Das Duell des Herrn Silberstein

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»Ab 1820 war er ja Regierungsrat in Danzig, anschließend Oberpräsidialrat in Königsberg, um dann ab 1831 hier in Berlin im Kultusministerium tätig zu sein.« Aaron Silberstein sagte dies in Richtung seiner charmanten Tischnachbarin. »Und wie lange sind Sie in Berlin?«

Jason Silberstein, der mitgehört hatte, lachte. »Seit dem Moment ihrer Zeugung.«

»Onkel!« Aaron Silberstein konnte nicht anders, als erheblich zu erröten.

Charlotte Chaumont tat so, als hätte sie den Zwischenruf gar nicht vernommen. »Wie lange ich in Berlin bin? Ich bin hier auf die Welt gekommen.«

»Oh, Pardon!« Aaron Silberstein beeilte sich, zu Eichendorff zurückzukehren, und wandte sich dabei an Wilhelm Raabe. »Sie, der Sie selber Dichter sind, müssten das doch am ehesten einschätzen können, wie sehr er unter dem ungeliebten Beamtendasein gelitten hat, wie schmerzlich ihn der doppelte Verlust getroffen hat: einmal den der Heimat, Schloss Lubowitz in Oberschlesien, dann auch jenes unbeschwerten Lebens, wie es so nur der Landadel führen konnte. Unauslöschliche Unzufriedenheit soll ihn ausgefüllt haben, wurde mir von Menschen gesagt, die ihn länger kannten.«

»Ach!«, rief seine Mutter. »Er war tief religiös, und er hat voll und ganz an die Macht der Poesie geglaubt, das hat ihn getragen.«

Und es war Charlotte Chaumont, die ein Gedicht Eichendorffs vortragen konnte: »Gleichheit. – Es ist kein Blümlein nicht so klein, / Die Sonne wird’s erwarmen, / Scheint in das Fenster mild herein / Dem König wie dem Armen, / Hüllt alles ein in Sonnenschein / Mit göttlichem Erbarmen.«

»Gleichheit – ausgerechnet er!« Da konnte Jason Silberstein nicht mehr an sich halten und begann, heftig gegen Eichendorff zu polemisieren. »Ein Philister ist er gewesen, ein fürchterlicher Reaktionär. Die Pressezensur hat er gelobt, ein banales Leben hat er geführt, nichts getan, um den Mehltau hinwegzupusten, der über Deutschland liegt. Kein Mitleid mit den Entrechteten, kein Wort über Schweiß und Mühe, die Arbeit als solche.«

»Das muss gerade einer wie du sagen«, murmelte sein Bruder.

Jason Silberstein ließ sich nicht beirren. »Und seine Reime erst. Biedermeierliche Butzenscheibenpoesie, nichts weiter. Herz und Schmerz, Lust und Brust, Wald und schallt, Armen und erwarmen.«

»Hab Mitleid mit ihm«, sagte seine Schwägerin und kam nun selber mit einem Eichendorff-Gedicht: »Und keiner kennt den letzten Akt / Von allen, die da spielen, / Nur der da droben schlägt den Takt, / Weiß, wo das hin will zielen.«

»Wer ist das: der da droben?«, fragte Jason Silberstein. »Der Gott der Juden, der Christen, der Mohammedaner, der Indianer oder der Menschen auf den Fidschi-Inseln?«

»Es gibt schon Unterschiede«, sagte Katharina Rosentreter, indem sie in Richtung des Mannes blickte, mit dem sie sich verlobt fühlte. »Auch wenn es nur den einen Gott geben sollte, so ist es doch etwas ganz anderes, ob man als Jude, Katholik, Protestant, Mohammedaner oder Buddhist durchs Leben geht. Und wer da querbeet heiratet, wird es immer bereuen.«

Weil ihm diese Bemerkung mehr als peinlich war, lenkte Aaron Silberstein das Gespräch schnell auf das Allgemeine, auf den Pantheismus, auf die Berliner Haskala, auf die Freundschaft zwischen Lessing und Moses Mendelssohn und das Modell »Nathan der Weise«.

Danach war das Souper beendet, und die Damen begaben sich in die Bibliothek, um über die neueste Mode wie die Skandale an den Berliner Bühnen zu diskutieren, während sich die Herren ins Rauchzimmer zurückzogen. Viele in Berlin, ob hoch oder niedrig, liebten es, den Duft der virginischen Blätter mit Wohlbehagen in die Lungen zu ziehen und wieder auszustoßen.

