schon eine Leiche.«

»Ja, da liegt eine tote … Ich hab’ Frau Schütz aber gestern schon gebeten, sie wegzuschaffen.«

»Eine Tote bei uns im Keller?«

»Ja, eine tote Ratte.«

Auf der Anrichte lag eine Traueranzeige. Am 12. November 1949 war die neue Untermieterin eingezogen und hatte sie wenig später hereingereicht. Plötzlich und unerwartet verschied unsere liebe Mutter … Die trauernden Hinterbliebenen Elisabeth Kusian, Dr. med. Charlotte Kühnel geb. Kusian, Studienrat Dr. Karl-Hermann Kusian, Prof. Dr. Johannes Kusian. Hertha Stöhr fragte ihre Mutter, warum sie die schwarz umrandete Karte immer wieder aus dem Schubfach nehmen würde. Weil das alle so »hochmögende« Menschen seien, die da trauerten.

»Ja, Hertha, mit der Frau Kusian haben wir einen guten Fang gemacht. Eine Krankenschwester im Haus ist wirklich Gold wert. Als ich neulich meinen Angina-Pectoris-Anfall hatte, da hat sie mir gleich das richtige Mittel gespritzt und mir womöglich das Leben gerettet. Ich war ja fast schon erstickt. Und ganz von sich aus hat sie mir das aus dem Krankenhaus mitgebracht. So ein herzensguter Engel.«

Auch ihre Tochter fand es sehr hilfreich, die Kusian in der Wohnung zu haben – wenn man schon vermieten musste, weil die Rente nicht reichte. Wenn Elisabeth Kusian zu Haus war und auf die Mutter aufpasste, konnte sie es schon mal wieder wagen, in Walterchens Ballhaus zu gehen. Nicht, dass sie die sprichwörtliche lustige Witwe war, aber vielleicht fand sich doch noch mal ein Mann. Ihr eigener war ja nun auch schon sechs Jahre tot. Vermisst jedenfalls. Aber … die Chance, noch einmal einen Mann fürs Herz zu finden, war geringer als die, im Toto zu gewinnen. Die Besten waren ja alle im Kriege geblieben. Meistens blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Frauen ihres Alters zu tanzen. Warum war sie nicht fünfzig Jahre früher auf die Welt gekommen? »Dann wärst du jetzt schon tot.« Auch ein Trost.

Sie ging in das Zimmer der Untermieterin, um noch ein Brikett nachzulegen. Früher war das ihr Herrenzimmer gewesen, durch eine zweiflügelige Tür mit dem Wohnzimmer verbunden. Diese war jetzt auf beiden Seiten mit einem Schrank zugestellt, und außerdem hatte ihr Tischler sogenannte Sauerkrautplatten dagegen genagelt, so dass man nicht hören konnte, was nebenan geschah. Ihre Mutter hatte es so gewollt.

 

»Ich würde mich zu Tode schämen, wenn ich das Liebesleben anderer Menschen verfolgen müsste.« Hertha Stöhr hätte gerade das sehr reizvoll gefunden, jedoch des lieben Friedens wegen schließlich nachgegeben. Aber eine »Tapetentür« war es dennoch geblieben.

Sonderlich feudal war das Zimmer nicht. Eine ausgeblichene Blümchentapete mit dem Grundton Mais, verwaschene Vorhänge in einem Altrosa, das mehr und mehr ins Graue überging. Ein schmales Bett und eine Auszieh-Couch. Kleiderschrank, Waschtisch, Schreibtisch – alles aus den ersten Jahren ihrer Ehe und ziemlich abgewohnt. Frisch war nur ein Tannenzweig mit einer roten Kerze. Die Untermieterin war eine sehr ordentliche Frau. Alles war aufgeräumt, auf dem Teppich lag auch nicht der kleinste Fussel. Eigene Sachen hatte die Frau Kusian kaum mitgebracht. Nur einen Wecker, einen kleinen Radioapparat, ein Foto, das einen Arzt vor einer großen Klinik zeigte und die Widmung Meiner geliebten Tochter Elisabeth trug. Dazu kamen natürlich Schuhe und Kleidung, aber auch da brauchte und hatte sie nicht viel, da sie ja zumeist ihre Schwesterntracht trug. »Eine einfache Frau mit einem großen Herzen«, sagte die Portiersfrau von der Kusian, und Hertha Stöhrs Mutter brachte die Bergpredigt mit ihr in Zusammenhang: »Selig sind die Barmherzigen …« Die Vermieterin kam sich richtig schäbig vor, dass sie der Kusian jeden Monat Geld abnahm.

