Das Attentat auf die Berliner U-Bahn

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»Das ist ja eine Unverschämtheit, die Straßen hier unter Strom zu setzen!«, rief er und wäre Werner Siemens gegenüber fast handgreiflich geworden. »Ich hätte mir durch Ihre Schuld fast das Genick gebrochen.«

Erich Abendroth legte dem Mann die Hand auf die Schulter. Man kannte sich von vielen Scharmützeln her. »Nun beruhigen Sie sich doch mal, Herr Grasmuck. Es war doch eine sehr schöne Vorführung.« Er war sich sicher, dass Georg Grasmuck den Vorfall inszeniert hatte, um einen weiteren Trumpf im Kampf gegen die elektrischen Bahnen in der Hand zu haben.

Hermann Mahlgast und Ludolf Tschello fanden das Ganze viel spannender als einen Abenteuerroman. Sie hörten auch, wie Werner Siemens sagte, bei seiner Pfeilerbahn wäre das nicht passiert.

»Doch – bei Pegasus!«, rief Ludolf Tschello.

Erich Abendroth lachte und fragte die beiden Obertertianer, ob sie sich denn für elektrische Bahnen interessieren würden.

Aber ja, diese seien ihr großer Traum. »Deswegen sind wir ja auch nach Lichterfelde rausgekommen, und wir …«

Grasmuck unterbrach sie. »Ich werde heute noch Anzeige bei der Polizei erstatten, Herr Siemens. Stellen Sie sich mal vor, Kinder erleiden einen Stromschlag und werden getötet.«

»Ein Kind macht doch nicht so lange Schritte.«

»Aber zwei Kinder können sich an der Hand halten.«

»Und beide sind zufällig barfuß …« Abendroth verzog das Gesicht.

»Weg mit der Elektrizität von unseren Straßen!«, rief Grasmuck.

Werner Siemens nickte. »An sich haben Sie ja recht, aber solange man mich keine Pfeilerbahn bauen lässt …« Er sah zu den Bäumen hinauf. »Es sei denn, man hängt zwei Fahrdrähte oben auf und lässt das mit den Schienen.«

»Sie meinen, wir bauen einen Elektromotor in eine Kutsche ein?«, fragte Abendroth.

Siemens nickte. Die Idee zu dem, was man später Oberleitungs- oder kurz Obus nennen sollte, hatte er schon lange.

»Und wenn sich nun zwei Elektrowagen begegnen?«, fragte Hermann Mahlgast.

»Gut, der Junge!«, rief Abendroth. »Ja, was machen wir dann, wenn sich zwei Wagen begegnen?«

Hermann Mahlgast dachte nach. »Es muss vier Fahrdrähte geben, zwei für jede Richtung.«

»Nein.« Ludolf Tschello hatte eine bessere Lösung. »Bei nur zwei Drähten fährt ein Wagen zur Seite und kappt seine Kontakte vorübergehend, damit der andere vorbei kann.«

»Ihr seid ja großartige Fachleute«, lobte Werner Siemens sie. »Herr Abendroth, geben Sie bitte Order, dass die beiden jungen Herren so lange umsonst mit der Straßenbahn fahren können, wie sie wollen.«

In jedem Vierteljahr luden die Tschellos alle Freunde und Verwandte zu einem kleinen Konzert in ihre Wohnung ein. Auch Menschen, die klassische Musik eher als Folter denn als Genuss empfanden, beeilten sich, dieser Einladung Folge zu leisten, denn nur der eigene Tod wurde von Ernst Moritz und Auguste als Hinderungsgrund anerkannt, alles andere galt als Affront und führte zum Abbruch der Beziehungen.

Hermann Mahlgast litt zwar immer gewaltig, wenn Vater Tschello unerbittlich lange »das Wimmerholz bearbeitete«, so sein Ausdruck für das Geigenspiel, doch er folgte seinen Eltern ein jedes Mal ohne Murren, denn vor und nach dem Konzert war immer noch genügend Zeit, mit dem Freund zu spielen.

Noch immer waren Hermann Mahlgast und Ludolf Tschello unzertrennlich. Was sie wohl derart aneinanderbinden würde, fragten sich viele. Der Hauptgrund war vermutlich, dass sie sich zu einer Einheit ergänzten. Der eine stand für das Solide, Stabile und Verlässliche, der andere für das Leichte und Lockere. Der eine nahm das Leben als Pflichterfüllung, der andere als Spiel, und so kamen sie glänzend voran. Und noch wussten sie nicht, dass in ihrer Dyade ein Konflikt angelegt war, den man nur teuflisch nennen konnte.

