Geschichte im politischen Raum

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Weiterführende Literatur

GeorgiGeorgi, Viola B. 2003: Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland (Hamburg 2003).

GeorgiGeorgi, Viola B./Ohliger 2009: Viola B. Georgi/Rainer Ohliger (Hg.), Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft (Hamburg 2009).

Motte/Ohliger 2004: Jan Motte/Rainer Ohliger (Hg.), Geschichte und GedächtnisGedächtnis in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik (Essen 2004).

4 Deutsche Geschichtsbezüge und die großen geschichtspolitischen Debatten

Geschichte ist mehr als bloßes Wissen von Fakten und Daten – historisches Wissen meint, Zusammenhänge erkennen und erklären, historische Prozesse einordnen und deuten, die Gegenwart mit ihren Strukturen und Herausforderungen als Ergebnis dieser historischen Prozesse verstehen zu können. Das weiß, wer Geschichte studiert hat – und dieser Wissensvorsprung macht einen wesentlichen Teil der Fachkompetenz des Historikers aus, mit der er auf einem umkämpften Berufsmarkt ‚wuchern‘ kann. Wer beruflich in den politischen Raum strebt, sollte deshalb mit den zentralen politisch immer wieder relevanten Geschichtsbezügen der Deutschen vertraut sein und die großen Debatten, die sich daran entzündeten, kennen. Sie werden im Folgenden kursorisch skizziert.

4.1 Geschichtsbezüge

Die Deutschen tun sich mit ihrer Geschichte schwerer als andere Nationen. Aus bekannten Gründen wecke sie bis heute häufig mehr ein Bedürfnis nach Distanz denn den Wunsch nach Identifikation, sagt Bundestagspräsident Norbert LammertLammert, Norbert (2009, 35). Der Literaturtheoretiker Karl Heinz BohrerBohrer, Karl Heinz (2003, 10ff.) unterscheidet zwischen einem dominierenden Nahverhältnis der Deutschen zu den Jahren 1933 bis 1945 und ihrem gebrochenen Fernverhältnis zu den älteren Epochen der deutschen Geschichte. Er diagnostiziert – in Abgrenzung zur Geschichtsvergessenheit, die den Deutschen in ihrem Verhältnis zur NS-Zeit lange vorgehalten wurde – eine folgenschwere „Erinnerungslosigkeit“: den Verlust an identitätsstiftenden Erzählungen gegenüber der moralisierenden GeschichtspolitikGeschichtspolitik. Auch wenn Bohrers Schlussfolgerungen kontrovers diskutiert werden, hat der Befund selbst einiges an Plausibilität – unbenommen davon, dass – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – frühere Epochen durchaus Potential für geschichtspolitische Debatten hatten.

In weiter Ferne so nah: Das MittelalterMittelalter und die regionale Identitätsstiftung

Das in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren neu geweckte Interesse an der fernen Vergangenheit spiegelt sich vor allem im Publikumserfolg öffentlichkeitswirksamer MittelalterMittelalter-Ausstellungen. Aus ihnen ragt die Stuttgarter Staufer-Schau von 1977 heraus. Sie gilt mit fast 700000 Besuchern in nicht einmal drei Monaten als Startschuss für die Wende zur Geschichtsbegeisterung der Deutschen (Thaa/Borcke 2015). Zahlreiche weitere Ausstellungen schlossen sich an. Als Sehnsuchtsmotiv deutscher Einheit und Stärke erwies sich ein verklärtes Mittelalterbild lange als national anschlussfähig – im 19. Jahrhundert für die partikular zersplitterte Nationalbewegung, später dann für das im Kalten Krieg geteilte Deutschland. Demgegenüber dienen die großen Herrscherdynastien und ihre Epochen heute politisch vor allem der regionalen Identitätsstiftung. Zahlreiche Bundesländer suchen in aufwendig inszenierten Ausstellungen nach eigener Traditionsbildung, um der nicht selten als geschichtslos empfundenen kurzen Landesgeschichte historisches Profil zu geben. Beispielhaft für diesen anhaltenden Trend sind die großen Schauen zu den Wittelsbachern in Bayern (1980 und 2013), den Saliern in Rheinland-Pfalz (1992 und 2011), den Ottonen in Sachsen-Anhalt (2001 und 2012) oder zu Heinrich dem Löwen in Niedersachsen (1995). Daneben dominiert eine dezidiert europäische Sichtweise auf das Mittelalter. Dabei wird – nicht selten zwanghaft – nach grenzüberschreitenden Entwicklungen, nach tradierten gemeinsamen europäischen Werten und Prägungen gefahndet. Beispielhaft dafür sind die Europaratsausstellungen „EuropasEuropa Mitte um das Jahr 1000“ (2001 in Berlin) und „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962–1806“ (2006 in Magdeburg) oder die Ausstellung „CREDO. Christianisierung Europas im Mittelalter“ (2013 in Paderborn) bzw. „Karl der Große. Macht.Kunst.Schätze“ (2014 in Aachen). Bisweilen werden gemeinsame europäische Wurzeln sogar bis in die Ur- und Frühgeschichte zurückprojiziert; so waren es 1991 die Kelten, die zu Identitätsstiftern für ganz Europa erklärt wurden („I Celti. La prima Europa“, Venedig) und 1996/97 die Franken („Die Franken – Wegbereiter Europas“; Mannheim, Berlin, Paris).

