Das Duell des Herrn Silberstein

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Einsam war es am frühen Abend im großen Haus in der Cöpenicker Straße. Seine Schreiber und Buchhalter hatten Feierabend gemacht, und seine Zugehfrau war bei ihrer Mutter in Treptow. Mit der Petroleumlampe in der Hand stieg er die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Als er den langen Flur entlangging, kam er am Bild seiner Frau vorbei. Ein begnadeter Künstler hatte es gemalt, und es war so lebensecht geraten, dass Krimnitz immer zusammenzuckte, wenn Elisabeths Blick ihn traf: »Warst du also wieder bei einem Flittchen?!« Nur um dich zu vergessen! Seit anderthalb Jahren war sie nun tot, im Wochenbett gestorben, das Kind mit ihr. Wie jeden Tag murmelte Krimnitz auch heute: »Ach, Elisabeth, mit dir hat mich das Glück verlassen.«

Aber noch war ja nicht aller Tage Abend. Mit seinen 33 Jahren war er ein Mann im besten Alter, und kam er erst wieder zu Geld, so kam er auch zu einer respektablen Frau. Marie Therese wäre eine gewesen, und ihr Vorleben störte ihn wenig, ganz im Gegenteil, doch als er sie im Thiergarten angesprochen hatte, war er auf die nächste Woche vertröstet worden. Dabei flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, das sogar ihn noch erröten ließ.

Er entkorkte eine Flasche französischen Rotwein, füllte sein Glas bis zum Rand, nahm einen Schluck und setzte sich an den Küchentisch, um als Erstes die Schuldscheine durchzusehen und nach ihrer Fälligkeit zu ordnen. Die achthundert Thaler, die er Meir Rosentreter zurückzuzahlen hatte, wären schon gestern fällig gewesen, doch er hatte keine Möglichkeit gefunden, so viel Geld aufzutreiben. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte er daran gedacht, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Und wäre Marie Therese nicht zufällig des Weges gekommen, läge er in diesem Moment schon in der Leichenhalle.

Er schrak zusammen. Unten hatte jemand am Klingelzug gerissen … Er brauchte gar nicht ans Fenster zu treten und nach unten zu schauen, er wusste auch so, wer da Einlass begehrte: Meir Rosentreter natürlich. So zu tun, als sei er nicht zu Hause, wäre vergeblich gewesen, dazu war der Schein seiner Lampe zu hell. Außerdem konnte er sich nur noch dadurch retten, dass er mit Rosentreter redete und ihn dazu brachte, ihm ein weiteres Moratorium zu gewähren. Machte er nicht auf, lief der Geldverleiher morgen früh zum Gericht, um ihn anzuzeigen. Also ging er nach unten, schloss auf und bat Rosentreter einzutreten, um mit ihm in Ruhe über alles zu reden. »Oben bei mir in der Küche, da liegen alle Bücher …«

»Wo auch immer«, sagte Rosentreter, als er unten ablegte. »Doss gelt fargnigt und pajnigt ale.«

»Wie?«

»Das Geld vergnügt und quält alle«, übersetzte Meir Rosentreter.

»Geld genug liegt oben bei mir im Geheimfach«, sagte Krimnitz. »Sie werden’s gleich sehen.«

»Das wäre meines Herzens Freude und Wonne«, erwiderte Rosentreter. Es war seine Lieblingswendung. Diesmal gebrauchte er sie in der Version der Luther-Bibel, denn christliche Freunde hatten ihm gesagt, dass der 6. Vers des 63. Psalm so besser klänge und zu verstehen sei als in der Fassung von Leopold Zunz, wo es ja hieß: »Wie von Fett und Mark ist gesättigt meine Seele, und mit Jubellippen lobsingt mein Mund.« Das mit den Jubellippen mochte noch angehen – aber Fett in der Seele? Krimnitz waren solche sophistischen Fragen egal, er nickte nur und ging voran. Er hatte das Gefühl, zum Richtplatz geführt zu werden. Der Henker war dicht hinter ihm. Wie herrlich wäre es gewesen, wenn ihn statt des kleinen Rosentreter eine Frau wie Marie Therese aufgesucht hätte oder wenn er den Banquier wegen der Anlage eines Vermögens empfangen würde und nicht wegen seiner Schulden.

