Berliner Filz

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«Hör auf!» Sie warf eine zusammengeknüllte Serviette nach ihm.

«Oh», rief Hermann Kappe, «das wird Otto weniger freuen: Selbstmordversuch in der Zelle.» Im Polizeigefängnis in der Gothaer Straße hatte sich ein 21-Jähriger, der an einem brutalen Überfall auf eine Tabakwarenhändlerin beteiligt gewesen war, das Leben nehmen wollen. Mit einer Scherbe hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten.

«Gibt’s nicht auch was Erfreuliches?», fragte Klara.

«Sicher: Adenauer wieder in Cadenabbia.» Noch immer war der Mann Bundeskanzler. «Drei Raubüberfälle in Schöneberg. Na, das ist ja auch nicht sonderlich erfreulich.»

«Was gibt’s denn abends im Fernsehen?»

«Im ersten Programm Wallenstein mit Wilhelm Borchert in der Titelrolle.»

«Und im zweiten Programm?»

«Um Viertel nach acht Panorama

«O Gott, da zählen sie auch nur wieder alles auf, was angeblich mies ist bei uns!»

Der Sportteil war auch nicht gerade aufregend. Bei der Deutschland-Rundfahrt war Hennes Junkermann in der Rhön geschlagen worden. Hertha BSC hatte im Qualifikationsspiel nach einem 1 : 1 gegen den 1. FC Kaiserslautern die Intertoto-Runde verpasst, weil das Los für die Pfälzer entschieden hatte.

Nach dem Frühstück ging Hermann Kappe erst einmal spazieren. Er empfand seine Wohnung zunehmend als Gefängnis. Gott sei Dank war er noch gut zu Fuß. Viele seiner Altersgenossen saßen schon im Rollstuhl oder gingen zumindest am Stock. Seine Route war immer dieselbe. Ein paar hundert Meter ging er, nachdem er aus dem Haus getreten war, die Wartburgstraße entlang, dann bog er ab in die Berchtesgadener Straße. Schon allein der Straßenname löste angenehme Gedanken in ihm aus: an den Watzmann, den Königssee. Klara liebte das Meer, er die Berge. Den nächsten Urlaub wollten sie in Berchtesgaden verbringen.

Er kam auf die Grunewaldstraße und ging Richtung Bayerischer Platz. Ein ziemlich leerer Zug der Linie 3 ratterte an ihm vorbei. Die Straßenbahn wollten sie in West-Berlin völlig abschaffen, um eine autogerechte Stadt zu schaffen. Je näher er dem Bayerischen Platz kam, an desto mehr frei geräumten Trümmergrundstücken ging er vorbei. Zwischendurch erblickte er auch einige kastenförmige Neubauten. «Berlin baut auf!», so hatte es gleich nach dem Krieg geheißen. Am Bayerischen Platz standen die prunkvollen alten Mietshäuser nur noch auf der westlichen Seite. Gott, musste das vor dem Krieg hier schön ausgesehen haben! Er stieg zur U-Bahn hinunter. Nicht um zum Innsbrucker Platz zu fahren, sondern nur, um die herrliche Architektur zu genießen. 1910 war der Bahnhof eröffnet worden. In diesem Jahr war er aus Wendisch Rietz nach Berlin gekommen. Er konnte sich noch genau an diesen Tag erinnern. Damals war Schöneberg noch eine selbstständige Gemeinde gewesen, viel wohlhabender als Berlin. Ein halbes Jahrhundert war das nun schon her. Unfassbar!

Er stieg wieder ans Tageslicht hinauf und lief nun die Innsbrucker Straße Richtung Süden entlang, immer auf dem Rücken der U-Bahn sozusagen. Er hatte noch die Fotos im Gedächtnis, auf denen die Tunneldecke von Bomben weggesprengt worden war und es deshalb so aussah, als würden die gelben Züge in einer Rinne fahren. Er kreuzte erst die heimatliche Wartburg-, dann die Badensche Straße, wo er einen Doppeldeckerbus vorüberlassen musste. Es war der 4er zum Brixplatz im noblen Westend. Vor ihm erstreckte sich nun in einer alten eiszeitlichen Rinne der Wilmersdorfer Volkspark. Die U-Bahn wurde auf einer Art Brücke über diese Mulde hinweggeführt, und unter dieser Brücke lag der U-Bahnhof Rathaus Schöneberg, der bis 1951 den Namen Stadtpark getragen hatte. Hermann Kappe spazierte jetzt auf breiten Parkwegen. Obwohl ihm das als hochgradig albern erschien, hielt er ständig nach einer Leiche im Gebüsch Ausschau. Die Kommentare in den Zeitungen wären großartig gewesen: Seine Spürnase ließ ihn auch viele Jahre nach der Pensionierung nicht im Stich.