»Wo man raucht, da magst du ruhig harren, / Böse Menschen rauchen nie Zigarren«, sagte Friedrich Silberstein und hielt seinen Gästen eine Kiste hin, die er sich aus Kuba hatte kommen lassen.

Sie hatten kaum ihren Rauchgenuss beendet, da wurden sie von Sarah Silberstein in den Salon zurückgerufen. Dort hatte inzwischen Julius Linde, der Puppenspieler, seine kleine Bühne aufgebaut. Begonnen hatte er mit seinen Handpuppen und Marionetten in anrüchigen Kneipen, sich dann aber über bessere Lokale bis zu einem Engagement bei Kroll hochgearbeitet und war schließlich Direktor und Regisseur des Liebhabertheaters Amicitia im Restaurant Königsbank in der Großen Frankfurter Straße geworden. Seine größte Entdeckung war Carl Helmerding, einer der berühmtesten Schauspieler seiner Zeit. »Ick habe Helmerdingen uff de Bühne jebracht, ick hab’n anjelernt. Wat er kann und is, hat er von mich«, hatte er auch heute gesagt.

Sarah Silberstein stellte Linde nicht als Mimen, der er auch war, sondern als Puppenspieler vor. »Und er ist ein Meister darin, toten, hölzernen Figuren Bewegung und damit Leben zu geben. Mit rapider Schnelligkeit muss er sein Organ wechseln und selbst weibliche Stimmen nachahmen, um die oft drei Figuren, die er zu gleicher Zeit mit den Händen dirigiert, charakteristisch auseinanderzuhalten. Außerdem muss er den nötigen Humor mitbringen, um auf die Zurufe einzugehen, die aus dem Publikum kommen. Seine Figuren, Helden und Prinzessinnen, Teufel, Bösewichte und galante Liebhaber, fertigt er mit eigener Hand. Seine Manuskripte füllen ganze Schränke. Sagen, Märchen, Dramen, Opern und Ballette sind es, ja sogar der Doktor Faust. Heute wird er uns mit einem volkstümlichen Stück erfreuen: Aschendrödel von Dr. Grübelmeier.« Sie nahm einen Theaterzettel zur Hand. »Personen: Flötenseufzer, Hullerdebuller, der chronologische Professor Hirnbostel, der Zeremonienmeister Kriechmeier und Aschendrödel, Tochter aus erster Ehe, sanguinische Weiblichkeit und pure hölzerne Unschuld.«

Doch kaum war der Vorhang von Julius Lindes kleiner Bühne aufgegangen und hatte der Künstler die ersten Worte gesprochen, da kam Unruhe auf, denn soeben war der letzte der geladenen Gäste erschienen, der Komponist und Musiker Louis Lewandowski, und das, was er als Grund seiner Verspätung angab, war geeignet, Friedrich Silberstein jede Höflichkeit Linde gegenüber vergessen zu lassen.

»Ich komme gerade von der Sitzung«, flüsterte Lewandowski. »Sie wollen eine neue Synagoge in der Oranienburger Straße bauen, und es soll eine Ausschreibung geben.«

»Das ist die Chance meines Lebens!«, rief Friedrich Silberstein.

Kapitel 6

DAS JAHR 1857 war angebrochen. Irgendwie lag der Beginn einer neuen Ära in der Luft, in der Berlin eine große Industriestadt, wenn nicht gar die europäische Metropole werden sollte. Doch man kam in allem nur langsam voran, ging es nun um die Eingemeindung der nördlichen Teile Schönebergs und Tempelhofs oder Moabits und des Weddings oder die Modernisierung der Kanalisation und des Verkehrswesens, die Errichtung von Krankenhäusern und Schulen und die Anlage großer Parks, so in Treptow und südlich des Gesundbrunnens.

Die jüdische Gemeinde in Berlin war, insbesondere wegen des Zuzugs aus Osteuropa, so stark angewachsen, dass man eine große Synagoge benötigte. Der König hatte sich nicht lumpen lassen und für den Bau ein ausreichend großes und repräsentatives Gelände vorgeschlagen, einen Platz zwischen Spree und Cöpenicker Straße, etwas östlich der Brückenstraße, in der Luisenstadt also. Die Sache hatte nur einen Haken: Hier wohnten keine Juden, und man hätte zum Gebet einen weiten Weg zurücklegen müssen. Die Gemeinde lehnte deshalb dankend ab und beschloss, lieber auf einem großen Grundstück zu bauen, das sie im Spandauer Viertel besaß. In dieser Gegend wohnten nicht nur viele Glaubensgenossen, sondern man unterhielt auf dem fünfeckigen Areal zwischen Oranienburger-, Artillerie-, August-, Großer Hamburger Straße und der später nach dem Oberbürgermeister Heinrich Wilhelm Krausnick benannten Straße auch schon ein Krankenhaus.

