Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten

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2. Die betriebliche Dimension

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Zunächst bezieht sich ein Sozialplan auf den betriebsverfassungsrechtlich definierten Betriebsbegriff. Selbst wenn eine betriebsändernde Maßnahme gleichmäßig über verschiedene Betriebe eines Unternehmens umgesetzt wird und somit der Gesamtbetriebsrat ggf. für den Interessenausgleich zuständig ist, so ist doch weitgehend unbestritten, dass der örtliche Betriebsrat in der Frage des Sozialplanes in der überwiegenden Zahl der Fälle die originäre Zuständigkeit besitzt.4

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Dies ist nicht zuletzt auf die Vorgabe des § 112 Abs. 5 BetrVG zur Bemessung des Sozialplanes in einer Einigungsstelle zurückzuführen, wonach die „sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen“ (§ 112 Abs. 5 Satz 1 BetrVG) sind. Darüber hinaus sind nach § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BetrVG beim Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile Leistungen vorzusehen, die den Gegebenheiten des Einzelfalls Rechnung tragen.

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Unmittelbar einleuchtend ist, dass der wirtschaftliche, in Euro zu bewertende Nachteil von Menschen, die ihren Arbeitsplatz im Umland von wirtschaftsstarken Metropolregionen verlieren, ein anderer ist als für diejenigen, denen dieses Schicksal in eher strukturschwachen Gegenden widerfährt. Wenn nun also ein Unternehmen jeweils einen Betrieb in den beiden genannten Regionen betreibt und an beiden Standorten eine vergleichbare Zahl von Menschen mit vergleichbaren Berufen entlässt, sind die sozialen Belange und wirtschaftlichen Nachteile der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch die Gegebenheiten des Einzelfalls voraussichtlich alleine aufgrund der geographischen Lage und des damit zusammenhängenden sozioökonomischen Umfeldes deutlich unterschiedlich.

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Im Lichte dieser grundsätzlichen Aussagen ist dann vom Betriebsrat zunächst der entstehende wirtschaftliche Nachteil für die Beschäftigten durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu bewerten. Dabei zugrunde zu legen ist das nach Auslaufen der Kündigungsfrist zu erwartende fehlende Entgelt aus dem Arbeitsvertrag inklusive sämtlicher erhaltener Einmalzahlungen und variabler Komponenten sowie zu erwartender Rentennachteile (inkl. Verluste aus nicht mehr bedienter betrieblicher Altersvorsorge). Gegengerechnet werden können diesem Entgeltverlust die möglichen Transferleistungen durch die Arbeitsagentur oder absehbare Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften (Transfergesellschaften). Zusätzlich sind die Aussichten auf eine vergleichbare Anschlussbeschäftigung in absehbarer Zeit ins Kalkül zu ziehen. Letzteres verdeutlicht durch seinen regionalen, räumlichen Bezug die Notwendigkeit der Fokussierung eines Sozialplanes auf die jeweilige betriebliche Perspektive.