Sie verließ das Zimmer und wandte sich zur Küche, um das Teewasser aufzusetzen. Ihre Mutter folgte ihr.

Hertha Stöhr stutzte. »Was ist denn das hier für’n Blutfleck unten am Küchenschrank?«

»Ich hab’ wieder Nasenbluten gehabt, Hertha. Mein Blutdruck ist wohl wieder zu hoch. Manchmal habe ich das Gefühl zu platzen.«

»Ja, natürlich: das fette Essen die letzten Jahre und dein Übergewicht.«

»Du Lästermaul, du!« Die Katechetin war dürr geworden wie eine Vogelscheuche. »Denke immer an Salomo 4, Vers 24: Tue von dir den verkehrten Mund und lass das Lästermaul ferne von dir sein.”

Hertha Stöhr musste auf eine Erwiderung verzichten, da an der Tür geschlossen wurde. Wenig später stand Elisabeth Kusian in der Küchentür. Selbstverständlich in Schwesterntracht. Man begrüßte sich herzlich.

»Möchten Sie auch eine Tasse, Schwester Elisabeth?«

»Ja, gerne. Wenn ich mich einen Moment setzen darf? Mit meine Beine, da …«

»Mit meinen Beinen«, wurde sie von der Katechetin verbessert.

»Entschuldigung. Aber meine Mutter war eine ungarische Gräfin, da haben wir nicht so gutes Deutsch gelernt.« Die Krankenschwester hing ihren Mantel an den Garderobenhaken und setzte sich dann auf einen der vier Küchenstühle. Sie stöhnte. »Wir hatten noch eine Notoperation … Eine junge Frau, aber nichts mehr zu machen.«

»Das Sie das alles so durchhalten!« Hertha Stöhr war voller Bewunderung.

»Was meinen Sie, was wir im Krieg alles durchmachen mussten?! Dagegen ist das im Robert-Koch-Krankenhaus das reinste Kinderspiel. Aber ohne Aufputschmittel geht es trotzdem nicht.« Sie öffnete ihre Handtasche und nahm eine Schachtel Zigaretten heraus.

»Fahren Sie denn Weihnachten zu Ihrer Familie?«, fragte die Vermieterin.

»Nein. Die treffen sich alle im Landhaus meines Bruders im Schwarzwald. Am Titisee. Mich wollen sie nicht dabeihaben, ich bin ihnen nicht standesgemäß.« Elisabeth Kusian wischte sich eine Träne aus den Augen. »Vielleicht kommt mein Schwager mich besuchen. Oder mein Kurt, wenn er keinen Dienst hat.«

»Ist er Arzt?«, fragte Hertha Stöhr.

»Nein. Leitender Kriminalbeamter.«

Die Katechetin horchte auf. »Untersucht er auch das mit den Leichenteilen vom Stettiner Bahnhof?«

»Ja, auch. Er hat viele Leute unter sich.«

»Gibt es denn schon eine Spur?«

»Über Dienstliches spricht er nicht mit mir. Er ist Witwer, und Kinder hat er auch keine.«

Hertha Stöhr lachte schelmisch. »Na, vielleicht gibt es noch eine Verlobung hier unterm Weihnachtsbaum?«

»Wer weiß …«

»Sie können hier in der Küche so viel backen und kochen, wie Sie wollen, Frau Kusian. Die Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen.«

»Ja, danke, gern. Wenn meine Zeit das zulässt. Ich muss ja auch noch Weihnachtsgeschenke kaufen gehen.«