Im April 1857 wurde ein Wettbewerb für den Bau der Neuen Synagoge ausgeschrieben. Der Vorsitz wurde keinem Geringeren als Eduard Knoblauch übertragen, der als einer der erfolgreichsten Privatarchitekten seiner Zeit galt und eine Menge Meriten vorzuweisen hatte. Vorstand des Architekturvereins war er, Mitglied der Akademie der Künste, Reorganisator der Bauakademie und stellvertretender Stadtverordneter.

Friedrich Silberstein war darauf erpicht, den Auftrag zum Bau der Neuen Synagoge zu erhalten, war doch damit viel Geld zu verdienen. Aber nicht nur das, sondern auch ein gewisses Maß an Unsterblichkeit konnte er erringen. Denn gelang ihm der große Wurf, würden noch Jahrhunderte später die Menschen bewundernd vor seinem Bau stehen bleiben. Viele Stunden des Tages verbrachte er jetzt in seinem Arbeitszimmer und arbeitete am Entwurf der Neuen Synagoge. Doch alles, was er bisher zu Papier gebracht hatte, gefiel ihm nicht. Sein Sohn, der von seinen Schwierigkeiten wusste, meinte, es würde daran liegen, dass ihm Visionen fehlten.

»Denk daran, es soll keine Hütte für ein paar verstreute Juden in der Diaspora werden, sondern ein vergleichsweise riesiges Gebäude für eine Gemeinde, die ungeheuer wachsen wird, wenn Berlin erst die Hauptstadt aller Deutschen ist. Und die wird es werden, wenn die Hohenzollern die Habsburger ausgestochen haben und ihren Wilhelm den Soundsovielten zum deutschen Kaiser gemacht haben.«

»Mir ist jede Gigantomanie zuwider!«

Dennoch machte sich Friedrich Silberstein daran, in einer größeren Dimension zu denken. Aber die Gebäude, die nun auf dem Skizzenblock entstanden, waren unstrukturiert und glichen großen Schuhkartons. Der entscheidende Geistesblitz wollte sich nicht einstellen. Ruhelos wanderte er vom Fenster zur Tür und zurück von der Tür zum Fenster. Hin und wieder blieb er vor dem Ölgemälde stehen, das er gerade gekauft hatte: Lavater und Lessing besuchen Moses Mendelssohn. Es stammte von Moritz Daniel Oppenheim, dem ersten jüdischen Maler in Deutschland. Links saß der berühmte jüdische Philosoph, der sich mit der linken Hand grüblerisch den Kinnbart zwirbelte und eine ziegelrote Jacke trug, ihm gegenüber war, ebenfalls sitzend, Johann Kaspar Lavater platziert, der lutheranische Theologe aus der Schweiz. Er war dunkel gekleidet und hatte die linke Hand auf einem aufgeschlagenen Buch liegen, der Bibel wohl. Zwischen beiden stand gravitätisch Gotthold Ephraim Lessing. Seine linke Hand hatte er auf die Hüfte gestützt, die rechte lag auf der Lehne eines Stuhles. Es schien so, als sei er der Schiedsrichter beim Streitgespräch der beiden. Nicht ganz sicher war, ob sein strenger Blick auf den Gesichtern der Streitenden ruhte oder auf das Schachspiel gerichtet war, das auf dem Tisch zwischen ihnen stand und einen leichten Vorteil für Weiß erkennen ließ, also für die Steine auf Moses Mendelssohns Seite. Aus einem Raum, den goldener Glanz erfüllte, kam eine Frau mit einem reich bestückten Tablett.