An diesem Abend spielten sie Erfinder. Beide waren dabei, eine elektrische Bahn zu entwickeln, die der von Siemens & Halske um einiges überlegen war.

»Vor allem brauchen wir nur eine Schiene«, betonte Ludolf Tschello immer wieder. »Und nur zwei Räder für einen Waggon und nicht vier.«

»Und nur einen Oberleitungsdraht«, ergänzte Hermann Mahlgast.

Auf die Idee zu ihrer Einradbahn waren sie gekommen, als Ludolf einen großen Kreisel geschenkt bekommen hatte. Zog man den mit einer Schnur auf, lief er einige Minuten lang, ohne ins Trudeln zu geraten. Baute man einen mannshohen Kreisel aus Eisen und sorgte mit Hilfe eines Elektromotors dafür, dass er sich in der Minute Hunderte von Malen drehte, und stellte diesen Kreisel auf einen Wagen, der vorn und hinten genau in der Mitte des Kastens ein Rad hatte, dann, so dachten sie, war es völlig unmöglich, dass dieser Wagen umkippte. Die Schwungmasse hielt ihn in jedem Fall im Gleichgewicht. Die beiden Räder waren konkav, also nach innen gewölbt, und die Schiene konvex, also eine unten auf Stützen ruhende Röhre.

Ludolf Tschello war für die Zeichnungen und Berechnungen zuständig, Hermann Mahlgast hatte das Handwerkliche zu erledigen. Mit Hilfe zweier etwas verkürzter Garnrollen und Brettchen, die von den Zigarrenkisten seines Vaters stammten, hatte er einen Straßenbahnwagen gebaut. Mangels seitlicher Stützen – die waren erst noch zu konstruieren – kippte das Gefährt im Ruhezustand natürlich immer um, aber Hermann Mahlgast konnte das wenig verdrießen.

»Pass mal auf, wie der sich in der Horizontalen hält, wenn wir deinen Kreisel erst obendrauf montiert haben.«

»Hauptsache, du hast die Achse so gebohrt, dass er nicht eiert.« Ludolf Tschello wusste, was Siemens an seinem Halske hatte. Ohne erstklassigen Mechaniker funktionierte nichts.

Dann hatten sie Grund zum Jubeln, denn ihre Bahn legte, nachdem Hermann Mahlgast sie angeschoben hatte, tatsächlich gute 2,50 Meter auf dem Flur zurück, ehe sie umkippte.

»Lag das nun am Schwung, dass sie so weit gefahren ist, oder an der Wirkung des Kreisels?«, fragten sie sich, konnten aber nicht weiter experimentieren, da Ludolfs Mutter nun in die Hände klatschte und rief, das Konzert würde beginnen.

Man nahm Platz und setzte sich in die Pose »Kunstgenuss und Verzückung«. Ernst Moritz Tschello trat ein, verbeugte sich, nahm den Beifall geschmeichelt entgegen und begann, ebenso hingebungsvoll wie professionell die Serenata a un coro di violini von Johann Jakob Walther zu spielen.

Als genügend geklatscht worden war, setzte er zu einer kleinen Rede an: »Für die zweite Darbietung dieses Abends, liebe Freunde des Hauses, liebe Anverwandte, haben meine Frau Gemahlin und ich keine Kosten und Mühen gescheut, um bei den Göttern ein Wesen loszueisen, das ihr absoluter Liebling ist und das sie mit einer Stimme ausgestattet haben, wie sie seit Jenny Lind, der schwedischen Nachtigall, keiner Frau mehr geschenkt ward. Nun …«

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment stürmte eine überaus korpulente ältere Dame in den kleinen Konzertsaal, ein Dragoner, wie die Berliner sagten. Und sofort legte sie los.

»Warum werde ich denn nicht eingeladen, wenn hier ein Konzert stattfindet? Das ist ja eine Gemeinheit ersten Grades! Wenn ich nicht durch Zufall gerade vorbeigekommen wäre, dann … Ernst Moritz, hol mir gefälligst einen Sessel!«

Derjenige, der neu war bei den Tschellos, schwieg betreten, zumal der Hausherr nun devot herumwieselte wie ein Oberkellner in einem Grand Hotel, während die Kundigen nur bedeutungsvoll schmunzelten. Sie kannten die Dame, die da wieder einmal ihren großen Auftritt hatte: Es war Emilie Ludewig, geborene Tschello, die Erbtante aus Wassersuppe am Hohennauener See. Sie hatte einen Fabrikanten aus Rathenow geheiratet und war, als der vom Herrn heimgeholt wurde in die Ewigkeit, eine reiche Frau geworden. Da sie in ihrem Testament ihren Neffen Ernst Moritz und dessen Sohn Ludolf zu ihren Erben eingesetzt hatte, konnte sie sich bei ihren Besuchen in Berlin buchstäblich alles erlauben. Sie plumpste in den Sessel, den ihr der Neffe herangeschoben hatte.