Er überquerte die ehemalige Kaiserallee, nun in Bundesallee umbenannt. Die kannte er schon aus Kästners Emil und die Detektive. Vielleicht war es Kästner gewesen, der in ihm früh den Wunsch geweckt hatte, einmal zur Kripo zu gehen. Am Fußballplatz, kurz vor der Blissestraße, machte er halt, um den Spielern des 1. FC Wilmersdorf einen Augenblick lang zuzusehen. Dabei versuchte er sich daran zu erinnern, ob er in seiner Zeit bei Viktoria 89 einmal hier gespielt hatte, vor dem Ersten Weltkrieg noch oder während des Kriegs. Es fiel ihm nicht mehr ein. Jedes Spiel dauerte neunzig Minuten, dann wurde abgepfiffen. Betrachtete er sein Leben, dann war jetzt vielleicht schon die 86. Minute angebrochen, aber niemand kannte ja Tag noch Stunde.

Er schlenderte jetzt auf der südlichen Seite des Parks entlang und kam an der Kufsteiner Straße dicht am RIAS vorbei, einer der heiligen Kühe der West-Berliner. Seine Sendungen waren ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens geworden, ob es nun montags die Schlager der Woche waren oder die legendäre Krimireihe Es geschah in Berlin von Werner Brink. Es war ein Ritual, jeden Sonntag um Viertel vor elf Friedrich Luft mit seiner Stimme der Kritik und anschließend das Geläut der Freiheitsglocke zu hören. Aber auch andere Sendungen bestimmten den Alltag, so Berlin spricht zur Zone, Damals war’s, Geschichten aus dem alten Berlin, Die Rückblende, Kutte kennt sich aus, Onkel Tobias, Wer fragt, gewinnt mit Hans Rosenthal, Wo uns der Schuh drückt mit dem jeweiligen Regierenden Bürgermeister und natürlich Die Insulaner. Deren Lieder hatte er ständig im Ohr. Edith Schollwer sang das Insulanerlied. Er kannte sie alle: Günter Neumann schrieb die Texte, Bruno Fritz war der Herr Kummer, Joe Furtner der Professor Quatschnie, Walter Gross der Jenosse Funzionär, Tatjana Sais und Agnes Windeck gaben die Klatschdamen vom Kurfürstendamm.

Hermann Kappe schlenderte weiter und kam zum Vorplatz des Rathauses Schöneberg, des Sitzes des West-Berliner Parlaments und des Regierenden Bürgermeisters. Willy Brandt war das jetzt seit 1957 – ein Glücksfall für West-Berlin. Auf dem Posten hatten sie ja anfangs den charismatischen Ernst Reuter gehabt («Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!»), dann aber mit Walther Schreiber eine ziemliche Null. Otto Suhr, der ihm nachgefolgt war, hatte auch keine Bäume ausgerissen. Beim Blick zum Rathausturm hinauf hörte Hermann Kappe ganz automatisch die Freiheitsglocke läuten und die sonore, gottähnliche Stimme im RIAS: Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde des einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich schwöre, der Aggression und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo immer sie auf Erden auftreten werden.

Mit diesen hehren Worten im Kopf kehrte Hermann Kappe über die Martin-Luther-Straße nach Hause zurück. An die fünf Kilometer mochten es gewesen sein, die er zurückgelegt hatte. Er sank erst einmal aufs Sofa und schlief kurz danach ein.

Zum Kaffee kam Otto mit Gertrud vorbei. Hermann Kappe konnte ein Gefühl des Neids nicht ganz unterdrücken. Der Neffe war gerade einmal 51 Jahre alt, stand noch voll im Saft und hatte jede Menge interessanter Fälle zu bearbeiten.

«Was liegt denn gerade an bei euch?», lautete dann auch die erste Frage, kaum dass der Neffe Platz genommen hatte.

Otto Kappe hätte lieber über Fußball oder die Familie geredet. «Nicht viel. Nur die Schüsse auf diesen Studienrat oben in Hermsdorf, Hans-Peter Habedank. Bislang haben wir keine Spur.»