Als ihm Meir Rosentreter dann gegenübersaß, fiel Krimnitz auf, wie ähnlich sie sich sahen. Beide hatten den gleichen kräftigen Körperbau, was bei einem Juden doch erstaunte, und Haare so schwarz, wie es sehr selten vorkam in Berlin. Bei Krimnitz mochte das daran liegen, dass sein Vater ja Franzose war. Als er daran dachte, fiel ihm sogleich eine Geschichte ein, mit der sich Rosentreter vielleicht erweichen ließe.

»Ich habe Nachricht aus Le Havre, dass mein leiblicher Vater endlich gefunden worden ist. Es soll ein gewisser Louis Virenque sein, zur Zeit Kapitän auf einem Handelsschiff, ein wohlhabender Mann. Ich habe ihm schon geschrieben. Wenn er erfährt, dass er einen Sohn hat, der unverschuldet in Not geraten ist, wird er mich sicher auslösen.«

Rosentreter strich sich über die Haare und lachte. »Eine schöne Geschichte, Herr Krimnitz, aber wie sagte mein Vater immer: Hob ich nit kejn kowed, wil ich lechol hapochess hobn doss gelt. Habe ich keine Ehre, will ich wenigstens Geld haben.«

»Fassen Sie mal einem nackten Mann in die Tasche!«

»Soll das heißen, Herr Krimnitz, dass Sie auch heut nicht zahlen können?«

»Ja … leider …«

Meir Rosentreter stand auf. »Dann werde ich nicht anders können, als …«

Krimnitz presste die Handflächen gegeneinander und hob beschwörend die Arme. »Ich bitte Sie, haben Sie doch Mitleid mit mir!«

Rosentreter wandte sich zum Gehen. »Ich brauche das Geld so dringend wie Sie, und es ist mein Geld. Wenn Gutherzigkeit mein Tod ist, dann …«

»Wenn ich hier alles verkaufen muss, bin ich hinterher ein Bettler!«

»Ich warte jetzt ein halbes Jahr, und länger kann ich nicht mehr warten!« Damit war Rosentreter an der Treppe angekommen, die zwar ziemlich breit war, aber doch sehr steil nach unten führte.

»Raus hier!«, schrie Krimnitz. Hass flackerte in ihm auf, und ehe er sich’s versah, hatte er dem Geldverleiher mit der rechten Faust einen kräftigen Stoß versetzt.

Rosentreter stürzte die Treppe hinunter, schlug hart auf die Stufen auf, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich unten liegen, ohne sich noch einmal zu rühren. Krimnitz war sofort gewahr, dass Rosentreter tot sein konnte. Er erschrak nur mäßig darüber. Sein erster Gedanke war: Der hartherzige Geldverleiher hatte es nicht anders verdient. Aber ihm war auch auf der Stelle klar: Lief er jetzt zur Polizei und führte sie zur Leiche von Rosentreter, dann bestraften sie ihn – und zwar wegen Mordes. Das hieß, dass er am Galgen endete, zumindest aber in der Hausvogtei einzusitzen hatte, bis er ins Greisenalter kam.

»Nein!«, schrie er da. »Nein! Nicht dieses Lumpen wegen.« Und dann überlegte er lange, wie er sich noch retten konnte. Schließlich hatte er einen Plan: Am besten, er zog sich die Kleider seines Opfers an, sofern sie nicht voller Blut waren oder jedenfalls schnell gereinigt werden konnten, und trat dann als Meir Rosentreter eine Reise an.

Nach einer knappen Stunde war er so weit. Er lief zur Oberbaumbrücke, überquerte die Spree und pfiff sich am Stralauer Thor eine Droschke herbei. »Zum Bahnhof der Frankfurter Eisenbahn.« Immer bemüht, so wie ein Jude zu sprechen, also »nu« zu sagen, »du megst« oder »e« statt »ein«, klagte er dem Kutscher sein Leid: dass er noch nach Frankfurt an der Oder müsse, um dort Geldgeschäfte abzuwickeln. Auch am Fahrkartenschalter im Bahnhof redete er mehr als nötig und ließ zweimal seinen angeblichen Namen fallen: »So wahr ich Meir Rosentreter heiße …« Der Beamte sah zwar ein wenig einfältig aus, das aber merkte er sich vielleicht.

Im Coupé war Krimnitz allein, was ihm zupasskam, denn so gab es keinen Zeugen dafür, dass er den Zug schon in Erkner verlassen würde. Schnell suchte er mit seinem kleinen Koffer in der Hand die Toilette auf und schloss sich ein.