Sie sah ihn an. »Und …?«

»Ja, Tante Emilie?«, fragte Ernst Moritz Tschello schmelzend wie ein Bariton.

»Guck nicht so wie ein Schoßhündchen.« Sie lachte schrill auf. »Hol mir was zu trinken! Aber was Vernünftiges. Dass ich in Wassersuppe geboren bin, heißt ja nicht, dass ich nur Wasser trinke.«

Schon war Ludolf Tschello mit einem Glas Sekt zur Stelle.

»Zum Wohl, liebe Tante Emilie.«

»Danke.« Sie leerte das Glas mit einem Zug und rülpste ungeniert.

Auguste Tschello zuckte zusammen, denn sie wusste, dass Tante Emilie unter dem litt, was die Ärzte schamhaft als Flatulenz bezeichneten. Hoffentlich hatte sie nicht wieder Erbsen gegessen wie bei ihrem letzten Besuch.

»Dürfen wir fortfahren?«, fragte Ernst Moritz Tschello.

»Wohin denn?« Sie lachte schallend über ihren nicht eben originellen Scherz.

Ihr Neffe musste ernst bleiben. »Ins Land der Träume, liebe Tante.«

»Gut, sehr gut. Aber spielst du heute bitte mal das Instrument, das nach dir benannt worden ist?« Jetzt lachte sie so dröhnend, dass der empfindsamen Dichterin neben ihr das Trommelfell zu platzen drohte.

»Wir haben leider kein Cello zur Hand«, bekannte ihr Neffe und senkte den Blick. »Aber wenn ich dir zu Ehren ein kleines Stück von Mozart auf der Geige …«

»Ja, ich bitte darum.«

Während sich Ernst Moritz Tschello mühte, sein Bestes zu geben, schloss Tante Emilie die Augen und ließ in regelmäßigen Abständen leise einen entfleuchen. Als ihr Neffe die Extradarbietung ihr zu Ehren beendet hatte, erwachte sie und klatschte begeistert.

Ernst Moritz Tschello begann nun von vorn: »Für die zweite Darbietung dieses Abends, liebe Freunde des Hauses, liebe Anverwandte, liebste Tante Emilie, haben meine Frau Gemahlin und ich keine Kosten und Mühen gescheut, um bei den Göttern ein Wesen loszueisen, das ihr absoluter Liebling ist und das sie mit einer Stimme ausgestattet haben, wie sie seit Jenny Lind, der schwedischen Nachtigall, keiner Frau mehr geschenkt ward. Nun, eine Frau ist unsere Cécile noch nicht, aber sie singt und tanzt bereits jetzt so hinreißend, dass sie zu sehen uns jetzt schon viele Silbergroschen wert sein dürfte. Da wir aber heute Abend keinen Eintritt nehmen, möchte ich Sie bitten, das Geld, das Sie durch unsere Einladung sparen, in diesen Zylinderhut hier zu werfen. Alles kommt dem Waisenhaus zugute, das meine Frau unter ihre Fittiche genommen hat … Nun aber zu einem Stern am Theater- und Konzerthimmel, der gerade am Aufsteigen ist und in wenigen Jahren alles überstrahlen wird: unsere Cécile.«

 

Die Kleine war wirklich hinreißend, nur vertat sie sich bei einem von Ernst Moritz Tschello vertonten Goethe-Gedicht – Die Freude – und sang in der zweiten Strophe, wo es heißen musste: Sie schwirrt und schwebet, rastet nie, wohl irritiert vom Anblick eines vom Rost zerfressenen Säbels an der Wand, mit dem einer von Tschellos Vorfahren 1758 bei Zorndorf gekämpft hatte, ganz deutlich »rostet nie«. Die Zuhörerinnen und Zuhörer, die den vorher ausgeteilten Text vor sich liegen hatten, lachten zwar nur verhalten und keineswegs höhnisch, doch das reichte, die junge Künstlerin die Contenance verlieren zu lassen. Sie stürzte aus dem Raum, um sich irgendwo zu verkriechen. Die Türen, die vom Flur abgingen, waren verschlossen – bis auf eine, und die gehörte zu Ludolf Tschellos Kinder- beziehungsweise Arbeitszimmer. Da man vor Beginn des Konzerts die Lampe gelöscht hatte, übersah sie die Einradbahn, die auf dem Teppich verblieben war. Ein Krachen – und Cécile hatte mit ihrem rechten Füßchen die große Erfindung der beiden Knaben zermalmt.