Wie gerne hätte Hermann Kappe jetzt gehört, dass man ohne ihn hilflos sei, doch Otto ließ nichts dergleichen verlauten.

Auch Hertha Börnicke, Hermanns Cousine, kam zum Kaffee. Sie hatte Multiple Sklerose und ging am Stock. Schließlich erschien noch Peter, Otto und Gertrud Kappes einziger Sohn. Er studierte jetzt an der FU Psychologie.

«Seelenklempner will er also werden», hatte Hermann Kappe gebrummt, als Otto ihm davon erzählte. «Na, soll er … Dann kann er sich wenigstens selber therapieren.»

«Wenn das in Deutschland so weitergeht, müssen wir alle in die Therapie», hatte sein Neffe dagegengehalten. «Erster Weltkrieg, NS-Diktatur, Zweiter Weltkrieg, Spaltung Deutschlands, Berlin-Blockade und jetzt der Mauerbau – da müssen wir ja alle ’ne Macke kriegen!»

Dann beredeten sie Familiäres. Was Hermann Kappes Bruder Albert in Wendisch Rietz und sein ältester Sohn Hartmut in Ost-Berlin wohl machten? Sie zu besuchen war ja ein Ding der Unmöglichkeit.

«Im Osten nichts Neues.» Hertha Börnicke, die früher beim RIAS gewesen war und aus der Zone berichtet hatte, wusste noch immer bestens Bescheid über das, was in der DDR so geschah. «In Ost-Berlin soll es eine Ruhrepidemie gegeben haben, und die Nationale Front hat ein ‹Komitee zum Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse in Westdeutschland und ihrer Veränderungen› gegründet.»

«Das haut ja den stärksten Eskimo vom Schlitten!», rief Otto Kappe. «Mehr ist da nicht los?»

«Da musst du schon Hartmut fragen. Was bei der Kripo so an großen Fällen anliegt, muss der ja am besten wissen.»

«Nie was vom Kontaktverbot gehört?»

«Doch. Das ist ja der Witz daran.»

Auf dieses Stichwort hin erzählten sie sich nun die gängigen DDR-Witze.

Hertha Börnicke machte den Beginn. «‹Du, Schatz, ich lese hier gerade: Die DDR gehört zu den zehn führenden Industrienationen der Welt. Ich glaube, das schreibe ich mal unserem Onkel Herbert in Düsseldorf.› – ‹Klar, mach das … Dann kannst du ihn auch gleich bitten, zu Ostern ein paar Rollen Klopapier mitzuschicken.›»

Hermann Kappe war der Nächste. «Ein treues SED-Parteimitglied kehrt von einer Dienstreise aus der Bundesrepublik zurück. Sein Vorsitzender fragt ihn: ‹Na Genosse, haben Sie den faulenden und sterbenden Kapitalismus gesehen?› – ‹Ja.› – ‹Und was halten Sie davon?› – Die Antwort kommt mit verklärtem Gesichtsausdruck: ‹Es ist ein sehr schöner Tod …›»

 

Auch Otto Kappe wollte sich nicht lumpen lassen. «Ein DDR-Bürger geht spät in der Nacht durch Ost-Berlin und ruft lauthals immer wieder: ‹Scheißstaat, Scheißregierung!› Sofort taucht ein Stasi-Offizier auf und verhaftet ihn. Der Verhaftete verteidigt sich: ‹Ich habe ja gar nicht gesagt, welchen Scheißstaat und welche Scheißregierung ich meine.› Der Stasi-Offizier denkt kurz nach und lässt den Mann wieder laufen. Der verschwindet, wird aber zwei Minuten später von dem Stasi-Offizier wieder eingeholt und erneut verhaftet. Darauf der Mann: ‹Warum denn das?› Entgegnet der Stasi-Mensch: ‹Es gibt ja nur einen Scheißstaat und eine Scheißregierung.›»

Peter Kappe wollte sich nicht an der Diskriminierung der DDR und ihrer Bürger beteiligen, hatte aber bei Freud etwas über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten gelesen. «Freud spricht von der Euphorie des spontanen Lachens und erkennt darin einen Widerschein unseres vergangenen Kinderglücks, denn der Witz erlaubt es uns, uns für Augenblicke vom Verdrängungsdruck der Kultur zu befreien.»

Alle nickten schwer beeindruckt von seinen frischerworbenen Erkenntnissen.

«Wer liegt auf dem Friedhof neben Freud?», fragte Hermann Kappe seinen gebildeten Großneffen.