Hineingegangen war er als Meir Rosentreter, heraus kam er als Louis Krimnitz. Im Koffer steckten jetzt die Sachen des Geldverleihers. Ganz unauffällig löste Krimnitz nun ein Billett nach Berlin. Beim Warten auf den Zug gab er sich alle Mühe, niemandem aufzufallen. Dass die Laternen auf dem Perron nur matt leuchteten, kam ihm dabei zu Hilfe. Im Abteil setzte er sich in die dunkelste Ecke, und er hatte offenbar Glück, denn keiner der übrigen Fahrgäste schien ihn zu kennen. Zwar wäre es noch keine Katastrophe gewesen, einen Bekannten zu treffen, aber besser war es schon, wenn ihn niemand auf der Strecke sah. Am Bahnhof verzichtete er auf eine Droschke und lief zu Fuß nach Hause, so schnell es eben ging, ohne dass er auffiel. Denn Rosentreters Leiche musste fortgeschafft werden – und die Nacht war kurz.

Kapitel 3

DER 6. MÄRZ 1856 fiel auf einen Donnerstag – jenen Wochentag, den Friedrich Silberstein am wenigsten mochte, klang das Wort doch so martialisch. Überhaupt waren ihm die germanischen Götter samt und sonders unsympathisch, hießen sie nun Donar oder wie auch immer.

Gemessenen Schrittes ging er über die Schlossbrücke und schwelgte in Erinnerungen. Hier hatte er als Geselle gearbeitet und mehr gelernt als je zuvor. Kein Wunder, war doch sein Lehrmeister kein Geringerer als der große Karl Friedrich Schinkel gewesen. Und seine Präzision wie seine Tatkraft hatten dem Meister so gut gefallen, dass er ihn auch geholt hatte, als jenes Museum am Lustgarten, das später das Alte Museum genannt wurde, und die Friedrichswerdersche Kirche hochzuziehen waren.

Über einen Schleusenarm der Spree führte die Brücke, war 156 Fuß lang und hatte eine Breite von genau 104 Fuß. Die Maße hatte Friedrich Silberstein noch nach einem Vierteljahrhundert im Kopf. Die Fahrbahn war so angelegt, dass neun Pferdefuhrwerke nebeneinander über sie fahren konnten. Das Geländer war eine durchbrochene Eisengussarbeit, Tritonen, Seepferde und Delfine darstellend. Dazwischen waren acht große Blöcke aus poliertem rotem Sandstein verteilt, und auf diesen standen hohe Untersätze aus schlesischem Marmor, die acht Figurengruppen aus Carrara-Marmor trugen. Es waren herrliche Arbeiten von Drake und anderen begnadeten Künstlern. Friedrich Silberstein konnte sich nie sattsehen an ihnen. Die überlebensgroßen Gestalten zeigten das Leben eines griechischen Kriegers in idealisierender Weise. So lehrte Victoria, die geflügelte Siegesgöttin, den Knaben Heldengeschichte und krönte den Sieger, so unterrichtete Minerva den Jüngling im Gebrauch der Waffen und führte ihn zum Kampf, so brachte Iris, die Botin der Götter, den siegreich Gefallenen zum Olymp empor.

 

»Ja, so muss man bauen«, murmelte Friedrich Silberstein, und als er weiterging und am Zeughaus, an der Neuen Wache und am Palais des Prinzen Heinrich von Preußen vorüberkam, das jetzt der Universität als Unterkunft diente, wurde ihm so recht bewusst, welch kleines Licht er selbst doch bis jetzt geblieben war.

Um seiner Depression Herr zu werden, brauchte er jetzt einen Schluck Maraschino di Zara oder Danziger Goldwasser, und so bog er rechts in die Charlottenstraße ein, wo nach ein paar Metern ein kleines Café zu finden war. Dort suchte er zuerst die Toiletten auf.