Sechs
1883

Erich Abendroth kam von einer Unterredung im Roten Rathaus, wo er mit einigen Magistratsbeamten Möglichkeiten erörtert hatte, den »Elektromote« genannten Oberleitungsbus der Firma Siemens & Halske durch die Berliner Straßen fahren zu lassen.

»Keine Pferdeäpfel mehr, meine Herren, keine Schienen, die verlegt werden müssen. Und wesentlich höhere Geschwindigkeiten.« Abendroth verwies auf die erfolgreich verlaufenen Versuchsfahrten, die am 28. April 1882 auf dem Kurfürstendamm zwischen der Joachim-Friedrich- und Johann-Georg-Straße stattgefunden hatten. Die Strecke in Halensee hatte eine Länge von 540 Metern.

»Und wenn das Gefährt einmal Passanten oder Droschken ausweichen muss?«, kam der Einwand.

»Die Verbindung zur Oberleitung ist lang und elastisch genug.«

»Da geben Sie ja selber das Stichwort, das unsere Skepsis begründet: die Oberleitung. Unser Stadtbild wird durch sie fürchterlich verschandelt.«

Da hatte Erich Abendroth kapitulieren müssen. Auch mit einem Omnibus, der nicht von einem Pferd, sondern von einem Elektromotor angetrieben wurde, seiner »gleislosen Bahn«, kam Siemens nicht ins Geschäft.

Abendroth wollte nun vom Bahnhof Alexanderplatz mit der Stadtbahn nach Charlottenburg fahren, um mit den dortigen Kommunalbeamten zu verhandeln. Schaute er die Königstraße hinauf, sah er schon von weitem, wie die Lokomotiven ihre mächtigen Dampfwolken in den milchigen Berliner Himmel stießen. Dieser Ruß, dieser Dreck! Wie konnte eine Stadt nur so dumm sein, so etwas zuzulassen? Die Zukunft gehörte der elektrischen Traktion, aber Siemens hatte ja bislang nur tauben Ohren gepredigt. Die mächtigen Lokomotivbauer steckten hinter den Abgeordneten, die über die Bahnen entschieden. Was sollte man da machen, außer Wutanfälle zu kriegen und es immer wieder zu versuchen!

Die Stadtbahn war für Abendroth aber nicht nur Ärgernis, sondern auch Hoffnung – Hoffnung, dass man endlich begriff, dass eine Millionenstadt im Chaos versank, wenn man die Leute abseits der Stadtbahn und der radial abgehenden Eisenbahnstrecken nur mit Droschken, Pferdebahnen und Pferdeomnibussen befördern wollte.

Die Stadtbahn war am 7. Februar 1882 für den Lokalverkehr zwischen dem Schlesischen Bahnhof und Charlottenburg freigegeben worden. Am 15. Mai war dann der Fernverkehr gefolgt. Zehn Jahre lang hatte man an der zwölf Kilometer langen Strecke gebaut, und 75 Millionen Mark waren ausgegeben worden. Die Bahn folgte der Spree und nutzte den zugeschütteten Königsgraben, ihre Besonderheit aber waren die 731 aus gelbem Backstein gemauerten Viaduktbögen, auf denen sie rollte.

»Architektonisch ganz schön«, maulte Abendroth, »aber an sich finsteres Mittelalter. Als hätten die Leute noch nie gehört, dass es Eisen gibt, Fluss- und Gusseisen.«

Neun Bahnhöfe standen zur Verfügung: Charlottenburg, Zoologischer Garten, Bellevue, Lehrter Stadtbahnhof, Friedrichstraße, Börse, Alexanderplatz, Jannowitzbrücke und Schlesischer Bahnhof.

So schnell Abendroth im Charlottenburger Rathaus war, so schnell war er auch wieder draußen, denn auch hier hielt man nichts von Hochbahnen. Die neue Stadtbahn reiche allemal.