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Besonders dieser Aspekt ist häufiger Gegenstand von Auslegungsfragen und Diskussionen. Als Versuch der Objektivierung wird dabei meist die regionale, offizielle Arbeitslosenquote herangezogen, die durch die guten Arbeitsmarktdaten in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts dann unternehmensseitig als Argument für einen geringer zu bemessenden wirtschaftlichen Nachteil herangezogen wird. Dem kann betriebsratsseitig eine tiefergehende Analyse der Arbeitsmarktlage und der tatsächlich verfügbaren offenen Stellen entgegengestellt werden. Hierbei sollten die Qualifikationen der ausscheidenden Beschäftigten mit der Nachfrage am Arbeitsmarkt und den zu erwartenden Arbeitskonditionen abgeglichen werden. Insbesondere bei einem Abbau von un- bzw. angelernten Beschäftigten besteht trotz positiver Makro-Arbeitsmarktdaten ein erhebliches Risiko, in dauerhafte Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigungsformen abzugleiten. Diese oder ähnliche berufsgruppenspezifische oder sozioökonomisch konnotierte Ausgangssituationen bedürfen dementsprechend einer konkreteren Aufarbeitung, als dies lediglich mit einem Blick auf die allgemeine Arbeitslosenquote ermöglicht wird. Hierbei kann ein Blick in die reichhaltige – und leider ein wenig unübersichtliche gestaltete – Statistikseite der Arbeitsagentur helfen. So wird z.B. in einem dort zu findenden Analysetool ersichtlich, dass Menschen ohne Berufsabschluss ein signifikant höheres Risiko haben, in Langzeitarbeitslosigkeit abzugleiten, als dies für Menschen mit betrieblichem oder akademischem Ausbildungsabschluss der Fall ist.5 Die gleiche Aussage lässt sich in eben dieser Analyse für Menschen ab 55 Jahren validieren. Es kann sich daher betriebsratsseitig lohnen, tiefer in statistische Analysen und Berichte einzusteigen, um sich ein genaueres Bild des zu erwartenden wirtschaftlichen Nachteils von betroffenen Kolleginnen und Kollegen zu machen. Neben der genannten Statistikseite der Bundesagentur für Arbeit sei hierzu als weitere mögliche Quellen zur Untermauerung von Argumentationslinien auch auf das Statistische Bundesamt6 sowie auf Daten der Hans-Böckler-Stiftung,7 der Gewerkschaften und entsprechender Branchenverbände verwiesen. Bei sämtlichen dargestellten Quellen ist zudem auch der branchenspezifische Aspekt zu hinterfragen. So ist beispielsweise für ausgebildete Fachkräfte in bestimmten Berufszweigen von höherem Arbeitsmarktrisiko auszugehen als für Fachkräfte in Branchen mit hoher arbeitgeberseitiger Nachfrage. Als Beispiel für erstere Branche ist in der zunehmend digitalisierten Welt der Ausbildungsberuf des Druckers zu nennen, hohe Nachfrage nach Fachkräften besteht zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Beitrags hingegen exemplarisch im Pflegebereich oder auch in Ingenieurberufen.

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Weiterhin sollte bei drohenden Arbeitsplatzverlusten für Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben mitbedacht werden, dass eine neue Stelle oft nur in nicht tarifgebundenen Betrieben zu finden ist. Durchschnittlich sind hierbei meist signifikante wirtschaftliche Einbußen, z.B. in Form geringerer Arbeitsentgelte, schlechterer Sozialleistungen oder längerer Arbeitszeiten zu erwarten. Bei einer ganzheitlichen Betrachtung der Thematik ist auch die Frage des höheren Jobverlustrisikos bei einem neuen Arbeitgeber durch Verlust von kündigungsschutzrechtlichem „Besitzstand“, durch Probezeit und Befristungsmöglichkeiten zu berücksichtigen und in die Betrachtung des wirtschaftlichen Nachteils „einzupreisen“.

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Eine Orientierung für den Ansatz einer Sozialplanforderung seitens des Betriebsrats kann auch bei der durch die Maßnahme erfolgten Einsparsumme angesiedelt sein. So entschied das Bundesarbeitsgericht in seiner sog. „Rheuma-Klinik“-Entscheidung vom 6.5.2003, dass ein Sozialplan nicht deswegen zu hoch sei, weil das realisierte Einsparvolumen durch die Maßnahme um das doppelte überschritten wurde.8 Eine absolute Höchstgrenze ist jedoch auch damit nicht festgelegt. Vielmehr kann eine mögliche Einigungsstelle bei Betriebsänderungen, die auf langfristige Wirkungen angelegt sind, auch einen auf einen längeren Zeitraum bezogenen „Aufzehreffekt“ in Kauf nehmen, ohne dass aus diesem Grunde ihr Ermessensspielraum überschritten wäre.9