 

Friedrich Silberstein hätte sich am liebsten zu den drei großen Geistern gesetzt und sich von ihnen beraten lassen. »Nun …« Er seufzte. In Ermangelung dieser Möglichkeit blieb ihm nichts anderes, als in seiner Bibliothek nach Anregungen aus anderen Zeiten und fremden Ländern zu suchen. In den Büchern, die er zur Hand nahm, stieß er immer wieder auf die Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Legionäre des römischen Kaisers Titus. Im Jahre 70 nach christlicher Zeitrechnung hatten sie ihn niedergebrannt und damit das Leben der Juden entscheidend verändert. Man musste sich erst vergewissern, dass mit dem Ende des Ersten Tempels nicht auch das Ende des jüdischen Volks gekommen war. Ohne ihren Tempel hatten die Priester ihre Macht verloren, die Tora genoss nun die größte Autorität – und mit ihr die Schriftgelehrten, die sie auslegen konnten. Gebete ersetzten den Opferdienst im Tempel, und die Gemeinde suchte sich einen Ort, um zu diesem Zweck zusammenzukommen: die Synagoge. Sie war kein kleiner Tempel, sondern hatte andere Funktionen zu erfüllen. Sie war Zentrum für das individuelle Studium der Tora und ihr öffentliches Lesen, Sitz der Verwaltung der Gemeinde und ihres Gerichtshofs, Ort für öffentliche Bekanntmachungen und Sammelstelle für die Armenhilfe. Noch im ersten Jahrhundert nach Christus war sie zum Wahrzeichen und zum Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde geworden. Immer in der Hoffnung, Anregungen zu finden, suchte Friedrich Silberstein nach Bildnissen und Beschreibungen früher Synagogen.

Das Erste, das er fand, zeigte die Ruinen der Synagoge von Sardis, gelegen in Lydien, unweit von Ephesos. Alles schien ihm sehr griechisch und für Berlin, wo man dem Klassischen nahe stand, vielleicht nicht die schlechteste Idee.

Mehr orientalisch geprägt waren die Synagogen, die seine Vorfahren zwischen dem vierten und dem siebenten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung in Palästina errichtet hatten. Prachtvolle Bauwerke waren da entstanden, zweistöckig, aus zugeschlagenen Steinen errichtet und mit einer imposanten Fassade, die schon von weit her sichtbar war. Am liebsten hätte Friedrich Silberstein die Synagoge von Kefar Nachum, von Kapernaum, in der Oranienburger Straße nachgebaut, doch das hätte nur einen tieferen Sinn ergeben, wenn ihr Eingang nach Jerusalem gewiesen hätte, was sich aber unmöglich arrangieren ließ.

Orientalisch oder nicht – das war hier die Frage. Ob es ins Gewicht fiel, dass Friedrich Wilhelm IV. eine Vorliebe für diesen Stil nachgesagt wurde? Das Dampfmaschinenhaus in Potsdam, vom Kollegen Persius erbaut, liebte er ja. Besonders Albert Rosengarten in Kassek hatte sich vehement gegen orientalische Formen ausgesprochen und für deutsche beziehungsweise europäische plädiert. Einige Kollegen sagten es ganz deutlich: »Der deutsche Jude muss im deutschen Staate auch im deutschen Stile bauen.« Hm … Die vor Kurzem vollendeten Synagogen in Mainz und Leipzig waren zwar maurisch gehalten, aber in Köln war der Dombaumeister Ernst Zwirner am Werke, der gotisierende Formen favorisieren sollte.

Aus der Zeit der Synagoge von Kapernaum stammte auch ein anderer Typ der Synagoge, der die Struktur einer Basilika hatte und den Kirchen des Ostens ähnelte. Langgestreckte Gebäude waren es, mit Säulen auf beiden Seiten, die das Innere in ein rechteckiges Mittelschiff und zwei Flügel teilten. Auch hier schüttelte Friedrich Silberstein den Kopf: Wie eine griechisch-othodoxe Kirche sollte seine Berliner Synagoge nun wahrlich nicht aussehen.

Von der berühmten Ben Esra Synagoge in Fostat, nahe dem alten Kairo, wie auch den Synagogen in Córdoba und Worms fand er keine Abbildungen, und die in Regensburg erinnerte ihn zu sehr an einen Klosterbau. Die Ahrida-Synagoge in Istanbul gefiel ihm da schon besser, doch war sie zu klein, und übertrug man ihre Proportionen auf die Oranienburger Straße, verlor sie all ihren Charme.

Als Vorbild für Berlin schienen ihm am ehesten noch die Neue Synagoge in London und die Große Synagoge in Wilna zu taugen. Aber dort hinzufahren und sie selber in Augenschein zu nehmen hätte zu viel Zeit gekostet.

Am meisten Aufsehen hätte hier in Berlin sicherlich eine Kopie der Synagoge in Curaçao erregt. Das war schönster Kolonialstil, aber ein Eckhaus und hätte als bloße Fassade kaum gewirkt.