»Die Stadtbahn ist ein Sonderfall«, erklärte Siemens, als man am nächsten Tag zusammensaß und sich beriet. »Für sie war der Platz schon da, man brauchte nicht extra Schneisen in die Stadt schlagen. Und dennoch: Viele Straßen, viele Stadtteile und viele Menschen trennt sie voneinander, wie generell jede Eisenbahnstrecke. Meine Hochbahnen aber tasten die Stadtgebiete nicht an, zerschneiden keine Jahrhunderte hindurch gewachsenen Verbindungen. Unter einer Hochbahn geht man einfach hindurch. Und eine Hochbahn verpestet nicht die Luft.«

Siemens versuchte nun, Ernst Dircksen, den verantwortlichen Ingenieur für die Stadtbahn-Viadukte, mit ins Boot zu holen, doch Dircksen war ebenso voller Bedenken gegen elektrische Hochbahnen wie der Großteil der Abgeordneten und Beamten. Dabei schien die Zeit reif dafür, und der Architekten-Verein zu Berlin hatte im März 1882 eine Monatskonkurrenz für eine in einer Stadt anzulegende zweigleisige Pfeilereisenbahn ausgeschrieben, die von Zügen befahren werden sollte, deren Lokomotiven nicht schwerer als die Wagen sein sollten. Bei Siemens hatte man anfangs über diese Formulierung gelacht, war doch offensichtlich an einen elektrischen Antrieb gedacht worden, sich dann aber den preisgekrönten Entwurf eines O. Donnerberg genauer angesehen.

»Dass die Linien radial vom Belle-Alliance-Platz ausgehen sollen, halte ich nicht für sonderlich originell«, sagte Werner Siemens. »Interessant sind allerdings die Überlegungen, die Donnerberg hinsichtlich der Bahnhöfe angestellt hat, diese perronartigen Erweiterungen links und rechts der Gleiskörper, die direkt von der Straße aus über Treppen erreicht werden können. Unter dem Gleiskörper sollen Warteräume eingerichtet werden.«

»Aber der Magistrat hat darauf überhaupt nicht reagiert«, sagte Abendroth.

»Der reagiert erst, wenn der Verkehr auf unseren Straßen endgültig zusammengebrochen ist.« Siemens war kein Mann der gefühlsmäßigen Aufwallungen, konnte aber einen langgezogenen Seufzer nicht ganz unterdrücken. »Die elektrische Schnellbahn muss kommen – egal, ob über oder unter der Erde.«

»Unter der Erde wohl kaum«, stellte Abendroth fest und hielt einen Briefbogen hoch. »Herr Dircksen hat noch einmal geschrieben, dass er in Berlin wegen der ungünstigen Bodenverhältnisse eine Ausführung der elektrischen Bahn als Untergrundbahn für ausgeschlossen hält.«

»Ja, der Schwemmsand und der hohe Grundwasserspiegel. Wir sind eben nicht in London. Fels müsste man haben.«

»Oder wenigstens eine bewegliche Obrigkeit wie in New York«, fügte Abendroth hinzu.

Aber auch dort rollten trotz der besseren Bedingungen noch keine elektrischen Bahnen, so weit war noch keiner, und Werner Siemens konnte weiterhin davon träumen, weltweit der Erste zu sein. Er spornte seine Leute an, und so kam es 1883 zu einem Entwurf für eine Hochbahn durch die Leipziger Straße. Anders als bei der Planung für die Friedrichstraße sollte es keine Pfeilerbahn werden, sondern eine Konstruktion, die Abendroth immer an einen Laubengang erinnerte. Entlang der Bordsteinkanten sollte es Säulenreihen geben, auf denen Eisenträger auflagen, die über die gesamte Straßenbreite reichten. Auf denen nun lagen die Schienen. Das Ganze wurde aus statischen Gründen durch andere Träger ergänzt, so dass ein kastenförmiges Gitterwerk entstand, das sehr licht aussah. New York hatte den Siemens-Leuten ein wenig als Vorbild gedient, nur konnten sie sich eine viel leichtere Konstruktion leisten, da man es nicht mit schweren Dampflokomotiven zu tun hatte, auch war man viel weiter, was das Bauen mit Eisen betraf. Um wie viel filigraner und eleganter wirkte doch, bei gleicher Belastbarkeit, eine Konstruktion aus Eisen gegenüber einer aus Holz.