»Schenken Sie doch Ihrem Bekannten Karten für die Neue Scala am Nollendorfplatz«, riet ihr Hertha Stöhr. »Da gibt es das Phantom der Oper mit Nelson Eddy.«

»Ich weiß nicht. Er ist mehr für das Praktische. Ich würde ihm ja gern einen neuen Herrenanzug schenken. 68,50 bei C&A. Aber den müsste er ja anprobieren, und dann ist das keine Überraschung mehr.«

»Was wünschen Sie sich denn, Schwester Elisabeth?«

»Ach …« Sie seufzte. »Nur, dass die alten Zeiten wiederkommen. Einmal wieder jung sein … Wie wir damals in Thüringen gefeiert haben. Da waren wir noch wer. Mein Vater hatte so viele dankbare Patienten, und Weihnachten haben sie in der Klinik immer kleine Stücke aufgeführt. Nun ja … Heute in der Zone, da ist ja alles enteignet.«

»Verzweifeln Sie nicht, Schwester Elisabeth.« Die Katechetin hatte Trost aus dem 2. Paulusbrief an die Korinther parat: »Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.”

»Apropos Stärke …« Hertha Stöhr gingen die religiösen Sprüche ihrer Mutter von Jahr zu Jahr mehr auf die Nerven.

»Wenn Sie Wäschestärke brauchen sollten, Frau Kusian, ich habe von meiner Cousine genügend geschenkt bekommen. Die hat eine Drogerie in Schöneberg. Steht alles im Badezimmer.«

»Herzlichen Dank. Sie sind so lieb zu mir.«

»Jeder so, wie er es verdient«, lachte Hertha Stöhr.

»So …« Elisabeth Kusian drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. »Dann werde ich mich mal in mein Zimmer zurückziehen.«

»Sie können auch gern zu uns kommen und mit uns Karten spielen.«

»Danke, sehr nett, aber ich möchte noch eine Runde ums Karree drehen, frische Luft schöpfen. Meine Kopfschmerzen. Ehe wieder eine Migräne daraus wird.«

Hertha Stöhr hob warnend die Stimme. »Passen Sie bloß auf nachts auf den Straßen. Der Kerl da … Dass Sie nicht auch zerstückelt in den Ruinen liegen.«

Kapitel 8

Gregor Göltzsch wollte eigentlich die Zeit zwischen Ladenschluss und Mitternacht nutzen, um mit seiner Inventur voranzukommen, doch immer wieder ließ er sich ablenken. Zumeist von der Reklame für Miederwaren, wie er sie in seiner Lesezirkel-Mappe fand. Was ihn aber noch stärker anheizte, war eine Reportage in einem schon leicht vergilbten Stern über Die »Fräuleins« von Celle. Während der Blockade hatten an die dreitausend von ihnen im Städtchen an der Aller gewartet, um den GI’s zu Diensten zu sein. »Hoch das Leben, hoch die Liebe …« Gin, Zigaretten, Schokolade und 1500 Mark Lohn im Monat waren eine gute Grundlage für einen vergnügten Abend, bevor die amerikanischen Piloten am nächsten Morgen mit ihrer Skymaster wieder in die eingeschlossene Frontstadt fliegen mussten. A very risky job. Come on, baby!