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Als weitere Möglichkeit der Bemessung bzw. Beeinflussung der Höhe des wirtschaftlichen Nachteilsausgleichs ist die Ausarbeitung von Alternativmaßnahmen zu benennen. Der Betriebsrat kann im Rahmen der Beratungen zur Betriebsänderung ein Alternativkonzept ausarbeiten. Dieses könnte im Idealfall die gleichen wirtschaftlichen Effekte zur Folge haben wie das arbeitgeberseitig vorgelegte Programm, dabei jedoch deutlich geringere negative Auswirkungen für Beschäftigte enthalten. Wenn demzufolge nachweislich der gleiche wirtschaftliche Erfolg auch mit milderen personalseitigen Maßnahmen zu erreichen wäre und das Unternehmen aber an der ursprünglichen unternehmerischen Planung festhält, kann der wirtschaftliche Nachteilsausgleich auch höher bemessen werden. Denn in diesem Fall verzichtet der Unternehmer auf die Möglichkeit eines geringeren Sozialplanvolumens, um seine strategischen Überlegungen im Hinblick auf die weitere Unternehmensfortentwicklung zu realisieren. Demzufolge kann der wirtschaftliche Aspekt der Maßnahmenumsetzung nicht das drängendste Problem sein, und ein höherer Nachteilsausgleich ist argumentativ vertretbar.

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Die zentralen Überlegungen bei der Betrachtung der betrieblichen Dimension einer Sozialplanforderung bzw. der zu betrachtenden wirtschaftlichen Nachteile sind aus Sicht des Betriebsrats immer betriebs-, branchen- und ortsindividuell vorzunehmen. Wichtige Kriterien hierfür sind:

 – bisherige wirtschaftliche Leistungen des Arbeitgebers (inkl. sämtlicher, monetär zu bewertender Bestandteile) und Vergleich mit den zu erwartenden Nachteilen in Form von Einkommensminderung/-entfall, Wegfall von Sonderleistungen, weitere/längere Anfahrtswege, Wegfall von betrieblicher Altersvorsorge etc.;

 – bei Stellenentfall: Aussichten auf dem Arbeitsmarkt im Hinblick auf die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit einer Anschlussbeschäftigung:– im Hinblick auf die regionale Arbeitsmarktstruktur inkl. möglicher Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten im Umland;– im Hinblick auf die Qualifikationen der ausscheidenden Beschäftigten (-gruppen) und der zugehörigen Angebotssituation auf dem Arbeitsmarkt;– im Hinblick auf die allgemeine Beschäftigungssituation in der Branche und Region;– im Hinblick auf das anzunehmende zukünftige Entgeltniveau bei evtl. neuen Arbeitgebern (z.B. auch im Zusammenhang mit möglicher Tarifbindung bzw. dem Entgeltniveau des bisherigen Arbeitgebers zu bewerten);

 – Bewertung des erreichten sozialen und wirtschaftlichen Besitzstandes im Betrieb.

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Diese sind gemeinsam mit den maßgeblichen Kriterien der unternehmerischen und individuellen Dimension in einer ganzheitlichen Analyse abzuwägen und dementsprechend einer Gesamtwürdigung zukommen zu lassen, die letztlich in die abschließend diskutierten Gestaltungsvarianten einfließt.

 

3. Die unternehmerische Dimension

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Das Betriebsverfassungsgesetz bringt die unternehmerische Dimension bei der Bemessung eines Sozialplanes vor allem im Kontext der Rahmensetzung für die Tätigkeit der Einigungsstelle zur Sprache.10

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Darin wird der Einigungsstelle aufgegeben, „bei der Bemessung des Gesamtbetrages der Sozialplanleistungen darauf zu achten, dass der Fortbestand des Unternehmens oder die nach Durchführung der Betriebsänderung verbleibenden Arbeitsplätze nicht gefährdet werden“. Dies bezieht sich insbesondere auf die in der Rechtsprechung häufig zitierte „wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“ der Unternehmen. Hiermit soll sichergestellt werden, dass die Unternehmen durch die wirtschaftlichen Folgen des Sozialplanes nicht mit Illiquidität, Überschuldung oder sonstigen existenzbedrohenden Situationen rechnen müssen, was den Fortbestand des Unternehmens als Ganzes und damit auch die nach einer Betriebsänderung verbleibenden Arbeitsplätze gefährden würde. Damit hat der Gesetzgeber gleichzeitig ein Korrektiv eingezogen, wonach kein vollständiger Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile durch einen durch die Einigungsstelle festzusetzenden Sozialplan erfolgen muss.