Besonders anheimelnd wirkte auf ihn die Alte Synagoge in Metz, aber Berlin sollte ja der Zukunft zugewandt sein.

So blieb ihm nur, mit Goethe zu murmeln: »Da steh ich nun, ich armer Tor, / Und bin so klug als wie zuvor.« Wenn er doch nur gewusst hätte, was sich die Konkurrenten hatten einfallen lassen, Rana zum Beispiel. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, einen Spion anzuheuern und ihn zu Rana zu schicken. Aber wen? Und was hätte es gebracht, den Entwurf des verhassten Konkurrenten einfach zu kopieren?

Er hoffte, dass ihm zwei Gläser Rotwein zum entscheidenden Einfall verhelfen konnten, doch auch nach Leeren der halben Flasche blieb der ersehnte Geistesblitz aus. So entschloss er sich, auf einem Skizzenblock festzuhalten, was für eine Synagoge unentbehrlich war. Vielleicht kam er über diesen Umweg zur Lösung seines Problems: vom Inhalt zur Form.

Alles in einer Synagoge hatte auf Almemor und Heilige Lade ausgerichtet zu sein. Der Almemor – oder die Bima – war ein Tisch, von dem aus die Tora verlesen wurde. Die Beleuchtung, sowohl das Licht, das durch die Fenster fiel, wie auch das der Lampen, sollte so beschaffen sein, dass der Almemor besonders hervorgehoben wurde. Der Tisch musste so groß sein, dass man die Torarollen darauf ausbreiten konnte. Hinzu kam das Almemorgitter, dessen Form und Materialien beliebig waren.

Die Heilige Lade war ein Behälter, in dem die Torarollen aufbewahrt wurden. Sie befand sich, freistehend oder in einer Nische, an der Ostwand und war von einem Vorhang verhüllt.

Zudem war an Sitzgelegenheiten, an ein Waschbecken zur Reinigung der Hände vor dem Gebet und an Lesepulte zur Aufbewahrung der Gebetbücher, -schals und -riemen zu denken. Nicht zu vergessen war außerdem der Frauenbereich.

Sosehr er sich auch auf die Innenausstattung konzentrierte, es erschien vor seinem geistigen Auge keine äußere Hülle, die einzigartig jüdisch war. Immer war es mehr eine christliche Kirche oder eine Moschee, wenn nicht gar eine Bahnhofshalle.

Friedrich Silberstein fluchte leise vor sich hin und sah es als Erlösung, dass sein Sohn an die Tür klopfte und rief: »Vater, die Neue Jacobstraße, Schultheiss!« Das war nun nicht etwa eine Einladung zu einem kühlen Bier, sondern die Ermahnung, sich von seiner Arbeit loszureißen und zur Einweihung seines jüngsten Bauwerks zu eilen. Vor fünf Jahren hatte der Geschäftsmann Jobst Schultheiss einem Apotheker seine kleine Brauerei mitsamt angeschlossener Bierstube abgekauft. Seither hatte sich die Schultheiss-Brauerei in der Louisenstadt prächtig entwickelt, und der dynamische Unternehmer war darangegangen, die beiden Nebenhäuser zu erwerben und sie von Friedrich Silberstein zu einem Gartenlokal umbauen zu lassen.

»Statt eine Synagoge zu bauen, baut er nun einen Biertempel«, hatte sein Bruder Jason gelästert. »Aber vielleicht lässt du dich von einem Bierglas zu einem schönen Rundbau anregen.«

Diese Bemerkung hatte Friedrich Silberstein sehr getroffen, denn er hielt die leichte und luftige Dachkonstruktion seines Saales für genial. Auch Schultheiss selber war davon angetan: »Denn was nutzen einem die vielen Tische im Garten, wenn es zu regnen oder gar gewittern beginnt? Da muss man einen großen überdachten Raum haben, damit die Leute weiter ihr Bier trinken und einem nicht davonlaufen.«

LOUIS KRIMNITZ lag im Bett und versuchte alles, um seine Influenza zu bekämpfen. Seine neue Wirtschafterin musste ihm abwechselnd heißen Tee mit Rum und kalten Kirschsaft bringen. Dazu schluckte er die bittere Medizin, die ihm der Doktor verordnet hatte, und erduldete alle zwei Stunden diese fürchterlichen Wadenwickel, die gegen das ständig steigende Fieber helfen sollten. Gerade wieder kam Sophie herein, in der rechten Hand die Waschschüssel mit dem eiskalten Wasser, die Windeln, die sie sich von ihrer Nichte ausgeborgt hatte, über die Schulter geworfen.