Als er in den Spiegel sah, erschrak er. Elend wie Ahasver sah er aus, wie der Ewige Jude, dem der Tod vorenthalten wurde und der zu immerwährender Einsamkeit verurteilt war. Ohne Unterlass hatte er von Land zu Land zu wandern. Nicht anders als er selber, der schon in Polen, Russland, Österreich und Preußen gelebt hatte. Geboren worden war er am 3. März 1802, also im Monat Nissan, in Medschibosch, einem Schtetl im südostpolnischen Podolien, am Flusse Bug gelegen und erstes Zentrum der Chassidim, der »Frommen«. Israel ben Eli’eser, genannt Baal Schem Tow, der Schöpfer des Chassidismus, hatte sich um 1730 hier niedergelassen und scharenweise Rabbiner und Gelehrte angelockt und als Schüler gewonnen. Nach seinem Tod im Jahre 1760 trat Dow Baer aus Medsiretsch sein Erbe an, und in dessen Zeit als Zaddik geriet Silbersteins Vater in den Bannkreis der chassidischen Enthusiasten, denen es vornehmlich darum ging, alle sündhaften Gedanken zu vermeiden. Georg Wilhelm Silberstein hatte lange Zeit als Händler – Kurzwaren, Stoffe, Bekleidung – im preußischen Königsberg gelebt. Er verehrte Friedrich II. von Preußen, »den Großen«, so sehr, dass er, als sein Sohn auf die Welt gekommen war, keinen Augenblick gezögert hatte, ihn Friedrich zu nennen. Und nur der Geschäfte wegen hatte der alte Silberstein Preußen verlassen und war über Wilna und Minsk nach Medschibosch gezogen. 1823 aber hatten die Behörden in Kongresspolen die Chassidim verdächtigt, Staat und Gesellschaft untergraben zu wollen, und er hatte aus Angst vor einem Pogrom seine neue Heimat fluchtartig verlassen und war mit seiner Familie nach Berlin gezogen.

Friedrich Silberstein war also mit 21 Jahren in die preußische Hauptstadt gekommen, und deren Trubel und Dynamik hatten ihn zutiefst verwirrt. Da rumpelten die Kremser durch die Straßen, da wurde die Haude und Spenersche Zeitung auf teuflisch schnell rotierenden Maschinen gedruckt, da gab es die ersten Mietskasernen mit Hunderten von Menschen in winzig kleinen Räumen, und da blühten die Künste. In Lesecafés und literarischen Salons versammelte sich die geistige Elite der Stadt, dort konnte man illustren Gästen wie Heinrich Heine begegnen. Hatte man sich bis zu seinem Tode 1811 beim Buchhändler und Verleger Friedrich Nicolai getroffen, so pflegte man sich später, um seine Gedanken auszutauschen, politische Dinge zu diskutieren und berühmten Dichtern zu lauschen, bei Henriette Herz, bei Bettina von Arnim und vor allem bei Rahel Varnhagen von Ense einzufinden. Dort war es auch, wo Friedrich Silberstein auf einen Mann aus dem Umkreis Schinkels traf und die Chance erhielt, in dessen Werkstatt zu arbeiten und seine Ausbildung zum Baumeister zu beenden. Ach, welche Träume hatte er damals noch gehabt! Bahnhöfe, großartig wie Kathedralen, wollte er errichten, prächtige Villen und Schlösschen für Fürsten, Generäle, Minister und Kommerzienräte – und Synagogen, die so prächtig waren, dass sie alle Juden zwischen London und Lemberg anlockten. Doch was war daraus geworden? Gasanstalten hatte er entworfen und gebaut, Dorfschulen, Getreidespeicher, das eine oder andere Geschäftshaus und einen Teil des Diakonissenkrankenhauses Bethanien. Zwar war das alle Mal besser, als in Galizien erschlagen zu werden, aber … Er riss sich zusammen und ballte die Fäuste. »Es ist ja noch nicht aller Tage Abend …«

Friedrich Silberstein war das, was die Leute ein Süßmaul nannten, und als er seinen Kaffee, seinen Likör und seinen Käsekuchen vor sich stehen hatte, ging es ihm schon wieder besser. Doch das änderte sich rasch, als er Karl-Hermann Rana in der Tür auftauchen sah. Kaum hatte der ihn entdeckt, machte er auf der Stelle kehrt und lief wieder auf die Straße hinaus. Wenn Blicke töten könnten … Friedrich seufzte hörbar. Als der Österreicher, Baumeister wie er, aber fünfzehn Jahre jünger, nach Berlin gekommen war, hatte er ihn wie einen Sohn in seinem Hause aufgenommen und lange im Gästezimmer wohnen lassen. Aber worin hatte Ranas Dank bestanden? Darin, dass er heimlich in seinen Unterlagen geblättert und ihm den Auftrag für den Bau einer Fabrikantenvilla in Cöpenick weggeschnappt hatte. Und nicht nur das. Leichtlebig wie er war, hatte Rana Silbersteins Sohn Aaron in stadtbekannte Bordelle mitnehmen wollen und sich sogar – der Gipfel! – seiner Frau Sarah unsittlich genähert. Da hatte er Rana aus dem Haus geworfen. Der nun war durch Berlin gezogen und hatte alles ganz anders dargestellt. Von der Fabrikantenvilla habe er nicht durch die Einsicht in Silbersteins Papiere Kenntnisse erhalten, sondern dadurch, dass der Bauherr ihn persönlich angesprochen habe. Und Aaron Silberstein habe er nicht in ein gewisses Freudenhaus geführt, sondern ihn im Gegenteil an dessen Betreten gehindert, weil ihm bekannt war, dass einige der dort tätigen Damen nicht bei bester Gesundheit waren. Sarah Silberstein schließlich sei nicht von ihm bedrängt worden, sondern habe alles darangesetzt, ihn zu ihrem Liebhaber zu machen.