Wie das MittelalterMittelalter hatte auch das Zeitalter der Reformation bereits im 19. Jahrhundert die national gesinnten Deutschen fasziniert. Der ‚deutsche‘ LutherLuther, Martin und das Verständnis der Reformation als ‚deutsche Revolution‘ waren im kleindeutsch-protestantischen Mythenbestand allgegenwärtig. Nach 1945 gerieten Reformation und Martin Luther in den Bann der weltanschaulichen Konfrontation zwischen Ost und West. Die DDRDDR erkor in ihrer marxistischen Geschichtsauffassung die sozialen Implikationen der Epoche zum vorrangigen Bezugspunkt und bewertete die Bauernkriege – im Sinne Friedrich EngelsEngels, Friedrich – als frühbürgerliche Revolution. Anlässlich des 500. Geburtstags des Reformators 1983 wurde der frühere ‚Fürstenknecht‘ Luther zum Vorläufer des Sozialismus stilisiert. Das Reformationsjubiläum 2017, das an den 500. Jahrestag von Luthers Thesenanschlag in Wittenberg erinnert, hat über viele Jahre seine Schatten vorausgeworfen. Wie selten sonst arbeiten in der 2008 ausgerufenen ‚Lutherdekade‘ Staat, Kirchen und Kulturinstitutionen gemeinsam an dem Säkularereignis, von dem absehbar weitreichende Wirkungen auf das Geschichtsverständnis dieser Epoche ausgehen werden – zumal die Trennung der christlichen Konfessionen anhält und in einer Zeit des globalen Bedeutungszuwachses religiöser und konfessioneller Bindungen neue Bedeutung gewinnt (siehe www.luther2017.de; www.impuls-reformation.de).

PreußensPreußen langer Schatten

Als besonders wechselvoll erweist sich die Erinnerung an PreußenPreußen, das die deutsche Geschichte seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat. Unter seiner Führung wurde im 19. Jahrhundert ein (klein)deutscher Nationalstaat im Zentrum EuropasEuropa militärisch durchgesetzt. Während Preußen immer wieder als ‚Aufreger‘-Thema taugt, sind die Habsburger als historischer Widerpart im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und im Deutschen Bund aus dem Gesichtsfeld der Deutschen gerückt, und mit ihnen eine jahrhundertalte österreichisch-deutsche Geschichte. Hier zeigt sich die erstaunliche Langzeitwirkung der kleindeutsch-preußischen und zudem protestantisch geprägten Geschichtsschreibung des KaiserreichsKaiserreich – und auf erdrückende Weise, dass es die Sieger sind, die Geschichte schreiben.