«Keine Ahnung.»

«Na, Leid. Denn Freud und Leid liegen doch dicht beieinander.»

Klara fiel kein DDR-Witz ein, worauf Hertha Börnicke alles glasklar analysierte. «Der eingemauerte West-Berliner gewinnt seine Identität und seinen Überlebenswillen nicht zuletzt dadurch, dass er über alles, was in der Ostzone passiert, spöttisch herzieht.»

Otto Kappe klatschte ihr Beifall. «Mensch, Hertha, was wären wir ohne dich!»

Hermann Kappe setzte noch einen drauf. «Lieber Hertha Börnicke als Hertha BSC.» Den Verein sah er schon absteigen, wenn es diesen Sommer mit der Bundesliga losging. «Ich hätte lieber Tasmania 1900 in der Bundesliga gesehen.»

«Deine Tasmanen spielen ja nächste Woche gegen den 1. FC Nürnberg in der Vorrunde um die Deutsche Meisterschaft», sagte Klara. Karl-Heinz, ihr jüngerer Sohn, wolle auch hingehen.

Karl-Heinz Kappe, nun auch schon 35 Jahre alt, war ein windiger Bursche geblieben, obwohl er es bei der SBN, der Südost Bau Neukölln, bis zum Prokuristen gebracht hatte. Dass er es mit den Gesetzen mitunter nicht ganz so genau nahm, hatte ihn in seiner Branche schnell aufsteigen lassen.

Heute nun, am Ostersonnabend, ließ er Arbeit Arbeit sein und fuhr mit seinen Freunden Manne und Rudi in der überfüllten U-Bahn ins Olympiastadion raus, um das Spiel von Tasmania 1900 gegen den 1. FC Nürnberg mitzuerleben. Die Karten hatte ihnen sein Chef spendiert. Rudolf Orkusch selbst war in sein Ferienhaus nach Vietze im Wendland gefahren. Solch ein Haus auf dem Land wurde bei den Neureichen in West-Berlin langsam Mode.

Aufgrund der anstehenden Fußball-Weltmeisterschaft in Chile wurde die Vorrunde nur in vereinfachter Form ausgetragen. Jede Mannschaft hatte ein Heimspiel, ein Auswärtsspiel und ein drittes Spiel an einem neutralen Ort.

«Nürnberch, det is schon wat», stellte Manne fest.

«Ja, aba nur, weil die den Morlock ham. Wenn de den kaltstellst, haste schon jewonn’n.»

«Der Strehl is aba ooch nich schlecht.»

Karl-Heinz Kappe gefiel es am besten, dass die Nürnberger einen Verteidiger mit Namen Derbfuß hatten. Viel Spaß aber hatten sie als Berliner nicht, denn Tasmania 1900 sollte am Ende mit 1 : 2 verlieren. Auf dem Nachhauseweg stieß Karl-Heinz Kappe auf dem Olympischen Platz mit einem Mann zusammen, den er dort nicht vermutet hätte: dem Bausenator Arnulf Klaffenbach.

«Sie hier?», staunte er.

«Ich bin nur hier, um die Bausubstanz des Olympiastadions zu kontrollieren.»

Karl-Heinz Kappe fand Klaffenbach einen komischen Vogel. Er wusste so einiges über ihn. Klaffenbach war geborener Berliner und 47 Jahre alt. Der Vater Arthur Klaffenbach war Philosophieprofessor, die Mutter Isolde Oberstudienrätin für Deutsch und Latein. Nach dem Abitur hatte der Sohn Kunstgeschichte und Architektur studiert. Verheiratet war er auch, Hannelore hieß die Glückliche mit Vornamen, drei Kinder hatten sie: Bernhard, geboren 1944, Beate, Jahrgang 1946, und Friedhelm, der 1950 das Licht der Welt erblickt hatte. Arnulf Klaffenbach war hochgewachsen und sehr sensibel, spielte Cello und schrieb Gedichte. Eines davon hatte sogar im Berliner Tagesspiegel gestanden, Karl-Heinz Kappe hatte es ausgeschnitten.

Heutungen

Morgen ist Heute

Gestern ist Heute

Es gibt kein Morgen mehr

Es gibt kein Gestern mehr

Darum lebe Du

Heute heute heute

und

Häute Dich

Warum interessierte Karl-Heinz Kappe das alles? Er ging davon aus, dass alle Menschen käuflich waren, und wenn er jemanden kaufen wollte, dann war es immer gut, alles über ihn zu wissen.