Göltzsch öffnete seinen Wandtresor und erfreute sich an den gebündelten Scheinen, die er dort angehäuft hatte. Das hätte x-mal gereicht, um in eine Bar zu gehen und sich das teuerste Mädchen Berlins ins Bett zu holen. »Verdammt, ich hab’s wieder mal nötig.« Schon aus medizinischen Gründen, um keinen Krebs zu kriegen. Seine Hoden schmerzten, und sein andauernd erigierter Penis hatte sich am rauen Stoff der Unterhose schon rot und wund gerieben. Es selber auszulösen, verbot er sich. Dafür hatte er als Kind von seiner Mutter, waren die Flecke in Nachthemd oder Bett entdeckt worden, zu viel Prügel bezogen. Dachte er daran zurück, verging ihm jede Lust. Auch das Rückenmark wurde vom Onanieren angegriffen. Ein Mann hatte seinen Samen auf natürliche Art und Weise loszuwerden, das heißt beim ehelichen Beischlaf. Was aber, wenn die Ehefrau seit vielen Wochen in der Klinik lag, um zu verhindern, dass sie ihr Kind verlor? Natürlich stimmte es nicht, was sie sich in der Schule erzählt hatten: dass der Samen, floss er unten nicht ab, langsam nach oben stieg und das Gehirn zersetzte – und dennoch hatte Gregor Göltzsch gerade dieses Bild immer wieder vor Augen. Als ihn ein alter Freund anrief, brachte er es auf den Punkt: »Helga geht’s gut, aber ich leide langsam unterm Samenkoller.« Gute Ratschläge, wie kalt zu duschen oder sich »Hängolin« ins Essen zu tun, also Soda, halfen auch nicht viel, und Kinobesuche machten die Sache nur noch schlimmer, denn Filme ohne Frauen gab es nicht. Also stürzte er sich wieder in die Arbeit.

Auf der Kantstraße rollte eine Straßenbahn vorüber, die an der Dachkante die Reklame seiner Firma trug: Möbel von GG

– eine Pfundsidee. Es lohnte sich, denn langsam begannen die Leute wieder zu kaufen. Auch in Berlin. Die neue D-Mark machte es möglich. Mochte die Fresswelle auch noch nicht zu Ende sein, so dachte man doch auch schon wieder an seine Wohnungseinrichtung. Da gab es einen wahnsinnigen Nachholbedarf. Besonders Sofas und Sessel waren furchtbar verschlissen. Und war jemand ausgebombt worden, so lebte er zumeist inmitten von Möbeln, die ins Museum oder in den Ofen gehört hätten. Nun aber ging alles wieder aufwärts, nun konnte man auf das Wirtschaftswunder hoffen. Bald schossen die Neubauten wie Pilze aus dem Boden, und wer jetzt noch möbliert in Untermiete wohnte, der brauchte morgen neue Schränke, Kommoden, Tische, Stühle und Sitzgarnituren. Göltzsch wusste, dass die Jahre, die jetzt kamen, goldene sein würden. Für ihn jedenfalls. Was aber sein augenblickliches Problem auch nicht lösen konnte, das Gefühl, »unten herum« ganz einfach zu platzen.

Er stand auf und hoffte, dass sich sein Druck verringern würde, wenn er sich bewegte. Nein, tat er nicht. Im Gegenteil, denn seine Buchhalterin hatte auf der Aktenablage eine Zeitung mit einer großformatigen Anzeige von C & A Brenninkmeyer liegen lassen: Start in den Herbst – Ein Kleiderkauf wird immer zum Vergnügen. Abgebildet war eine glückliche Familie – Vater, Mutter, Sohn –, die im Wald spazieren ging. Gregor Göltzsch stellte sich nun vor, wie er der Frau den Mantel auszog und entdeckte, dass sie nichts darunter trug. Jetzt war seine Phantasie nicht mehr zu bremsen. Sie lief davon, er ihr hinterher. Sie kamen in einen Garten, in dem eine leere Wäscheleine hing. Er blieb an ihr hängen, riss sie herunter und nahm sie mit, um im Laufen eine Schlinge zu binden und die Leine zu einem Lasso zu machen. Ein Wurf – und die Frau war gefangen, war seine Gefangene. Als sie sich wehrte, zog er die Schlinge zu und drang von hinten in sie ein. Seine Lust war gigantisch, war einmalig, war unvorstellbar. Er schrie auf, so sehr zerriss es ihn. Polizisten rissen ihn hoch. Er sah die Schlagzeilen in den Zeitungen: Ein Möbelhändler als Lustmörder.

Er schlug sich mit den Händen gegen die Schläfen, rechts, links, um die Bilder zu verscheuchen. Zugleich waren es Ohrfeigen. Als Strafe dafür, dass er derart Unzüchtiges gedacht hatte. »Du musst dich irgendwie ablenken!« War er zu lange allein, sprach er oft selber mit sich, wobei er aber keine Dialoge führte, sondern sich immer nur Befehle gab und dabei die Diktion seiner Mutter nachahmte.