»Den Vorwurf, wir würden die Straßen verdunkeln, haben wir nun nicht mehr zu befürchten«, sagte Siemens zu seinen Mitarbeitern. »Und sehr schön ist, dass Sie die seitlichen Stützen zugleich als Laternen ausgebildet und reich dekoriert haben, das wird die Ästheten überzeugen. Diesmal werden James Hobrecht und seine Beamten keine ernsthaften Bedenken gegen uns vorbringen können.«

Abendroth begann, laut zu denken. »Man müsste mal privat mit ihnen reden. Zum Beispiel mit diesem Blumenthal.«

»Ich bitte Sie!« Siemens war empört. »Ich dulde keine Bestechungsversuche.«

»Wer redet denn von so etwas?!« Abendroth hob abwehrend die Hände. »Nur einmal ertasten, wie man den Herrn Baurat am besten überzeugen kann.«

Einer der Ingenieure lachte. »Na, ganz einfach: indem wir unsere elektrischen Züge durch seine Kanalisation fahren lassen.«

Siemens schien auch das für bedenkenswert zu halten. »Warum nicht. Aber wie verkleinern wir die Menschen zu diesem Zwecke? Nur Kinder auf diese Art und Weise zu befördern, ist nicht eben ökonomisch.«

Abendroth kam nicht los von seinem Gedanken, die Front Hobrecht durch private Kontakte zu seinen Untergebenen nach und nach aufzuweichen. »Ich kenne den Bruder von Berthold Blumenthal, den Theodor. Der ist von Hause aus Journalist und hat einmal hier bei uns recherchiert, um einen Artikel über unsere Lichterfelder Straßenbahn zu schreiben. Vielleicht bringt er mich mit seinem Bruder zusammen.«

Berthold Blumenthal hatte in diesen Tagen ganz andere Dinge im Kopf als elektrische Bahnen. Das lag an einer ganz speziellen Einladung seines Bruders. Die Kreuzberger Sozialdemokraten hatten in der Gastwirtschaft Danzenberg in der Manteuffelstraße 32 einen Plan ausgebrütet, um die politische Polizei einmal kräftig hereinzulegen.

»Am Sonntag draußen in Treptow«, erklärte ihm Theodor, »bei unserer Corpora, der Vollversammlung aller Vertrauensleute, kommen so viele Menschen zusammen, dass wir uns in der Stadt nicht ungesehen treffen können. Also müssen wir ins Grüne hinaus. Aber die Geheimen sind inzwischen so tüchtig, dass sie uns auch da entdecken und umzingeln. Bleiben uns nur die Finten. Und eine wollen wir jetzt einmal ausprobieren. Wenn du ein richtiges Abenteuer erleben willst – du kannst gerne mitkommen.«

»Nur nicht!«, rief Magdalena Blumenthal, die vom Nebenzimmer aus mitgehört hatte. »Berthold, denke daran: Du bist Beamter.«

»Ja, aber die Berliner Kanalisation wird dadurch nicht undicht, dass ich mich am Sonntag unter die Sozialdemokraten mische.«

Seine Frau sah das anders. »Was soll die Afterwelt von uns denken?«

»Die Nachwelt ist mir ziemlich egal.«

»So kannst du nicht auffußen.« Auftreten meinte sie. »Und dass Theodor deine sozialistischen Neigungen noch besteift, gefällt mir gar nicht. Du bist alt genug, sittliche Reife zu zeigen, du musst nicht derart dahlen. Was ihr beide da treibt, ist wirklich waglich und verunruhigt mich.«

Aber trotz aller Bedenken seiner Frau war Berthold Blumenthal dabei, als es am Sonntag zum großen Coup nach Treptow ging. Die Genossen trafen sich an der Oberbaumbrücke und gaben sich den Anschein, zu einer Wanderung die Spree hinauf nach Cöpenick aufbrechen zu wollen. Man hatte Vertrauen zu Berthold Blumenthal, und so konnte er alles mithören, was die Sozialdemokraten bewegte und belustigte.

Das Sozialistengesetz sah im § 28, Absatz 1, vor, dass Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu besorgen ist, der Aufenthalt in den Bezirken oder Ortschaften versagt werden kann. So hatte man am Abend des 15. Juli 1882 zehn mutmaßliche Mitglieder des Berliner Zentralkomitees aus Berlin abgeschoben: fünf Tischler, zwei Schlosser, einen Maurer, einen Schuhmacher und einen Ungelernten.