»Das sind doch alles infame Lügen!«, hatte Friedrich Silberstein geschrien.

»Dass er so schreit, ist doch Beweis genug, dass er die Unwahrheit sagt«, hatte Rana lachend entgegnet.

Das Schlimme war, dass die Leute durchweg meinten, die Wahrheit müsse irgendwo in der Mitte liegen und was für Rana Bagatellen seien, das würde sich für Friedrich Silberstein zu einem Drama auswachsen. Kurzum, er sah sich in seiner Ehre verletzt und seine Familie in den Schmutz gezogen, während Rana das Ganze als Triumph genoss und sich in seinem Ruf als Don Juan und Lebemann bestätigt sah. Das nun wurmte Friedrich Silberstein so sehr, dass er in der Fachwelt nichts unversucht ließ, Ranas Fähigkeiten als Baumeister in Frage zu stellen. Und so war denn in einer Monatsschrift, die in der Bauwelt ein großes Renommee genoss, zu lesen, dass bei Ranas letztem Kirchenneubau ein Pissoir Pate gestanden haben müsse und man nur hoffen könne, dass das Dach nicht einstürze, wenn die Leute einmal etwas lauter singen würden. Da viele sagten, die Feindschaft zwischen ihm und Rana würde unweigerlich auf ein Duell hinauslaufen, hatte sich Friedrich Silberstein schon eine Pistole beschafft und übte damit ab und an heimlich in der Wuhlheide.

Immer noch in Rage, zahlte er, verließ das Café und machte sich auf den Heimweg. An der sozusagen runden Ecke, wo die Große Präsidentenstraße in den Hackeschen Markt mündete, besaß er ein ansehnliches Haus, das von seiner Frau aufs Beste gehütet wurde.

Sarah Silberstein entstammte der Familie des ehemaligen Spandauer Schutzjuden Levin Joseph. Der hatte 1777 zusammen mit seinem Bruder Abraham eine Konzession für den Tuchhandel erwerben können, kam aber auf keinen grünen Zweig, weil ihm die christlichen Kaufleute und Gewandschneider das Leben schwer machten. Zudem war er für einen guten Händler viel zu vertrauensselig und gutmütig. Nicht zuletzt aber waren es die hohen Abgaben an die Obrigkeit, die ihn in den Ruin trieben. Schließlich wurde er wegen betrügerischen Bankrotts verurteilt und musste das Land verlassen. Seine Kinder und Enkelkinder wurden in alle Winde verstreut, und Sarah erblickte am 12. Juni 1812 in Dresden das Licht der Welt. Ihr Vater war Rabbiner, und bei einem Besuch in Berlin lernte sie in der Synagoge Heidereutergasse ihren späteren Ehemann kennen. An Friedrich gefiel ihr vom ersten Augenblick an die kraftvolle Art. Er konnte zupacken und etwas Handfestes schaffen. Bauwerke, für die Ewigkeit gedacht. Ganz anders die Männer in ihrer Familie, die alle schlaff und vergeistigt durchs Leben gingen und deren höchstes Glück darin bestand, stundenlang über dem Talmud zu sitzen und zu »klären«, das heißt ein kompliziertes Problem, eine Kasche, scharf zu durchdenken. »Bin ich ein Esel, weil ich dein Freund bin, oder bin ich dein Freund, weil ich ein Esel bin?« Friedrich verbrachte seine Zeit nicht mit der Auslegung von Talmud- und Toratexten, Friedrich baute Häuser, Bahnhöfe und Manufakturen.