»Erhebe dir, du schwacher Jeist, und stell dir uff die Beene!« Die Wirtschafterin war das, was die Berliner einen Dragoner nannten, also resolut und von erheblicher Körperfülle. »Los, hopp hopp, ick will Ihr Bette machen!«

Krimnitz war keineswegs bereit, so plötzlich aufzustehen, sondern schloss nur die Augen und stöhnte. »Ich komme mir vor wie’n Greis.«

»Wenn Se nich alt werden woll’n, müsse Se sich jung uffhängen.« Sie stellte die Waschschüssel auf einen Stuhl und machte Anstalten, ihm die Bettdecke wegzureißen.

»Na gut …« Mühsam schwang Krimnitz seine Beine über die Bettkante und stellte sie neben dem zur Seite gerutschten Vorleger auf die Diele. Sofort schrie er auf. Es sei so kalt und er bekäme Schüttelfrost. Auch schämte er sich seiner aus dem Nachthemd schauenden Säbelbeine.

»Beene wie’n Liebesroman«, murmelte Sophie dann auch. »Erst am Ende kriegen se sich.« Schnell strich sie das fast zu einem Strick gedrehte Laken zurecht und schüttelte Kopfkissen wie Bettdecke etwas auf. »Nu mal wieder zurück in’t Bette, Sie zittern ja wie Espenlaub.« Sie gab Krimnitz einen kleinen Stoß, sodass er wieder in die Federn plumpste. »Sie sehn ja wirklich aus wie’n Totenjräber von de Schippe jehopst. Darum müssen die Wadenwickel ooch sin.« Sie verpasste sie dem Kranken trotz seiner Schreie. »So, nun schlafen Se ma schön. In’ne Stunde bin ick wieda da und kieke nach Sie.« Damit rauschte sie aus dem Schlafzimmer.

Krimnitz richtete sich auf und hustete anhaltend, dann sank er erschöpft in die Kissen zurück. Trotz der Wadenwickel stieg das Fieber weiter an. Er wälzte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Der Stuck dort löste bei ihm die verschiedensten Assoziationen aus. Zuerst deutete er die Kreise in den Ecken als Bahnhöfe, und die langen Bänder, die zwischen ihnen angebracht waren, ließen ihn an Gleise denken. Dann kam es ihm vor, als sei alles eine Rennbahn, und er hörte den Hufschlag der Pferde. Er fiel in einen Dämmerzustand und hatte das Gefühl, wie eine Feder durch die Luft zu schweben. Dann träumte er, dass er das große Palmenhaus im Königlichen Botanischen Garten in der Potsdamer Straße in Schöneberg baute. In seinem Innern herrschte tropische Schwüle, als es eingeweiht wurde. Der Kaiser stand mit einem Mal neben ihm und lobte ihn für sein großartiges Werk.

»Krimnitz, von heute heißen sie von Krimnitz und sind Königlicher Hofbaumeister.«

Da kam seine verstorbene Frau auf den Monarchen zu und schrie: »Halt, mein Mann ist ein Mörder! Er hat den Juden Meir Rosentreter, den Geldverleiher, erschlagen.«

»Das stimmt nicht, Eure Majestät!«, schrie Krimnitz. »Ich schwöre es bei Gott dem Allmächtigen. Zwar habe ich Rosentreter die Treppe hinuntergestoßen und bin dann in seiner Kleidung nach Erkner gefahren, weil ich dachte, er ist tot, aber als ich in die Cöpenicker Straße zurückgekommen bin, da lag er nicht mehr da. Dafür fehlten mir Hose, Rock und Anzug aus dem Schrank. Er ist also nur bewusstlos gewesen und hat sich dann davongemacht, in meinen Sachen. Inzwischen wird er längst über den Großen Teich sein und in den Staaten sein Glück gemacht haben. Hier hatte er ja doch nur Schulden und wäre alsbald ins Gefängnis gewandert.«

»Ist das wirklich wahr, Krimnitz?«

»Sie können mich hängen lassen, Majestät, wenn es nicht wahr sein sollte.«

»Gut, ich glaube Ihnen.«

AARON SILBERSTEIN las an sich wenig, sah man einmal von Magazinen und Gazetten ab, und wenn er mal zu einem Buch griff, dann allenfalls zu einem historischen Roman. Dass er dem Schöngeistigen so abhold war, hatte seine Mutter schon öfter schier verzweifeln lassen. Ermahnte sie ihn zu intensiverer Lektüre, lachte er nur. »Du weißt doch, was Onkel Jason immer sagt: A jid wet gicher a buch schrajbn ejder koifn – Ein Jude wird ein Buch eher schreiben als kaufen.«