Rund vierzehn Tage später sah er Arnulf Klaffenbach wieder. Das war am 4. Mai 1962, als sich ganz West-Berlin auf dem Falkenhagener Feld zur Grundsteinlegung traf. Das Falkenhagener Feld, das westlich der Spandauer Altstadt gelegen war, wurde noch für die innerstädtische Landwirtschaft genutzt und war außerdem reich mit Schrebergärten und den dazugehörigen Lauben bestückt. Hier sollte nun aufgrund der Wohnungsnot in West-Berlin links und rechts der Falkenseer Chaussee eine der drei geplanten Großsiedlungen entstehen. Man hatte sogar vor, sie mit einer U-Bahn-Linie an die Innenstadt anzubinden. Das betonte Klaffenbach jedenfalls in seiner Rede.

Karl-Heinz Kappe war aber nicht in den äußersten Zipfel Spandaus gekommen, um den Senator zu hören, sondern um mit Baustadtrat Ralf-Werner Wolla zu reden. Die SBN brauchte dringend ein paar neue Aufträge.

«Ihr Haus in Hermsdorf, Herr Wolla, könnte durchaus einen preiswerten Anbau vertragen …»

Wer gut schmiert, der gut fährt. Karl-Heinz Kappe wusste, wie die Welt funktionierte.

DREI

DIE FREIE UNIVERSITÄT BERLIN war die Antwort des Westens auf die Übernahme der alten Berliner Universität Unter den Linden durch die Kommunisten Anfang 1948. Der Lehrbetrieb wurde am 15. November 1948 in Gebäuden der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Dahlem aufgenommen. Im Umkreis des Hauptgebäudes der FU, des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biologie, mietete man nun für die einzelnen Institute etliche Villen an. Zudem wurden die Mensa, verschiedene Fakultätsgebäude und der Henry-Ford-Bau mit dem Audimax und der Bibliothek neu errichtet.

Auf einer der Bänke zwischen der Juristischen Fakultät in der Van’t-Hoff-Straße und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in der Garystraße hatten zwei Studenten des dritten Semesters in der Maiensonne Platz genommen: Rainer Arys und Wilhelm Pandelwitz. Sie hatten schon im Buddelkasten miteinander gespielt, da ihre Elternhäuser am Hermsdorfer Klosterheider Weg aneinandergrenzten. Beide waren süchtig nach Karl May und hatten sich ewige Blutsbrüderschaft geschworen. Außenstehende hielten sie für homosexuell, aber das waren sie nicht, sie hatten lediglich Angst, sich in ein und dieselbe Frau zu verlieben.

Vom Körperbau und ihren Interessen her unterschieden sie sich gehörig. Rainer Arys war der untersetzte, muskulöse Typ, lief die hundert Meter beim SC Tegeler Forst in 11,3 Sekunden, während man Willy Pandelwitz, der die klassische Musik mehr liebte als den Sport, in früheren Zeiten wohl gemäß der Kretschmer’schen Typologie als Leptosomen bezeichnet hätte.

Selbstverständlich hatten sie in der Schule von der ersten Klasse bis zum Abitur im März 1961 an der Hermsdorfer Georg-Herwegh-Schule immer nebeneinandergesessen. Jetzt studierten sie beide an der Fakultät der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der FU, Rainer Arys hatte als Hauptfach Soziologie, Willy Pandelwitz Politologie. Allzu viele Lehrveranstaltungen jedoch besuchten sie nicht, denn zum einen war es vom hohen Norden, sprich Hermsdorf, bis in den tiefen Süden zur FU fast schon eine Weltreise, und zum anderen ließ ihnen ihr Engagement in einer ganz bestimmten studentischen Organisation nicht viel Zeit. Es handelte sich um die Gruppe Koch, die sich auf Fluchthilfe und Anschläge gegen die Mauer spezialisiert hatte. Politisch standen sie, zum Leidwesen ihrer Eltern, der Brandt’schen SPD nahe und waren auch Mitglieder des Sozialdemokratischen Hochschulbundes, des SHB, der sich im heftigen ideologischen Konflikt mit dem SDS befand, dem Sozialistischen Hochschulbund, dessen zunehmend gesellschaftskritisch-antikapitalistische Haltung sie ablehnten.