Sie brauchte einen solchen Fels, denn sie hatte durchaus etwas Flatterhaftes an sich, und nicht zu unrecht hatte sie einer ihrer frühen Verehrer »mein schwarzer Schmetterling« genannt. Ihr Traum war es gewesen, Schauspielerin zu werden, doch das hatte man ihr gründlich ausgetrieben, obwohl darin wohl ihr wahres Talent gelegen hätte. So verlegte sie sich auf die Schriftstellerei, die ihr von den Eltern erlaubt wurde, jedoch glückten ihr nur holprige Texte.

Zwei Kinder hatte sie zur Welt gebracht, 1826 ihren Sohn Aaron und zwei Jahre später ihre Tochter Rahel. Die zweite Geburt hatte sie sehr erschöpft, und seitdem sah sie blass und zerbrechlich aus. Sie ging auch nicht mehr so gern aus dem Haus wie früher, sondern ließ die Menschen lieber zu sich kommen. Da sie viel las und immer wusste, was in Politik, Dichtkunst und Philosophie gerade en vogue war, galt sie als anregende Gesprächspartnerin. Zwar konnte ihr Salon mit dem einer Rahel Varnhagen nicht ernsthaft konkurrieren, dennoch war er bei Männern von Rang und Namen so beliebt, dass gar nicht alle eingeladen werden konnten, die gern gekommen wären. Bei allem hatte sie aber auch die Interessen ihres Mannes im Kopf, denn der war kein guter Verkäufer seiner Baukunst, wie ihr schien, und neigte immer dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, auch war er kein Meister der gepflegten Konversation und schon gar nicht jemand, der andere auszuhorchen wusste und ihnen schmeichelte, wenn es darum ging, Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen, um einen lukrativen Auftrag zu erhalten.

Friedrich Silberstein traf seine Frau bei der Lektüre eines Romans. Es war Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, wie er sah, als sie das Buch beiseite legte. Er fand es furchtbar langweilig und hatte schon nach den ersten fünf Seiten aufgegeben. Etwas anderes interessierte ihn weitaus mehr.

»War Meir Rosentreter hier?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Er wollte mir ein Empfehlungsschreiben bringen, für meine Reise nach Mainz, wo sie eine neue Synagoge bauen wollen.«

»Ich kann nur sagen, dass er nicht da war.«

Friedrich Silberstein machte eine Handbewegung, die abwiegeln sollte, denn seine Frau schien ein wenig eingeschnappt zu sein. »Komisch, wo er sonst immer so gefällig und so zuverlässig ist …«

Sarah Silberstein zeigte zur Zimmerdecke hinauf. »Vielleicht weiß Aaron mehr.« Ihr Sohn hatte direkt über ihnen sein Zimmer.

»Wieso soll der was wissen?«

»Weil er sich gestern mit Katharina getroffen hat. Soll ich ihn mal holen?«

»Ja, tu das.«

AARON SILBERSTEIN hörte seine Eltern unten in der guten Stube diskutieren und verspürte wohl unwillkürlich den Wunsch, nach unten zu eilen und seinen Vater zu begrüßen, andererseits war ihm die ungestörte Mittagsruhe ein lieb gewordenes Ritual, und zu gern hätte er noch ein paar Seiten Eichendorff gelesen, ehe er wieder in die Brüderstraße eilte und in seiner Kanzlei auf Klienten wartete.

Der Einsiedler hieß das Gedicht, und leise sprach er den Anfang der zweiten Strophe vor sich hin: »Die Jahre wie die Wolken gehen / Und lassen mich hier einsam stehn, / Die Welt hat mich vergessen …« So weit war er mit Eichendorff völlig d’accord, und den subtilen Schmerz, der den Dichter erfüllte, genoss er wie einen köstlichen Likör. Doch was folgte, ließ ihn zusammenzucken, als hätte ihn ein Messerstich mitten in die Brust getroffen: »Da tratst du wunderbar zu mir …« Eichendorff meinte die tröstende Nacht. Aaron aber bezog diese Zeile auf ein wunderschönes Mädchen. Ein solches jedoch trat nicht in sein Leben, obwohl er kaum an etwas anderes denken konnte als daran, endlich eine Frau zu finden, die er wirklich liebte. Aber wie hatte sein Großvater immer gesagt? Men sol nit betn, di zoress soln sich ojsslosn. Worem as di zoress losn sich ojss, lost sich doss leben ojch ojss – Man soll nicht beten, dass das Leid ein Ende nehme. Denn wenn das Leid aufhört, hört auch das Leben auf.