Einer der Männer, der neben Berthold Blumenthal stand, hatte seinen Bruder zum Anhalter Bahnhof begleitet. »Bestimmt tausend Genossen waren da, um Abschied zu nehmen. Der Wartesaal voll, der Vorsaal voll. Ein Riesenlärm. Da klettert Polizeileutnant Henke auf den Tisch und bittet um Ruhe. Ja, denkste! Wir antworten mit einem stürmischen Hoch auf die Sozialdemokratie! Die Arbeitermarseillaise wird angestimmt. Da fangen die Polizisten mit der Räumung an, wir wehren uns. Die gebrauchen die Plempe, immer drauf. Die Frau vom Hertel, den sie ausweisen wollen, wird an den Haaren aus dem Saal geschleift. Und weißt du, was sie dann gemacht haben?«

 

»Nee, ick war ja nich dabei.«

»Als die drinnen im Saal et nich jeschafft haben, uns zu bändigen«, fiel ein anderer ein, »ham se uns alle mit Kreide ’n Kreuz uff ’n Rücken jemalt und dann uff die Straße gejagt. Da war inzwischen ’ne Riesentruppe von Polizisten anjerückt, die ham uns dann jepackt.«

Berthold Blumenthal war nicht ganz wohl, als er daran dachte, dass ihm das heute auch widerfahren konnte. Sicherheitshalber sagte er danke, als der Sozialdemokrat verteilt wurde. Er wusste von seinem Bruder, dass die Zeitung im Züricher Exil gedruckt und auf verschiedenen Wegen nach Berlin geschmuggelt wurde. Als Deckadresse diente die Textilhandlung der Gebrüder Singer am Werderschen Markt 4. Die eingehenden Zeitungs- und Flugblattpäckchen waren als Schweizer Käse deklariert.

»Der Paul Singer, der macht sein Weg bei uns, pass ma uff.«

Berthold Blumenthal stand gerade bei seinem Bruder, als plötzlich ein Mann auf sie zukam und seinen Zylinder zog.

»Sie erinnern sich, Herr Blumenthal?« Gemeint war Theodor. »Erich Abendroth mein Name.«

»Natürlich erinnere ich mich an Sie, Herr Oberingenieur – die Firma Siemens & Halske. Darf ich Ihnen meinen Bruder vorstellen: Berthold, die rechte Hand von Baurat Hobrecht.«

Abendroth lächelte. »Ah, Sie sind es also, der immer alle unsere Pläne ablehnt.«

»Tut mir leid, aber … aber …« Berthold Blumenthal geriet ins Stottern, denn er hatte begriffen, dass er mächtig in der Falle saß. Natürlich war der Siemens-Mann nicht durch Zufall hier, sondern hatte irgendwie herausbekommen, dass die Sozialdemokraten heute einen großen Coup planten, und wollte ihn sozusagen in flagranti ertappen. Jeder Beamte hatte sich politischer Mäßigung zu befleißigen, und erfuhren sie beim Magistrat, dass er, Berthold Blumenthal, an einem Treffen der sozialdemokratischen Vertrauensleute teilgenommen hatte, würde man ihn auf die Straße setzen. Abendroth konnte ihn also erpressen.

»Entweder Sie sorgen dafür, dass Hobrecht seinen Widerstand gegen unsere Schnellbahnpläne aufgibt – oder Sie können betteln gehen.«

Berthold Blumenthal wurde heiß und kalt zugleich, zumal auch noch sein Bruder Partei für Siemens ergriff.

»Ich bin nun weiß Gott kein Freund des Kapitals«, sagte Theodor. »Aber würde man Berlin, wie es Werner Siemens vorschwebt, mit einem Netz elektrischer Bahnen überziehen, hätten wir Arbeit für Hunderte von Menschen, die sonst von der Hand in den Mund leben müssen.«

Was blieb Berthold Blumenthal da anderes übrig, als zu beteuern, dass er sich alle Mühe geben würde, James Hobrecht umzustimmen.

»Das würde mich sehr freuen.« Erich Abendroth lüftete abermals seinen Zylinder. »Dann werde ich mich wohl schnellstens wieder entfernen, bevor die Geheimen zu Protokoll nehmen, dass ich mich mit Ihnen getroffen habe, meine Herren.«

Nun wurde es spannend, denn allzu auffällig hatten einige Herren im Hintergrund Stellung bezogen. Der Plan, sie loszuwerden, war einfach: »Einige der bekanntesten Genossen verlangsamen ihren Schritt, während die übrigen mit höchstmöglichem Tempo vorausmarschieren. In Treptow mieten wir alle verfügbaren Boote, steigen ein und machen uns fertig zum Ablegen.«

So wurde dann auch verfahren, und als die Nachzügler an den Stegen ankamen, konnten sie so schnell in die Boote springen, dass die Geheimpolizisten keine Chance mehr hatten, ihnen zu folgen, war ihnen doch aufgegeben worden, sich in einiger Entfernung von den Genossen zu halten.