Heute aber sollte erst einmal studiert werden. Zuerst ging es zur Vorlesung Einführung in die Organisationssoziologie von Renate Mayntz in den mittelgroßen Hörsaal 104. Sie erwarteten eine ergraute akademische Oberrätin um die sechzig und waren in höchstem Maße erstaunt, als eine mehr als ansehnliche junge Frau, die vielleicht gerade die dreißig überschritten hatte, ans Katheder trat. Sie hatte einige Jahre an der Columbia University verbracht und referierte nun ausführlich über die recent trends ihrer Wissenschaft. Das war nicht uninteressant, dennoch folgten Pandelwitz und Arys der Vorlesung nicht sonderlich aufmerksam, denn alles war in einem rororo-Bändchen der Mayntz nachzulesen.

Danach begannen des Tages Mühen erst so richtig, denn sie hatten im Proseminar von Prof. Otto Stammer ein Referat über Frühe Anarchisten in Berlin zu halten. Statt fand alles in einem der kleineren Hörsäle der WiSo-Fakultät, deren breite Fenster auf die kaum befahrene Garystraße hinausgingen. Bei etwa zwanzig Teilnehmern herrschte hier eine geradezu intime und gemütliche Atmosphäre, von der unaufhaltsam heraufziehenden Massenuniversität war noch nicht viel zu bemerken.

Otto Stammer, der 1900 in Leipzig das Licht der Welt erblickt hatte, war ein höchst interessanter Mann. Er war seit 1959 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und galt als einer der führenden Vertreter der Politischen Soziologie. Früh war er in die SPD eingetreten und hätte es bis in den Reichstag gebracht, wenn nicht 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergriffen hätten. So war ihm nur das Abtauchen geblieben. Dennoch war er als «Politischer» verhaftet worden. Nach seiner Entlassung hatte er sich erst als Arbeitsloser durchgeschlagen und war dann in verschiedenen Positionen in der pharmazeutischen Industrie tätig gewesen. Nach dem Krieg hatte er als Redakteur und Dozent in Leipzig gearbeitet und war schließlich in den Westen gegangen, um sich an der FU zu habilitieren und mitzuhelfen, das Institut für Soziologie zu gründen. 1951 war er Außerordentlicher und 1954 Ordentlicher Professor für Soziologie und Politische Wissenschaft geworden.

Nicht minder sympathisch waren seine beiden Assistenten, die doctores Günter Hartfiel und Jürgen Fijalkowski. Hartfiel war es auch, der nach ein paar einleitenden Worten Arys und Pandelwitz nach vorn rief und sie bat, die Anwesenden mit ihrem Referat intellektuell zu erfreuen.

Arys begann mit der These, dass der Begriff Anarchismus im Allgemeinen sehr negativ besetzt sei, und belegte dies mit einem Zitat von Paul Elzacher aus dem Jahre 1912. Demnach setzen sich die Anhänger des Anarchismus das Ziel, durch schwere und sinnlose Verbrechen unsere friedliche Gesellschaft zu vernichten und an ihre Stelle das Chaos zu setzen. Pandelwitz führte den Gedanken fort, indem er einige Zeilen aus einem Gedicht des Berliner Schriftstellers schottischer Herkunft John Henry Mackay vortrug: «Anarchie / ​immer geschmäht, verflucht, verstanden nie / ​bist du das Schreckbild dieser Zeit geworden / ​Auflösung aller Ordnung, rufen sie / ​seist du und nimmerendend Morden.»

Nachdem Stammer und seine beiden Assistenten beifällig genickt hatten, kamen Arys und Pandelwitz auf die beiden größten Anarchisten Berlins zu sprechen, auf Gustav Landauer und Erich Mühsam. Arys nahm sich Landauer vor. Der hatte bei ihnen in Hermsdorf in der Schloßstraße 17 gewohnt, und Arys’ Vater, der Werksleiter bei Siemens war, hatte keine Gelegenheit ausgelassen, über ihn herzuziehen. Rainer Arys konnte sich an seinem sehr autoritären Vater rächen, indem er Landauers Schriften zu Hause las und offen herumliegen ließ.