 

Aaron Silberstein legte Wert darauf, als das genaue Gegenteil seines Vaters zu gelten, und oft hörte man von ihm die Wendung: »Ich bin ganz anders als er.« Vordergründig schien sich das nur auf den Körperbau der beiden zu beziehen, denn der Senior war untersetzt bis füllig, der Junior aber lang und schlank. In Wahrheit aber wollte er sagen: Ich bin nicht so verknöchert, nicht so preußisch und königstreu wie mein Vater, kein Ewiggestriger, noch immer dem Berliner Biedermeier des Vormärz verbunden. In seinen Jünglingsjahren hatte sich Aaron der Haskala verpflichtet gefühlt, der jüdischen Aufklärung, und Moses Mendelssohn, der »jüdische Luther«, wie sie ihn mitunter nannten, war sein Prophet gewesen. Als Student hatte er sich dann unter dem Einfluss seines Freundes Wilhelm Blumenow immer stärker pantheistischen und schließlich sogar atheistischen Positionen angenähert, und öfter hörte man ihn Ludwig Feuerbach zitieren: dass nicht Gott die Menschen gemacht habe, sondern sich die Menschen ihre Götter – jeder Stamm, jedes Volk nach seinen Bedürfnissen und Lebensbedingungen. Zugleich aber hatte er noch immer das im Blut, was sie ihm in der Jeschiwa, der Talmud-Schule, beigebracht hatten, und so hielt er sich nach außen noch immer mehr oder minder streng an die jüdischen Gesetze.

Bei aller Kritik an seinem Vater, es gab Phasen, in denen er voller Bewunderung für ihn war und auch ein wenig neidisch. Während er seinen Vater in solchen Stunden als Fels in der Brandung sah, kam er sich selbst wie ein Schiff vor, das von Wind und Wellen hin und her geworfen wurde und kein Ziel hatte. »Ich weiß nur, dass ich nicht weiß, was ich recht eigentlich will«, hatte er in sein Tagebuch geschrieben. Sein Vater hatte es durch Zufall entdeckt und ihn daraufhin verdonnert, Jura zu studieren: Das gäbe Menschen den nötigen Halt, und man könne damit alles werden.

Immerhin war er so zu einem halbwegs erfolgreichen Advokaten mit einer kleinen Kanzlei in der Brüderstraße geworden, doch viel lieber wäre er höherer Beamter im Innen- oder Justizministerium gewesen, wo er ohne jeden Zweifel ebenfalls eine glänzende Karriere vor sich gehabt hätte – wenn er denn Christ gewesen wäre … Seit dem 31. Januar 1850 waren zwar laut Artikel 4 der Verfassung alle Preußen gleichgestellt, auch die Juden. Doch noch immer wurde diesen der Zugang zu öffentlichen Ämtern, höheren militärischen Dienstgraden und universitären Lehrstühlen verweigert.

Zur Welt gekommen war Aaron Silberstein am 9. Mai 1826, dem Tag, an dem sich die Sängerin Henriette Sonntag, die »göttliche Jette«, nach ihrer letzten Vorstellung im Königstädtischen Theater auf dem Alexanderplatz von ihren Berlinern verabschiedet hatte. Unter den vielen Tausenden, die ihr zujubelten, fehlte aus diesem Grunde Sarah Silberstein, und sie verzieh ihrem Sohn nie so recht, dass er sie mit seiner Ankunft um diesen Genuss gebracht hatte. Damals hatten sie noch in der Spandauer Straße gewohnt, und man hatte es nicht weit zur Synagoge Heidereutergasse gehabt. Die war zwar schon am 14. September 1714, dem Sabbat vor dem jüdischen Neujahrstag, eingeweiht worden, doch dass man den Bau einem christlichen Architekten übertragen hatte, dem Michael Kemmeter, wurmte Tharah Seligsohn noch heute. Sein Schwiegervater konnte nicht anders, als ihm in gewisser Weise zuzustimmen, obwohl es ja zu dieser Zeit in Preußen praktisch keine jüdischen Baumeister gegeben hatte. Juden war auch dieser Beruf verwehrt gewesen.

»Und wer darf sie jetzt renovieren und umbauen im klassizistischen Stil? Wieder ein Goi.« Gemeint war der christliche Baumeister und Schinkel-Schüler Eduard Knoblauch.