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Unverändert herrschende Meinung ist aber auch, dass eine für die Ertragskraft des Unternehmens einschneidende Belastung durch den Sozialplan zu billigen ist.11 Häufig nehmen gerade wirtschaftlich angeschlagene Unternehmen sozialplanpflichtige Betriebsänderungen vor – dies entbindet sie jedoch nicht von der Verpflichtung, weitere Belastungen durch einen Sozialplan auf sich zu nehmen.12 Handlungsleitend ist hierbei die Ausführung des BAG,13 wonach „das Gesetz die Vertretbarkeit auch einschneidender Belastungen des Unternehmens durch den Sozialplan bis an den Rand der Bestandsgefährdung für möglich ansieht“.

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Die Einschränkung der Sozialplandotierung auf Grundlage der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens ist unmittelbar einsichtig. Denn in wirtschaftlich angeschlagenen Unternehmen werden häufig aus betrieblicher Not heraus Betriebsänderungen mit Massenentlassungen durchgeführt. Hier sind dementsprechend – auch ohne Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens – die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Unternehmens bei den arbeitnehmerseitigen Sozialplanforderungen zu berücksichtigen. Dieser Fall tritt insbesondere in Ein-Betriebs-Unternehmen ohne Konzernzusammenhang auf. Dem Spannungsfeld „Sicherung des Fortbestandes des Unternehmens und der verbleibenden Arbeitsplätze vs. bestmöglicher Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile der betroffenen Beschäftigten“ muss sich der Betriebsrat in diesen Konstellationen stellen.

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Kann der Betriebsrat im Beratungsverfahren zur Betriebsänderung hingegen deutlich machen, dass die betriebsändernde Maßnahme ohne wirtschaftliche Not bzw. nicht aus wirtschaftlichen Zwängen heraus umgesetzt wird, so kann es vertretbar und für das Unternehmen auch ohne weiteres leistbar erscheinen, sämtliche wirtschaftlichen Nachteile der betroffenen Beschäftigten für z.B. fünf Jahre auszugleichen.14 Gleiches gilt (analog zur betrieblichen Dimension), wenn der Betriebsrat glaubhafte und realistische Alternativszenarien mit konstantem oder höherem Einspar- bzw. Verbesserungspotenzial bei gleichzeitig geringeren wirtschaftlichen Nachteilen für Beschäftigte des Unternehmens entwickeln kann. Bleibt der Arbeitgeber dann bei den ursprünglichen unternehmerischen Planungen, kann der Betriebsrat geltend machen, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit offensichtlich nicht die höchste Priorität bei der Umsetzung der Maßnahme hat. Dementsprechend kann der wirtschaftliche Nachteilsausgleich dann auch in höherem Maße erfolgen als bei Veränderungen aufgrund wirtschaftlicher Not des Unternehmens.

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Die entscheidende Frage für den Betriebsrat ist dabei regelmäßig, wie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unternehmens adäquat gemessen und somit das Maximum an Sozialplanleistung ohne gleichzeitige Gefährdung der übrigen Arbeitsplätze definiert werden kann. Dies lässt sich nicht abstrakt definieren, sondern ist maßgeblich von den Gegebenheiten des Einzelfalls abhängig. Grundlage für eine entsprechende Bewertung sind vor allem nachfolgend aufgeführte Informationen aus den Jahresabschlüssen, wirtschaftlichen Monatsrechnungen, Businessplänen und Liquiditätsrechnungen des Unternehmens:

 – vorhandene Liquidität des Unternehmens inkl. freier, zur Verfügung stehender Linien;

 – vorhandenes, kurzfristiges zur Liquiditätssicherung nutzbares Vermögen der Aktivseite, welches ohne Bestandsgefährdung herangezogen werden kann;

 – Höhe des Aktivvermögens, welches ggf. zur Liquiditätsgenerierung besichert oder verwertet werden kann;

 – Eigenkapitalbasis zur Verhinderung möglicher Überschuldungsszenarien;

 – laufende Überschüsse aus der Geschäftstätigkeit;

 – absehbare Planüberschüsse aus der laufenden Geschäftstätigkeit;

 – langfristige Ergebnisziele zur Relativierung eventueller Verluste aus dem Einmaleffekt „Sozialplan“;

 – bereits ergebniswirksam gebildete Rückstellungen für einen Sozialplan/für Restrukturierungsmaßnahmen.