Wo war das Buch geblieben, das ihm seine Frau geschenkt hatte? »Damit du an deinen einsamen Abenden was zu lesen hast.« Doch er las nicht gerne Bücher, höchstens Kriminalromane. Oben auf dem Grammophonschrank lag es. Julius Stinde, Die Familie Buchholz. 1883 erschienen und mächtig vergilbt. Ein Erbstück oder antiquarisch. Er verzog das Gesicht. Kleopatra hätte er gebraucht oder etwas über eine große Kurtisane.

Er ging in den Ausstellungsraum, wo er gleichsam unter öffentlicher Kontrolle stand, denn die Jalousien waren noch nicht heruntergelassen. Die abendlichen Spaziergänger sollten ja stehenbleiben und sich durch die ausgestellten Stücke anlocken lassen. Doch zum Flanieren war es den Leuten wohl zu kalt, alles hastete vorüber, zur Straßenbahnhaltestelle, zum Bahnhof Zoo. Niemand interessierte sich für seine Schaufenster. Göltzsch ließ sich in einen Sessel fallen, von dem aus er die Kantstraße Richtung Zoo am besten im Blickfeld hatte. Paare gingen vorüber, und die Nylonbeine der Frauen schimmerten im Licht der Straßenlaternen. Er dachte sich die Nähte hinauf … die Strumpfbänder … das nackte Fleisch … der Hüfthalter … die Schlüpfer … Sie waren weit geschnitten, und man konnte leicht mit den Fingern hineinfahren … Er schloss die Augen, damit die Bilder noch lebendiger wurden.

 

Als er sie wieder öffnete, stand eine Frau vor seiner Schaufensterscheibe und musterte ihn, sich wohl fragend, ob sie da einen Menschen vor sich hatte, der gerade eingeschlafen war, oder eine Schaufensterpuppe. Ihr Kopftuch war ihr im Wege. Sie schob es zur Seite und suchte es hinter den Ohren zu fixieren. Ihre Blicke trafen sich. Was ihn elektrisierte, waren die Augen der Frau. Im Licht der Deckenstrahler funkelten und glitzerten sie wie zwei nahe beieinanderstehende Sterne am dunklen Firmament. Da waren nur Augen und gar kein Gesicht. Sie ließen alles andere verschwinden. Er kannte das nur von Schauspielerinnen, wenn sie vorne an der Bühne standen. Nachdem sie sich vorher Belladonna in die Augen geträufelt hatten. War die Frau eine solche Schauspielerin, kam sie gerade aus der Vorstellung? Glühte es noch immer in ihr, suchte sie jemand, mit dem sie etwas trinken gehen konnte, um die Erregung langsam abklingen zu lassen? Oder war es nur die Garderobenfrau, die hohes Fieber hatte? Er musste es herausfinden. Er stürzte zur Tür. Der Schlüssel steckte im Schloss. Sie war weitergegangen und kam gerade an seiner Tür vorbei, als er sie aufgezogen hatte.

Er verbeugte sich leicht. »Schönen guten Abend. Womit kann ich dienen?«

Sie war einigermaßen verwirrt. »Sie haben doch schon lange zu …«

»Für ganz besondere Kundinnen haben wir bis Mitternacht geöffnet.«

»Ich habe kein Geld, ich wollte ja nur mal …«

Gregor Göltzsch war ein guter Verkäufer und so charmant wie die Männer in den alten Ufa-Filmen. »Aber gnädige Frau, bei mir haben Sie doch immer Kredit. Womit wollen Sie denn den Herrn Gemahl zum Weihnachtsfest überraschen?«

»Ich habe keinen Mann, ich bin Kriegerwitwe.«

»Oh, Pardon.« Göltzsch konnte auf Knopfdruck so voller Mitleid sein wie ein professioneller Trauerredner in der Friedhofskapelle. »Das tut mir aber leid. Da haben Sie es sicher schwer, ihre Kinder durchzubringen, so ganz allein …«