 

»Dann schreib doch mal eins!«

»Höchstens die Geschichte, wie Vater die Neue Synagoge baut.«

Er war also nicht zu bewegen, sich mit Euripides, Ovid, Shakespeare, Goethe, Schiller, Lessing oder – dies hätte sie vor allem anderen begrüßt – Moses Mendelssohn zu beschäftigen. Und kam sie ihm mit Lyrik, dann schrie er auf: »Mutter, Gedichte mag ich schon gar nicht!«

Um so erstaunter war sie, als sie ihn am Vormittag des 14. Mai mit einem Band goethescher Gedichte im Alkoven sitzen sah. Kaum hatte er sie erblickt, suchte er das schmale Bändchen unter einer Zeitung zu verstecken. Sie tat so, als hätte sie es nicht bemerkt, und sprach mit ihm darüber, wie sehr die Nerven ihres Mannes, seines Vaters, doch zerrüttet seien, seit er über den Plänen zum Bau der Neuen Synagoge saß.

»Er wird sich noch übernehmen damit«, fürchtete sie.

»Alles kommt, wie es kommen muss«, sagte Aaron Silberstein.

Seine Mutter nahm den Faden auf. »Ja, manchmal scheint es mir, als hätte der Schöpfer allen Seins längst schon festgelegt, was wir im Leben unternehmen. Vielleicht nicht, ob ich jetzt gleich niese oder nicht, zumindest aber die großen Züge sind vorherbestimmt. Ob Vater den Auftrag bekommt und ihm der große Wurf gelingt, steht also fest, nur wissen wir es noch nicht, und er kann jetzt machen, was er will, es ändert nichts mehr an dem, was längst beschlossen ist.«

»Da habe ich so meine Zweifel«, widersprach er ihr. »Wenn er sich jetzt ins Bett legt und gar nichts tut, wird er ihn bestimmt nicht bekommen, auch wenn das vorherbestimmt ist. Reicht er keine Pläne ein, ist er aus dem Rennen.«

»Ich meine, wenn er welche einreicht.«

»Andere zögern nicht, dies auch zu tun. Von Rana weiß ich es ganz bestimmt. Er prahlt in jedem Etablissement damit, dass er ein Gebäude schaffen wird, das den Ersten Tempel in den Schatten stellt.«

»Nur ein Goi ist fähig zu einem solchen Vergleich!«, rief Sarah Silberstein.

Ihr Sohn widersprach ihr. »Es ist seine überschießende Fantasie. Kann sein, dass er damit mehr Erfolg hat als Vater mit seinem radikalen Pragmatismus.« Damit stand er auf, um sich zu entschuldigen, denn unten im Flur erklang die Glocke. »Es ist jemand an der Tür.« Da Köchin und Hausdiener nicht zugegen waren und sein Vater sich jede Störung verbeten hatte, war es an ihm, nach unten zu eilen.

Kaum war er aus dem Zimmer, hatte seine Mutter den Gedichtband hervorgezogen. Geradezu fiebernd überflog sie das Gedicht, das er bei ihrem Eintreten ins Zimmer gelesen hatte. Sie flüsterte die Verse, die er unterstrichen hatte: »Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne, / Du bist mir nah! / Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne. / O wärst du da!« Er war dabei gewesen, diese Zeilen abzuschreiben und damit einen Liebesbrief zu schmücken, den er gerade angefangen hatte. Sie war beruhigt. Nun schrieb er Katharina Rosentreter also doch, dass er sie … Als sie aber die Anrede bemerkte, gab es ihr einen Stich ins Herz, denn da stand in fein ziselierter Schrift: »Werthe Charlotte …«

Als er zurückkam und meldete, es sei nur ein Bote gewesen, entfuhr ihr die Frage, ob wohl die Chaumonts etwas geschickt hätten.

Er war um Contenance bemüht. »Wie kommst du denn darauf?«

Sie lächelte. »Weil du vielleicht gestern bei ihnen was vergessen haben könntest …«

»Bist du Hellseherin?« Das war mehr ein Vorwurf als eine Frage.