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Die obige Aufzählung ist nicht abschließend – insbesondere interessant ist bei Unternehmen in Konzernzusammenhängen auch die Frage nach bestehenden Ergebnisabführungs- oder Cashpool-Verträgen, die ggf. die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Gesamtkontext einer Unternehmensgruppe besser erscheinen lassen als bei reinem Blick auf die einzelne juristische Person.

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Zwar ist die Gerichtsbarkeit hinsichtlich der Frage der Möglichkeit eines Berechnungsdurchgriffs auf Konzernvermögen bzw. Vermögen von herrschenden Gesellschaften nicht eindeutig, in jüngerer Vergangenheit sogar zunehmend restriktiv. Ein Durchgriff kann sicher nicht generalisierend bejaht werden, da klarer Bezugspunkt des Gesetzes das Unternehmen ist. Jedoch kann insbesondere vor dem Hintergrund des Wortlautes des § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG davon ausgegangen werden, dass keine Fortbestandsgefährdung eines Unternehmens vorliegt, wenn eine entsprechende Verlustübernahme durch eine Muttergesellschaft bzw. die Möglichkeit, Liquidität durch die Inanspruchnahme von konzerneigenen Cashpool-Mitteln in Anspruch zu nehmen, vorhanden ist. Eine Fortbestandsgefährdung des Unternehmens durch Illiquidität bzw. Überschuldung kann bei Vorliegen solcher gesellschaftsrechtlichen Verträge bzw. Finanzierungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden.15

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In der Realität werden gerade bei Sozialplänen in konzernzugehörigen Unternehmen oftmals De-facto-Obergrenzen durch Konzernspitzen vorgegeben. Dies erfolgt, damit die Preise bei möglichen zukünftigen Sozialplänen in anderen Konzernunternehmen „nicht verdorben“ werden – sprich, damit nicht jeder Sozialplan von Mal zu Mal für ein Unternehmen teurer wird. Diese strategische Betrachtungsweise mag aus Sicht der Konzernspitzen nachvollziehbar sein, für die von einer Betriebsänderung betroffenen Beschäftigten spielen solche Überlegungen jedoch keine Rolle und können dementsprechend auch nicht für einen Betriebsrat handlungsleitend sein. Nichtsdestotrotz kommt es hierüber nicht selten zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten in den Beratungen über die Ausstattung des Sozialplanes. Letztlich kann jedoch auch in dieser Situation auf das Gesetz und die dort niedergelegten Grundsätze mit den Maßstäben des § 112 BetrVG verwiesen werden. Die substanzielle Milderung wirtschaftlicher Nachteile kann demzufolge nicht durch eine starre Direktive von oben definiert werden, sondern ist in jedem Fall von den Gegebenheiten des Einzelfalls und den vorliegenden bzw. zu erwartenden wirtschaftlichen Nachteilen zu bestimmen. Sowohl Wortlaut, Historie, Sinn und Zweck als auch Zusammenhang der Sozialplannorm mit den übrigen Vorschriften des BetrVG lassen keinen anderen Schluss zu.

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Als pragmatischer Hinweis für Betriebsräte sei an dieser Stelle jedoch auf alternative Möglichkeiten der Ausgestaltung von Sozialplanvolumina jenseits der klassischen Elemente hingewiesen. So bestehen auch Möglichkeiten, „politische Konzernvorgaben“ wie Faktoren, Divisoren oder Maximalabfindungen einzuhalten und dennoch substanziell bestehende wirtschaftliche Nachteile auszugleichen. Hier bedarf es ein wenig Kreativität, z.B. im Hinblick auf Definitionen von Betriebszugehörigkeit oder auf das als Bemessungsgrundlage dienende Bruttomonatsentgelt. Gleichzeitig kann mit Fix- oder Sockelbeträgen gearbeitet werden und es können Sozial- oder andere Zuschläge vereinbart werden, die nicht unter Maximalbeträge fallen und die unter Rn. 124 näher beleuchtet werden.

4. Die individuelle Dimension

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Grundlegender Zweck des Sozialplanes ist ein an den Gegebenheiten des Einzelfalls orientierter Ausgleich bzw. die Milderung wirtschaftlicher Nachteile der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

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Daher sind die individuell zu erwartenden wirtschaftlichen Nachteile der Beschäftigten letztlich maßgeblicher Bestandteil für die Dimensionierung eines Sozialplanes.