»Die Kinder sind im Heim.«

Gregor Göltzsch zog nun alle Register, um die Frau mit dem Kopftuch zu erobern. »Und Sie suchen sicherlich eine Stellung. Das trifft sich gut, denn ich bin gerade auf der Suche nach einer tüchtigen Verkäuferin …«

»Ich bin Krankenschwester.«

»Schade …« Göltzsch hatte sie inzwischen ausgiebig gemustert. Ihre Figur gefiel ihm. Er mochte Frauen, die kraftvoll und energisch waren. Und wild auf Männer. Was man sich da von Krankenschwestern alles erzählte. Sicherlich war auch diese hier so mannstoll wie die anderen. Wäre sie sonst stehen geblieben, hätte sie sich sonst ansprechen lassen? Nein. Diese Überlegung gab Göltzsch den Mut zur direkten Attacke. »Das ist so kalt hier draußen. Kommen Sie doch ’n Moment rein zu ’ner Tasse Kaffee und erzählen Sie mir ein bisschen von sich. Von der Arbeit im Krankenhaus, von Ihren Kindern …«

»Wo denken Sie hin? Ich bin eine anständige Frau!«

Da hatte er so seine Zweifel, denn wenn es wirklich an dem gewesen wäre, hätte sie nicht hier gestanden. Außerdem sah er Furchen in ihrem Gesicht, die viel verrieten: von Ausschweifungen, von Fleischeslust und Wollust. Sein Vater hatte ihn immer vor Frauen wie dieser gewarnt: »Junge, sie saugen dir das Mark aus den Knochen und treiben dich in die Pleite, denn sie kosten und kosten.« Nun, wenn dem so war, konnte es nur einen Köder geben: Geld. Und so beugte er sich ein wenig zu ihr hin. »Ich sehe, dass Sie finanzielle Sorgen haben. Da kann man leicht Abhilfe schaffen …«

»Ich bin doch keine Nutte!« Damit ließ sie ihn stehen, bog um die Ecke und lief mit schnellen Schritten die Kantstraße hinauf.

Gregor Göltzsch nahm seinen Mantel vom Haken, schlüpfte hinein, schloss seinen Laden ab und folgte ihr. Er hatte früher als Schürzenjäger gegolten und sich den sicheren Instinkt dafür bewahrt, ob eine Frau zu haben war oder nicht. Bei dieser hier war er sich absolut sicher. Dieses Flackern in den Augen, diese Gier nach stürmischer Umarmung. »Die will einen drin haben«, dachte er. »Die hat es genauso nötig wie ich.« Er war wild entschlossen, sich diese Beute nicht mehr entgehen zu lassen. Sie mochte einen Vorsprung von etwa achtzig Metern haben. Das war nicht viel. Hinter der Fasanenstraße würde er sie eingeholt haben. Und dann …

Mit jedem Schritt wurde er ein anderer Mensch. Eine dunkle Macht gewann mehr und mehr die Herrschaft über ihn und bestimmte sein Tun. Er hörte keine Stimmen, die ihm Befehle gaben, und es war ihm völlig rätselhaft, woher die Impulse kamen, die ihn von nun an steuerten: Hol sie ein, geh mit ihr nach oben auf ihr Zimmer, wirf sie zu Boden, würge sie, nimm sie, töte sie! Das ist die höchste Lust, die du erleben kannst.

Er wehrte sich dagegen. Ich bin glücklich verheiratet, Anfang nächsten Jahres bin ich Vater und … Es half nichts. »Herr, hilf mir, rette mich vor mir selber!« Er war streng religiös erzogen worden und hoffte, der Herr würde jetzt etwas geschehen lassen, das ihn noch aufhielt: dass die Ruinen vor ihm in sich zusammenstürzten und ihm die Trümmer den Weg verstellten, dass ein amerikanischer Jeep neben ihm hielt und ihn die Military Police nach seinem Ausweis fragte, dass er ausglitt und sich das Handgelenk brach … Doch nichts von alledem geschah. Seine Erregung wuchs mit jedem Meter, den er zu ihr aufschloss …