»Keine Hellseherin, aber hellsichtig …«

»Du hast in meinem Sekretär geschnüffelt?!«

»Das ist ein garstiges Wort, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du es nicht benutzen würdest. Nein, ich habe nur gesehen, dass du Gedichte liest.«

»Also doch ge…« Er suchte nach einem Synonym. »… nachgeschaut, was sich da unter meiner Zeitung wohl verbergen mag.«

»Wenn es um Liebe geht, ist Goethe immer gut.« Sarah Silberstein liebte diese Art von Dialogen, die verborgene Attacke, den Bluff, und da ihr Mann für diese Kunst zu bieder war, blieb ihr im eigenen Hause nur der Sohn. »Aber im Ernst: Ich finde es ganz vortrefflich, dass du im freundschaftlichen Verkehr mit Katharina nun endlich so romantisch wirst, wie es nötig ist, will man frohen Herzens in die Ehe gehen.«

Aaron Silberstein lachte daraufhin. »Mutter, ich bin Advokat, und wenn du meinst, ich würde deine Winkelzüge nicht durchschauen …«

»Du hast es nötig, dich über meine Winkelzüge zu mokieren. Du bist es doch, der nicht mit offenen Karten spielt: Machst Vater das Angebot, ihm die Arbeit abzunehmen und zu Chaumont zu gehen, um für die Kalkulation der Neuen Synagoge die Preise bestimmter Materialien zu erfahren – und bist dabei nur darauf aus, deine Angebetete zu sehen.«

Was blieb ihm da, als eine galante Verbeugung zu machen. »Ich fühle mich durchschaut, Madame. Getrieben aber hat mich nichts anderes als die Ähnlichkeit der Mademoiselle Chaumont mit Ihnen.«

»Du Schmeichler. Aber es wird dir nichts helfen. Du bist Katharina sozusagen versprochen, und gerade jetzt, wo ihr Vater als verschollen gelten muss, braucht sie männlichen Beistand.«

»Ich habe meinen Halbleib gebeten, sich um sie zu kümmern.«

»Sie will nicht deinen halben, sie will deinen ganzen Leib!«

Aaron Silberstein reagierte trotz des hübschen Wortspiels verärgert. »Mutter, lass es bitte, Onkel Jason zu kopieren! Von dem hast du diese Wendung doch.«

»Wie stehen wir denn vor der Gemeinde da, wenn du eine Christin … Unsere Leute werden es als Verrat werten, als doppelten Verrat: am Glauben unserer Mütter und Väter wie an den Rosentreters. Und sie werden sich hüten, Vater den Auftrag zum Bau der Neuen Synagoge zu erteilen.«

Jetzt wurde Aaron Silberstein geradezu heftig. »Soll ich mein Lebensglück opfern, nur damit Vater die Neue Synagoge bauen kann?!«

»Ja.«

Aaron Silberstein stürzte aus dem Haus, um sich zu seinem Freund Wilhelm Blumenow zu flüchten. Der wohnte in einem schmalen und ziemlich altersschwachen Haus in der Sperlingsgasse. Als Aaron Silberstein anklopfte und in das mit Büchern und allem möglichen Krimskrams vollgestopfte Zimmer trat, hatte sich Blumenow gerade über eine Karte der United States of America gebeugt.

»Willst du etwa auswandern, Wilhelm?!«

»Ja, wer einmal konvertiert … Bin ich vom Glauben meiner Väter abgefallen, kann ich auch meinem Vaterland ade sagen. Drüben werden mich keine staatlichen Schnüffler verfolgen.«

Aaron Silberstein lachte bitter. »Dafür aber die Leute vom Rekrutierungsbureau, die dich zu den Soldaten holen wollen.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Mein Onkel Jason hat gute Beziehungen zu den jüdischen Gemeinden drüben, und er meint, es wird da bald einen Bürgerkrieg geben: der Norden gegen den Süden.«

»Wie bei uns: Preußen gegen Österreich.« Wilhelm Blumenow zeigte sich vom Argument des Freundes wenig beeindruckt, im Gegenteil, er ging in die Offensive. »Komm doch mit!«

»Ich?«

»Advokaten brauchen sie in New York wahrscheinlich dringender als in Berlin, und jetzt, da ihr Vater nach zwei Jahren noch immer nicht wieder aufgetaucht ist, wird Katharina sicher gern mit dir gehen.«

»Ihretwegen bin ich auch hier …« Aaron Silberstein befreite einen Stuhl von Kleidungsstücken, Büchern und angebissenen Broten und setzte sich.

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