«Gustav Landauer ist am 7. April 1870 in Karlsruhe geboren worden und am 2. Mai 1919 in München gestorben. Studiert hat er Germanistik und Philosophie. Stark beeinflusst haben ihn dabei die anarchistischen Theorien von Bakunin und Kropotkin. Im Oktober 1889 finden wir ihn zum ersten Mal in Berlin, noch als Studenten. Später, um 1901, wohnt er in Friedrichshagen, wo er Kontakte zum dortigen Dichterkreis unterhält, und anschließend lebt er in Hermsdorf. Im Oktober 1893 wird er erstmals verhaftet und wegen der ‹Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Staatsgewalt› zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Ende des Ersten Weltkriegs ist er an vorderster Stelle dabei, als in München die Räterepublik errichtet wird. Nach deren Niederschlagung wird er verhaftet und von Freikorps-Soldaten ermordet.» Damit ließ es Arys an Biografischem genug sein und kam zu den Thesen Landauers. «Nun zu dem, was er Ethischen Anarchismus nennt, und zu seiner Geld- und Wirtschaftsphilosophie … Ziel war für ihn immer die Emanzipation von staatlicher, kirchlicher oder sonstiger gesellschaftlicher Bevormundung und die Suche nach einer Möglichkeit zur Entfaltung des Einzelnen in dem seiner Meinung nach allein sinngebenden Zusammenhang der Gemeinschaft. Die Individuen sollen sich auf freiwilliger Basis in kleinen sozialistischen Gemeinden zusammenschließen, die sich dann frei assoziierend zusammenfügen. Das Privateigentum an Boden solle aufgehoben werden, es solle eine gerechte Tauschwirtschaft geben, in der alle Übel des Geldes und des Zinses aufgehoben seien.»

 

Nachdem Arys geschlossen hatte, referierte Pandelwitz über Erich Mühsam. «Mühsam ist am 6. April 1878 als Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren und in Lübeck aufgewachsen. 1896 musste er wegen ‹sozialdemokratischer Umtriebe› nach Parchim gehen, um dort die Mittlere Reife abzulegen. Anschließend absolvierte er eine Apothekerlehre in Lübeck, und 1902 wurde er in Berlin Redakteur bei der anarchistischen Zeitschrift Der arme Teufel. Doch bei uns hielt es ihn nicht lange, er wanderte durch halb Europa und ließ sich 1909 in München nieder, wo er alsbald zum Mittelpunkt der Schwabinger Boheme werden sollte. Um das Proletariat, also die von der Gesellschaft Geächteten wie Landstreicher, Bettler, Huren und Verbrecher, für seine Ideologie zu gewinnen, gründete er die Gruppen ‹Tat› und ‹Anarchist› – und wurde prompt wegen ‹Geheimbündelei› angeklagt, später aber freigesprochen. Sein Geld verdiente sich Erich Mühsam als Mitarbeiter eines Münchner Kabaretts und verschiedener satirischer Zeitschriften wie des Simplicissimus und der Jugend. Von 1911 bis 1919 gab er die Zeitschrift für Menschlichkeit heraus, Kain betitelt. 1918 gehörte er zu den Anführern der Münchener Räterepublik und wurde nach deren Niederschlagung zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er fünf absitzen musste. Nach seiner Entlassung zog er 1924 wieder nach Berlin, wo er sich in der KPD-nahen Roten Hilfe engagierte, einer Gefangenenhilfsorganisation. 1932 verfasste er seine programmatische Schrift Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. 1933 wurde er von der SA verhaftet und von SS-Männern ermordet. Er schreibt: Im Staat erkenne ich früh das Instrument zur Konservierung all der Kräfte, aus denen die Unbilligkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen erwachsen ist. Die Bekämpfung des Staates in seinen wesentlichen Erscheinungsformen – Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Klassenherrschaft, Zweckjustiz und Unterdrückung in jeder Gestalt – war und ist der Impuls meines öffentlichen Wirkens.»

Stammer und seine Assistenten lobten Pandelwitz’ und Arys’ Ausführungen, und es konnte nun diskutiert werden. Das war die Chance derjenigen Studenten, die der Devise «Ich rede, also bin ich» anhingen.

Einer warf Arys und Pandelwitz vor, sie hätten den anarchistischen Sozialdemokraten und Gewerkschafter Raphael Friedberg vergessen, den Verfechter des Generalstreiks, aber auch den Anarchisten Augustin Souchy aus Berlin-Wilmersdorf, der die Bilanz seines Lebens mit den Worten Viel erstrebt, wenig erreicht zusammengefasst hatte.

«Na, Gott sei Dank!», riefen mehrere Kommilitonen, die der Meinung waren, ohne einen starken Staat ging es nicht, was wiederum die auf den Plan rief, die der FDP nahestanden und so wenig Staat wie möglich wollten.