Dabei bedeutete PreußenPreußen für das Wilhelminische KaiserreichKaiserreich – wie später auch für die Weimarer RepublikWeimarer Republik – wegen seiner Dominanz in Größe und Einwohnerzahl eine schwerwiegende Belastung des Staatsgefüges. Der Preußen-MythosMythos, politischer wurde trotzdem gepflegt – auch von den Nationalsozialisten, etwa beim ‚Tag von Potsdam‘ 1933 (→ Glossar) oder in HitlersHitler, Adolf bizarrer Verehrung Friedrichs des GroßenFriedrich II., preuß. König als Kriegsherr. Nach 1945 verbanden sich mit Preußen jedoch statt Glanz und Gloria, spezifischer Tugenden und eines aufgeklärten Absolutismus vor allem negative Attribute: Preußen galt nunmehr als Hort der Reaktion, eines fatalen Obrigkeitsdenkens und folgenschweren Militarismus. Als Staat hatte Preußen bei Kriegsende faktisch aufgehört zu existieren, 1947 vollzog der Alliierte Kontrollrat mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 46 das Ende dann auch de jure. Der Bruch mit der preußischen Tradition war radikal. Für alle sichtbar machte ihn die DDRDDR-Führung 1950 mit der symbolbeladenen Sprengung des Berliner Stadtschlosses, um die Spuren der alten Ära auch im Stadtbild zu tilgen. Aber auch die Bundesrepublik, die mit Bonn ihren politischen Mittelpunkt in den ehemals preußischen Rheinlanden hatte, suchte Abstand und fand im bewussten Gegensatz zum preußisch-protestantischen Obrigkeitsstaat ihr prägendes Signum als rheinische Republik (mit bedeutend stärkeren katholischen Einflüssen). Dabei bestimmte in Ost und West gleichermaßen Ambivalenz den Umgang mit der preußischen Geschichte. Nicht allein, dass die aus der staatlichen Neuordnung hervorgegangenen Länder auf dem ehemaligen preußischen Territorium die Rechtsnachfolge antraten, auch ansonsten sind die Spuren Preußens mannigfaltig – und das nicht nur in Vereinsnamen wie „Borussia“ oder „Preußen“. Dazu zählen politisch das während der Teilung gepflegte Bewusstsein für Berlin als deutsche Hauptstadt und die preußischen Ursprünge von Verwaltungs- und Kirchengliederungen. Militärisch präsent blieb der untergegangene Staat ausgerechnet in der DDR: im ‚Exerzierschritt‘ der Nationalen Volksarmee (NVA), der sich am preußischen Stechschritt orientierte. Und er ist es noch heute mit dem Eisernen Kreuz als Hoheitszeichen der Bundeswehr sowie in der musikalischen Traditionspflege beim Zapfenstreich und der Ehrenformation. Das kulturelle Erbe traten mehrere Universitäten und die großen Kulturstiftungen wie Preußischer Kulturbesitz oder Preußische Schlösser und Gärten an.

 

Zur bewussten Wiederentdeckung PreußensPreußen in der Bundesrepublik wie in der DDRDDR kam es in den frühen 1980er Jahren. Beide Seiten suchten sich damals vor dem Hintergrund der faktischen Zweistaatlichkeit ihres historischen Erbes zu vergewissern. In West-Berlin sorgte 1981 eine Preußen-Ausstellung für Furore (siehe Uhde 2015), zeitgleich erfuhr auch im Arbeiter- und Bauernstaat die preußische Geschichte und insbesondere König Friedrich II.Friedrich II., preuß. König eine Neubewertung. Sie gipfelte in der Wiedererrichtung seines einst abgeräumten Reiterstandbilds aus dem 19. Jahrhundert im Zentrum der Hauptstadt der DDR: Unter den Linden auf Höhe der Humboldt-Universität.

Ihren vorläufigen Höhepunkt erlebte die PreußenPreußen-Renaissance nach der deutschen Einheit mit der Überführung der sterblichen Überreste Friedrichs des Großen von der Burg Hohenzollern nach Sanssouci. Sie geriet 1991 zur großen staatlichen Inszenierung. Widerspruchsfrei blieb die Preußen-Reminiszenz freilich nie, wie der Streit um Statuen preußischer Militärreformer und Generäle aus der Ära der BefreiungskriegeBefreiungskriege zeigt. Ihre Wiederaufstellung in Berlin Unter den Linden – vor der zur zentralen staatlichen GedenkstätteGedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erhobenen Neuen WacheDenkmalNeue Wache (→ Kapitel 6.7) – stieß auf massiven Widerstand. Die Statuen Gerhard von Scharnhorsts (1755–1813) und Friedrich Wilhelm Bülows (1755–1816) sollten nicht in der Nähe der Käthe KollwitzKollwitz, Käthe-Büste in der Gedenkstätte platziert werden und rückten deshalb auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort verdrängten sie die Standbilder Ludwig Yorck von Wartenburgs (1759–1830), Gebhard Leberecht von Blüchers (1742–1819) und August Neidhardt von Gneisenaus (1760–1831), die ihrerseits zurückversetzt neue Aufstellung am Opernplatz fanden. Trotzdem hat die Debatte um Preußen längst nicht mehr die Schärfe früherer Jahrzehnte. So verwiesen Kritiker des Wiederaufbaus des Hohenzollernschlosses in der Berliner Mitte weniger auf den alten preußisch-militaristischen Geist, der mit dem Schloss heraufbeschworen werden könnte, sondern störten sich vorrangig am Vorzug, den architektonisch die Rekonstruktion gegenüber dem Mut zum Neuen gefunden hatte. Andererseits führten die Schloss-Befürworter weniger die preußischen Traditionen ins Feld, als vielmehr stadtplanerische Argumente, wonach das Schloss das Zentrum Berlins gewesen sei, auf das sich die gesamte Mitte der Stadt ausgerichtet habe. Die Nutzung des rekonstruierten Gebäudes als Humboldt-Forum, das der Weltkunst gewidmet sein wird, unterstreicht allerdings den offensichtlichen Willen, bei der Umsetzung dieses größten nationalen Bauprojekts der letzten Jahrzehnte jeder unerwünschten Assoziation bereits im Ansatz vorzubeugen (siehe www.humboldt-forum.de).