Die Sozialdemokraten stießen jubelnd ab und fuhren über die Spree, um am anderen Ufer ungestört zu tagen.

Berthold Blumenthal war weniger froh gestimmt, als er mit der Pferde- und der Stadtbahn nach Hause in die Kurstraße fuhr. Solange die Sozialdemokratie als Verbrechen angesehen wurde, hatte ihn Abendroth in der Hand. Sicherlich war der Mann zu seriös, um seinen Trumpf groß auszuspielen, und mit Sicherheit war dem Firmeninhaber die ganze Sache eher peinlich, dazu war er noch immer zu sehr Offizier und auf seine Ehre bedacht, aber auch wenn alles unausgesprochen blieb, lastete ein erheblicher Druck auf ihm, war er doch in seinen Entscheidungen nicht mehr völlig frei. Aber war denn James Hobrecht frei? Nein, sicher nicht, der hing an seiner Kanalisation wie die Inder an ihren heiligen Kühen oder ein liebender Vater an seinen Kindern.

So war Berthold Blumenthal ziemlich befangen, als man sich in seiner Behörde drei Tage später daranmachte, die neuen Pläne von Siemens zu diskutieren. Er selber fungierte als interner Gutachter und wurde von James Hobrecht gebeten, der Runde zu vermitteln, worum es ging.

»Nun …« Blumenthal musste mehrfach hüsteln, um den Kloß im Hals zu lockern und schließlich hinunterzuschlucken. Er kam sich vor wie ein Primaner bei der Reifeprüfung. Die sieben anwesenden Kollegen waren die Lehrer, Hobrecht der Schulrat. »Siemens geht davon aus, dass unsere Straßen und unsere zentralen Plätze schon seit Jahrzehnten überlastet sind und man den Verkehr aus dem Straßenraum herauslösen muss. Größere Fahrzeuge müssen her, Droschken allein reichen nicht aus. Es geht auch um Sicherheit, Präzision und Schnelligkeit.«

»Dazu haben wir doch die Stadtbahn!«, rief ein Kollege dazwischen.

»Aber die verkehrt nur in Ost-West-Richtung«, konterte Blumenthal und merkte, dass er schon wie Werner Siemens redete. »Es gibt aber auch einen wesentlichen Verkehr in Nord-Süd-Richtung und in Richtung Nordost und Nordwest und …« Er brach ab, um die Sache nicht ins Lächerliche zu ziehen. »Siemens akzeptiert jetzt, dass Unterpflasterbahnen in Berlin wegen der lebensnotwendigen Kanalisation nicht möglich sind, und plädiert für eine Hochbahn, genauer gesagt für ein Netz von Hochbahnen. Beginnen möchte er mit einer Hochbahn in der Leipziger Straße.«

»Wir sind hier nicht in New York!«, kam es aus der Runde. »Wir lassen uns unser Stadtbild nicht verschandeln, nur damit Mutter Schmitten fünf Minuten eher bei Mutter Behren sein kann.«

»Die Kaufleute werden die Stadt wegen Geschäftsschädigung verklagen«, hieß es von anderer Seite. »Ihre Schaufenster werden von der Hochbahn verdunkelt, und die Leute fahren an ihren Läden vorüber, anstatt durch die Straßen zu flanieren und bei ihnen einzukaufen.«

»Und wer möchte noch im ersten Stockwerk wohnen«, meinte ein anderer, »wenn einem die Leute alle paar Minuten von der Bahn aus ins Schlafzimmer gucken!«

»Es gibt ja so etwas wie Jalousien und Vorhänge«, murmelte Blumenthal.

»Bleiben Sie bitte sachlich, Herr Kollege!«

»Sie müssen ja nicht für die entgangenen Mieten haften, Herr Blumenthal!«

»Aber Berlin braucht den Fortschritt!«, rief Blumenthal.

»Wir sind kein Experimentierfeld für einen vom Größenwahn befallenen Industriellen«, murmelte einer.

Berthold Blumenthal merkte, dass er gegen die vereinten Bedenkenträger keine Chance hatte, also blieb ihm nur die Hoffnung, dass James Hobrecht über seinen eigenen Schatten springen und einsehen würde, dass Berlin nur dann eine Zukunft hatte, wenn es sich ein System elektrischer Bahnen zulegte, die die Straßen nicht noch zusätzlich verstopften, sondern über oder unter der Erde verliefen. Er sah den Baurat erwartungsvoll an.

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