»Du hättest den Vorsteher aufklären sollen, Vater, denn bei diesem Namen wird er gedacht haben: Nu, das ist einer von uns.«

Diesen Dialog führten sie in regelmäßigen Abständen. Heute aber ging es, kaum war er nach unten gekommen, um Meir Rosentreter. Ob ihm dessen Tochter vielleicht etwas von einer plötzlich anzutretenden Reise gesagt habe, schließlich führe sie ihm den Haushalt?

»Nein. Als wir vom Konzert gekommen sind, habe ich sie mit der Droschke nach Hause gebracht und unten geschellt. Die alte Selma ist nach unten gekommen und hat sie in Empfang genommen. Ihren Vater habe ich nicht bemerkt. Aber es kommt ja öfter vor, dass der auf Reisen ist.«

Friedrich Silberstein war bitter enttäuscht. »Schöne Freunde sind das! Er weiß doch genau, dass sie mich ohne seine Empfehlung die Synagoge in Mainz nicht bauen lassen werden.«

»Wartest du eben, bis es hier in Berlin so weit ist.«

»Da nehmen sie dann den Rana!«

»Sei nicht so verbittert, Friedrich!«, ermahnte Sarah Silberstein ihren Mann.

»Mit chitrekajt kon men doss leben ibergejn, mit farschtand – nit schtendik.«

Das Jiddische war Aaron schon ein wenig fremd geworden, und so brauchte er einen Augenblick, um zu verstehen, was sein Vater eben gemeint hatte: Mit Durchtriebenheit kann man das Leben durchstehen, mit Verstand – nicht immer. »Nun, Mutter kann ja demnächst mal die Leute einladen, die das Sagen haben, wenn sie in Berlin wirklich eine neue Synagoge bauen wollen.«

»Aber am liebsten wäre mir eine große Hochzeit …« Sarah Silberstein sah verträumt aus dem Fenster. »Du und Katharina. Ich habe geträumt, dass ihr euch zu Pessach verloben werdet.«

Aaron hatte Mühe, die Contenance zu wahren. »Mutter, ich bin mit Katharina zusammen aufgewachsen wie mit einer Schwester, und wie soll ich da mit ihr …« Er lief rot an, weil die Worte, die ihm fast über die Lippen gekommen wären, unschicklich waren.

Sein Vater lachte. »Das kommt mit der Ehe.«

»Darauf will ich mich nicht verlassen.« Er wollte hell entflammt sein und nicht nur glimmen.

»Sie ist eine gute Partie«, sagte sein Vater vorsichtig. »Und mit ihrem Geld könnten wir ganz anders dastehen, wenn es um große Bauten geht.«

Die Diskussion wäre noch lange so weitergegangen und hätte sich wie immer im Kreise gedreht, wenn nicht plötzlich sehr heftig am Klingelzug gerissen worden wäre.

Friedrich Silberstein sprang auf. »Ah, doch noch Meir Rosentreter!« Und er gab seinem Sohn einen Wink, zur Tür zu eilen und zu öffnen.

Rosentreter war es aber nicht. Vor der Tür stand nicht der Geldverleiher, sondern der Kommissarius, der für die Gegend um den Hackeschen Markt zuständig war, ein untersetzter, bärbeißiger Mann mit Namen Buntrock, den die Berliner einen »voll geschissenen Strumpf« nannten. Dies allein hätte Aaron Silberstein nicht in Verwunderung versetzt, doch neben dem Polizeibeamten stand kein Geringerer als Dr. Wilhelm Stieber, der Direktor der Kriminalpolizei und Atlatus des Polizeipräsidenten v. Hinckeldey, von Friedrich Engels als einer der »elendsten Polizeilumpen des Jahrhunderts« bezeichnet.

Aaron Silberstein war zu sehr Jurist, um nicht die Kunst der Selbstbeherrschung eingeübt zu haben. Wer sich von seinen Emotionen übermannen ließ, hatte von Anfang an die schlechteren Karten. Also bemühte er sich um eine subtile Ironie. »Ah, die Herren sind gekommen, um Ludwig Urban hier bei mir zu suchen und festzunehmen.«

Das war derart frech, dass Dr. Stieber erst einmal schlucken musste, denn Ludwig Urban, ein Tierarzt, war einer der bürgerlichen Anführer der Märzrevolution von 1848 gewesen und hatte anfangs ausgerechnet ihn, der die Liberalen jetzt gnadenlos jagte, zum Verteidiger gehabt. Doch der Direktor der Kriminalpolizei fasste sich schnell und wurde inquisitorisch. »Das ist ja interessant, dass Sie Ludwig Urban so gut kennen …«