Die Diskussion wurde abschließend als fruchtbar bezeichnet, und man war allseits zufrieden. Nach Ende der Lehrveranstaltung eilten sie alle zur feierlichen Einweihung des neuen Gebäudes für das Otto-Suhr-Institut in der Ihnestraße 21. Dabei fiel Arys und Pandelwitz ein Kommilitone auf, der dem RCDS, dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten, angehörte und gern Vorsitzender des Allgemeinen Studenten-Ausschusses geworden wäre, aber als Mitglied der schlagenden Burschenschaft Saravia viele Gegner und Feinde hatte: Eberhard Diepgen. Dass der einmal Regierender Bürgermeister werden würde, ahnte noch niemand.

Für Arys und Pandelwitz wurde es schließlich Zeit, sich auf den Weg zu machen, wollten sie rechtzeitig bei Heinrich Koch in der Mommsenstraße sein. Mit der U-Bahn ging es zum Fehrbelliner Platz. Von dort aus fuhren sie mit dem 1er Bus Richtung Moabit bis zur Mommsenstraße. Dort, unweit der Leibnizstraße, hatte Heinrich Koch im Vorderhaus, vierte Etage, eine geräumige Wohnung gemietet. Im sogenannten Berliner Zimmer hatte sich die Mehrzahl seiner Leute schon versammelt.

Koch war eine imposante Persönlichkeit. Eine bestimmte Wirkung erzielte er schon durch seine Größe von nahezu zwei Metern und seinen massigen Körper, der weit über zwei Zentner wog. Dazu kam, dass sein linkes Bein amputiert worden war und ihn seine Prothese eindrucksvoll humpeln ließ. Dies war nicht etwa Folge einer Kriegsverletzung, sondern seiner Zuckerkrankheit. Mit sonorer Stimme begrüßte er alle und kam gleich zum Tagesordnungspunkt Nummer eins.

«Fluchttunnel Wollankstraße. Es war zwar keiner von uns direkt daran beteiligt, aber wir können von dem, was da geschehen ist, auf alle Fälle einiges lernen. Kelly, du weißt am besten Bescheid.»

Kelly war eine Studentin aus Columbus, Ohio, und Arys wie Pandelwitz wären nur allzu gern mit ihr ins Bett gegangen, zögerten aber mit ihren Annäherungsversuchen, um ihre Männerfreundschaft nicht zu belasten. Jeder von ihnen beließ es deshalb bei heimlichen erotischen Fantasien.

Kelly sprach perfekt Deutsch, allerdings mit einem putzigen Akzent. «Ich schildere euch erst einmal die Örtlichkeit. Also, der S-Bahnhof Wollankstraße sitzt auf Gewölbebögen. Er liegt auf Ost-Berliner Gebiet, kann aber nur von West-Berlinern benutzt werden. Vieles ist eben absurd heutzutage. Nun sind unsere Kommilitonen auf die Idee gekommen, in die ungenutzten Gewölbe einzudringen und von dort aus einen Tunnel nach Ost-Berlin zu graben, zu einem Keller in der Schulzestraße. Schön und gut, drei Wochen lang haben sie im Januar gegraben – und aus der Traum! Warum? Weil der Tunnel unter dem Bahnsteig eingebrochen ist. Auf dem Bahnsteig war ein Krater entstanden, Sand ist nachgerutscht.»

«Weil sie die Vibrationen nicht einkalkuliert hatten, die durch die fahrenden Züge entstehen», fügte Koch hinzu. «Das hätte nicht passieren dürfen. Reichsbahner haben alles entdeckt, dann hat die Transportpolizei die Ermittlungen übernommen, und die Presse in der Zone konnte wieder einmal behaupten, der Westen habe versucht, Agenten einzuschleusen. Es gab eine große Pressekonferenz des Ministers für Verkehrswesen.»

In der folgenden Stunde ging es darum, die Aufgaben für die nächsten Wochen zu verteilen.

«Wer sorgt für gute Doppelgänger?», fragte Koch. Sie hatten vor, in West-Berlin Menschen zu finden, die DDR-Bürgern, die in den Westen wollten, ähnlich sahen, und sie um ihre Pässe zu bitten.

Das war nichts für Arys und Pandelwitz. Auch wollten sie nicht mit Bundespässen nach Ost-Berlin gehen, um dort «Deckelmänner» anzuwerben. Das waren Männer, die, nachdem jemand durch die Kanalisation geflüchtet war, die schweren Gullideckel wieder einsetzen sollten, um die Fluchtwege zu kaschieren.