Abb. 4: Umbettung Friedrichs des Großen

Die Gewaltgeschichte zwischen 1914 und 1945

Mit Kriegsende setzte zunächst eine bis weit in die 1950er Jahre reichende Phase ein, der bereits die Zeitgenossen eine ausgeprägte Geschichtsvergessenheit bescheinigten. Die Überwindung der Kriegsfolgen und der Aufbau einer neuen Nachkriegsordnung absorbierten die Kräfte. Wenn in diesem Zusammenhang von einer ‚Stunde Null‘ gesprochen wird, ist das missverständlich, weil personell wie strukturell vielfach an Überkommenem angeknüpft wurde. Alexander und Margarete MitscherlichMitscherlich, Alexander und Margarete sprachen später von der „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich/Mitscherlich 1967) und Ralph GiordanGiordano, Ralpho von der „zweiten Schuld“ durch Verdrängen und Verleugnen der ersten (Giordano 1987). Demgegenüber vertritt der Philosoph Hermann LübbeLübbe, Hermann die These, dass damals weniger „Verdrängung“ als vielmehr ein bewusstes „kommunikatives Beschweigen“ der allen bekannten individuellen Verstrickungen geherrscht habe, um die Deutschen in den jungen demokratischen Staat zu integrieren (Lübbe 2007) – für andere ist diese Zeit deshalb eine „skandalgepflasterte Periode gesellschaftlicher Reintegration um fast jeden Preis“ (FreiFrei, Norbert 1996, 467). Das Pendel schlug bald darauf in die andere Richtung: Die juristische AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der NS-VerbrechenNationalsozialismus im Übergang zu den 1960er Jahren (vor allem die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und der Eichmann-Prozess in Jerusalem) leitete einen heftigen Generationenkonflikt ein, in dem die Jugend ihre Eltern- und Großelterngeneration zur Rede stellten. Die NS-Zeit rückte damit ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins – und ist dort bis heute geblieben. Dabei ging – und geht es noch heute – sowohl um die AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der Diktaturjahre selbst, als auch um die Vor- und Wirkungsgeschichte: Wie konnte es dazu kommen und wie wollen wir mit dieser Vergangenheit weiter umgehen? (→ Kapitel 6.1).

Der Umgang mit der NS-Vergangenheit ist nicht nur hochemotional, sondern auch immens politisch. Während sich die DDRDDR in der Pflege ihres MythosMythospolitischer vom antifaschistischen Staat einer weitreichenden gesellschaftlichen AufarbeitungVergangenheitsbewältigung entzog, prägten die Bundesrepublik immer wieder heftige Debatten. Möchte man wesentliche Stränge dieses (bundes)deutschen Ringens um ihr Verständnis der NS-Terrorherrschaft zusammenfassen, bieten sich mindestens diese vier Begriffspaare an:

Machtergreifung – Machtübertragung

Jahrzehnte war es üblich, vom 30. Januar 1933 als Tag der „Machtergreifung“ HitlersHitler, Adolf zu sprechen. Damit wurde auf einen Begriff zurückgegriffen, den die Nationalsozialisten selbst geprägt hatten und der im Kontext der Stilisierung der Vorgänge von 1933/34 als nationale „Revolution“ steht (Hacke 2004). In der unreflektierten Nutzung dieses Schlagworts reproduzierte sich das NS-Verständnis von der aktionistischen Tat. Bedenklicher noch: Es transportierte sich darin zugleich ein Verständnis der Deutschen als erstes Opfer der Diktatur, denen die Demokratie quasi entrissen worden sei. Tatsächlich aber lieferte sich das Weimarer SystemWeimarer Republik selbst aus, wurde Hitler die Macht 1933 übertragen. Und selbst wenn die NSDAP in den bereits von Terror und Verfolgung geprägten Wahlen im März 1933 keine absolute Mehrheit erreichen konnte: Dass die Weimarer Republik wesentlich an der eigenen Schwäche, an den fehlenden Demokraten zugrunde ging, ist heute unbestritten. In der Ablösung der Begriffe zeigt sich ein über viele Jahre vollzogener Lernprozess, in dem die zweite Demokratie die Fehler ihrer Vorgänger-Republik erkannte und nun auch begrifflich korrekt benennt – wobei sicher noch immer zwischen dem offiziellen und dem alltäglichen Sprachgebrauch unterschieden werden muss.

Niederlage – Befreiung

Von besonderer emotionaler Wucht geprägt war die Auseinandersetzung um das Verständnis des 8. MaiGedenktage8. Mai, des Kriegsendes 1945. Eigenes Erleben, darauf gründende historische Erfahrung und das reflexive Geschichtsverständnis reiben sich hier besonders heftig. Denn der 8. Mai ist aus Sicht der Deutschen ein Tag von ambivalenter Bedeutung. Je nach politischem Standort und nach persönlicher Situation konnten Deutsche diesen Tag als Befreiung – z.B. vom Krieg oder von der Diktatur – oder aber als Niederlage begreifen, persönlich wie der Nation. Hinzu kamen die Erfahrungen millionenfachen Leids durch FluchtFlucht und Vertreibung und Vertreibung, die sich mit der deutschen Niederlage verbanden. Es brauchte entsprechend lange, bis die Bundesrepublik zu einer eigenen Haltung fand und den Tag in eigenen Gedenkfeiern würdigte. Vor allem die epochemachende Rede von BundespräsidentBundespräsident Richard von WeizsäckerWeizsäcker, Richard v. 1985 sorgte für einen nachhaltigen Wandel im Verständnis des 8. Mai, der fortan auch in Deutschland als ein Tag der Befreiung begangen wird (Weizsäcker 1985; → Kapitel 7.2).

Schuld – Verantwortung

Der Umgang mit dunkler Vergangenheit ist immer einer mit Schuld. Die Auseinandersetzung mit der NS-VergangenheitNationalsozialismus war deshalb immer auch eine juristische, beginnend mit den Nürnberger Prozessen. Noch heute stehen Menschen, die sich nach 1933 und vor allem im Zweiten WeltkriegZweiter Weltkrieg schuldig gemacht haben, vor Gericht. Und noch immer wird der deutsche Staat mit Forderungen zur Wiedergutmachung konfrontiert, zuletzt 2014/2015 von Griechenland. Angesichts der Monstrosität des Verbrechens stellte sich die Schuldfrage nach 1945 in bislang nicht gekannter Weise. 1946 veröffentlichte der Heidelberger Philosoph Karl JaspersJaspers, Karl (1883–1969) eine nachhaltig wirkende Schrift zur Schuldfrage, in der er unterschiedliche Kategorien von Schuld definierte: 1. die nachweisbare, vor Gericht zu ahnende kriminelle Schuld, 2. die politische Schuld der Staatsverantwortlichen, 3. die moralische Schuld, der sich vor dem eigenen Gewissen auch nicht dadurch zu entziehen ist, dass Taten befohlen wurde, und schließlich 4. die metaphysische Schuld vor Gott, Unrecht gewährt lassen zu haben (Jaspers 1946). Die politische Debatte drehte lange um die Frage einer deutschen Kollektivschuld, die umso drängender wurde, als nachfolgende, unbelastete Generationen die Konfrontation mit ‚ihrer‘ Schuld infrage stellten. Richard von WeizsäckerWeizsäcker, Richard v. betonte dazu 1985 in seiner Rede zum 8. MaiGedenktage8. Mai: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich. […] Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird“ (Weizsäcker 1985). In diesem Sinne meint die Übernahme von Verantwortung noch heute, die Erinnerung an das Verbrechen wachzuhalten und einer Schlussstrich-Mentalität vorzubeugen. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, betonte dementsprechend 2015 BundespräsidentBundespräsident Joachim GauckGauck, Joachim aus Anlass des 70. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz: „Die Erinnerung an den HolocaustHolocaust/Shoah bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben“ (Gauck 2015).