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Die einen Sozialplan determinierenden Variablen sind dementsprechend die einzelnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von einer Betriebsänderung betroffen sind. Hier haben die Betriebsparteien einen klaren Prüfungsauftrag hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden wirtschaftlichen Nachteile im Einzelfall.

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Insofern sind für die Beschäftigten im Falle von Veränderung oder Verlust ihrer Arbeitsbedingungen oder -plätze die tatsächlichen Nachteile in den Blick zu nehmen.

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Ausgangspunkt ist die wirtschaftliche, materielle Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse vor Umsetzung bzw. Einleitung der betriebsändernden Maßnahmen, d.h. im Einzelnen ist hierbei an nachfolgende Bestandteile zu denken:

 – regelmäßig erzieltes Arbeitsentgelt inkl. etwaiger Zulagen/Zuschläge;

 – Sonderzahlungen;

 – Prämien/Boni;

 – Mitarbeiteraktienpakete o.ä. Beteiligungsmöglichkeiten;

 – vermögenswirksame Leistungen;

 – freiwillige soziale Leistungen;

 – betriebliche Altersvorsorge;

 – Aufwendungen/Zeit für den Weg zur Arbeit.

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Bei einem ersatzlosen Entfall des Arbeitsverhältnisses sind diese Summen aufzuaddieren und als zunächst bestehender, individueller Nachteil der betroffenen Beschäftigten festzuhalten.

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Bei einer Änderung/Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ist die Differenz zum bisherigen materiellen Entgelt zu bilden und es sind etwaige weitere Belastungen mit in die Rechnung einzubeziehen. Dies könnten etwa weitere Wege zur Arbeit, belastendere Arbeitszeiten oder notwendige, berufsbegleitende Qualifizierungen sein.

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Solchen kumulierten Eurobeträgen können dann mögliche, gesetzliche Transferleistungen wie Arbeitslosengeld I, (vorgezogene) Rentenzahlungen oder Ähnliches entgegengestellt werden.

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Wie bereits oben ausgeführt, können diese Summen auch als erster Orientierungsmaßstab hinsichtlich der Sozialplanhöhe gelten. Hinsichtlich des Volumens gilt es zu verhandeln, über welchen Zeitraum die identifizierten Nachteile auszugleichen sind. Dies ist dann wiederum an den bereits unter Rn. 88 diskutierten regionalen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes sowie an den individuellen Merkmalen der von Nachteilen bedrohten Beschäftigten zu messen.

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Letztere bestehen insbesondere bei Verlust des Arbeitsplatzes in:

 – der persönlichen Qualifikation der Betroffenen:– Neben einer betrieblichen oder universitären Erstausbildung zählen hier auch erworbene Zusatzqualifikationen und tatsächlich ausgeführte Tätigkeiten im Betrieb; eine geringere Qualifikation bringt tendenziell einen erhöhten wirtschaftlichen Nachteil mit sich, da die Chancen auf dem Arbeitsmarkt eher schwieriger zu bewerten sind.

 – dem Alter der Betroffenen:– Hier geht man davon aus, dass die wirtschaftlichen Nachteile mit dem Lebensalter steigen, da die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt im Hinblick auf eine gleichwertige Tätigkeit mit steigendem Alter sinken; ab einem Alter von ca. 60 Jahren kann jedoch von einem geringer werdenden wirtschaftlichen Nachteil ausgegangen werden, da dann häufig innerhalb eines überschaubaren Zeitraums der wirtschaftliche Nachteil durch Zahlungen aus der Rentenversicherung ausgeglichen werden kann.

 

 – der Beschäftigungsdauer im Betrieb:– Tendenziell korreliert dieses Merkmal positiv mit dem Alter der Betroffenen, dies ist jedoch individuell keineswegs immer der Fall; durch eine langjährige, u.U. gleichbleibende Beschäftigung in einem Betrieb verringern sich die Aussichten auf eine Anschlussbeschäftigung durch fehlende Erfahrung im Bewerbungsprozess, möglicherweise fehlende Flexibilität und nicht hinreichend breit gefächerte Kenntnisse für neue Aufgaben.

 – bestehenden Unterhaltsverpflichtungen:– Je umfassendere Unterhaltsverpflichtungen für Dritte seitens der betroffenen Beschäftigten bestehen, desto höher ist der wirtschaftliche Nachteil, den diese durch den Verlust des Arbeitsplatzes oder negative Veränderungen der Arbeitsbedingungen erfahren. Hierbei können Unterhaltsverpflichtungen für Kinder, aber auch für weitere Personen wie Ehepartner, pflegebedürftige Angehörige oder Ähnliches berücksichtigt werden.

 – Schwerbehinderungen:– Bei vorliegender, offiziell attestierter Schwerbehinderung bzw. einer Gleichstellung erscheinen die Aussichten auf eine adäquate Anschlussbeschäftigung nochmals gegenüber nicht eingeschränkten Beschäftigten gemindert. Dies steigert sich bei Parallelität von vorliegender Schwerbehinderung und hohem Lebensalter und somit ist auch hier von einem erhöhten wirtschaftlichen Nachteil für die Betroffenen auszugehen.

 – sonstigen Härten:– Weitere Härten sind jenseits der genannten, klassischen Kriterien zur Bestimmung von wirtschaftlichen Nachteilen denkbar. So sind persönliche Lebenslagen, wie der Tod oder die Pflegebedürftigkeit naher Angehöriger im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang auch häufiger mit einer wirtschaftlichen Dimension verknüpft. Weiterhin sind wirtschaftliche Nachteile von Alleinverdienenden bzw. Alleinerziehenden häufig nochmals erheblicher zu bewerten. Ferner kann auch Berücksichtigung finden, wenn infolge einer Betriebsänderung beide Lebenspartner bzw. mehrere Angehörige einer Familie ihren Arbeitsplatz verlieren. Des Weiteren können bestehende Regelungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf (z.B. durch Telearbeit- und Homeoffice-Regelungen) die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt je nach individueller Lebenslage beeinflussen und erhöhen entsprechend den wirtschaftlichen Nachteil. An dieser Stelle sind weitere Einzelbeispiele denkbar.

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Eine klar objektivierbare Limitierung des wirtschaftlichen Nachteils ist vor allem bei rentennahen Beschäftigten oder auch bei Beschäftigten in einem befristeten Arbeitsverhältnis zu finden, deren Befristung vor vertraglich vereinbartem Ablauf beendet werden soll. Die rentennahen Beschäftigten können sich unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Nachteilsausgleichs nicht auf eine pauschale Regelabfindung berufen, wenn diese im Ergebnis zu einem signifikant höheren Betrag führen sollte, als dies in ihrem regulären Berufsleben bis zum Renteneintritt durch die üblichen Arbeitseinkommen der Fall gewesen wäre. Gleichzeitig kann der wirtschaftliche Nachteil bei vorzeitig gekündigten befristet Beschäftigten anhand der Summe der noch ausstehenden Monatsverdienste bis zum ursprünglichen Befristungsende festgemacht werden. Ein darüber hinausgehender Ausgleich von wirtschaftlichen Nachteilen kann allenfalls dann begründet sein, wenn den betroffenen befristet Beschäftigten – intersubjektiv nachprüfbar – berechtigte Anschlussbeschäftigungsmöglichkeiten (in Form einer Anschlussbefristung oder Entfristung) in Aussicht gestellt wurden und daher keine weiteren Bemühungen im Hinblick auf einen neuen Arbeitgeber erwartet werden konnten.

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Insgesamt besteht somit eine hohe Vielfalt an Determinanten für den wirtschaftlichen Nachteil der von Betriebsänderung betroffenen Beschäftigten, die sich in mehreren Dimensionen niederschlägt und nicht nur von der individuellen Situation des Beschäftigten abhängt. Die konkrete Höhe des wirtschaftlichen Nachteils ist angesichts der Vielzahl der (teils unbekannten) Variablen kaum für jeden einzelnen Betroffenen zu objektivieren und dementsprechend auch nicht auf Individualebene in einem Sozialplan oder Spruch der Einigungsstelle darstellbar. Allerdings ergeben sich für Betriebsräte durchaus viele Gestaltungsmöglichkeiten, die einer Berücksichtigung der Gegebenheiten des Einzelfalls in stärkerem Maße Rechnung tragen, als dies bspw. eine pauschale Formelabfindung für alle Betroffenen leisten würde.