Politisches Handeln wird in der Bundesrepublik maßgeblich von Verweisen auf die historische Verantwortung des Landes bestimmt; dies gilt auch und gerade für die Außen- und Sicherheitspolitik. Die jahrzehntelange (bundes)deutsche Zurückhaltung auf internationalem Parkett war nicht allein die Folge der eingeschränkten staatlichen Souveränität, sie wurde immer auch aus der deutschen Geschichte heraus begründet. Gegenüber dem militärischen Engagement anderer Nationen setzte die Bundesrepublik auf finanzielle Unterstützung, wofür sich einbürgerte, von der deutschen Scheckbuch-Diplomatie zu sprechen. Mit Wiedergewinnung der vollen Souveränität und im politisch vereinten EuropaEuropa haben sich inzwischen aber nicht nur die politischen Gewichte verschoben. Auch die damit verbundenen Erwartungen der Partner und Freunde an das Land sind andere als früher. Damit stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit überkommener historischer Begründungen. Wie brüchig sich diese erweisen konnten, zeigte sich Ende der 1990er Jahre in den Argumenten für den ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten WeltkriegZweiter Weltkrieg. Wegen massiver Menschenrechtsverletzungen und um einen drohenden Völkermord im Kosovo-Krieg zu verhindern, griff 1999 die NATO Serbien aus der Luft an. Dass sich die Bundeswehr daran beteiligte, rechtfertigte mit Joschka FischerFischer, Joschka ausgerechnet ein aus der Friedensbewegung hervorgegangener Außenminister damit, er habe aus der Geschichte nicht nur gelernt „Nie wieder Krieg“, sondern auch „Nie wieder Ausschwitz“ (Fischer 1999). Angesichts der heute immensen Erwartungen an Deutschland als politisch einflussreichstem wie wirtschaftlich stärkstem Land in Europa stellt sich die Frage nach der historischen Begründung außenpolitischen Handelns völlig neu. Für Aufsehen sorgte 2014 BundespräsidentBundespräsident Joachim GauckGauck, Joachim bei der Eröffnung der jährlichen Münchner Sicherheitskonferenz, als er forderte, die Bundesrepublik solle sich künftig international „früher, entschiedener und substantieller einbringen“ (Gauck 2014a). Zwar zollte er „aufrichtigen Pazifisten“ Respekt, warnte aber davor, „Deutschlands historische Schuld [zu] benutzen, um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken.“ Mit den Worten des Historikers Heinrich August WinklerWinkler, Heinrich August kritisierte er das als eine Haltung, die Deutschland ein fragwürdiges Recht auf Wegsehen bescheinige, das andere westliche Demokratien nicht für sich in Anspruch nehmen könnten. Aus Zurückhaltung könne – so die Kehrtwende in der Argumentation – so etwas wie Selbstprivilegierung entstehen. Damit ist nun aber die Auseinandersetzung um die historische Verantwortung als politisches Argument eröffnet und ihr wird sich die deutsche Öffentlichkeit nicht entziehen können.

 

Täter – Opfer

Mit der umfassenden gesellschaftlichen AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ist an die Stelle des Helden heute das Opfer als Zentralfigur des Gedächtnisses getreten (François 2009, 25). In Deutschland hat der Opferdiskurs eine lange Tradition. In den Erzählungen aus der Zeit des frühen Nationalismus erschienen die Deutschen selbst noch als Spielball anderer Mächte, als Leidtragende ihrer eigenen Schwächen, der inneren Zerrissen- und vergeistigten Machtvergessenenheit. Nach 1945 bildete sich angesichts der beispiellosen Verbrechen, die nicht nur – wie es lange hieß – im Namen Deutschlands, sondern – wie es später in heftigen Kontroversen konkretisiert wurde – von Deutschen begangen wurden, eine völlig neue Situation heraus: Nun sahen sich die Deutschen damit konfrontiert, der Welt als Volk von Tätern zu gelten. Eine gewisse Form des ‚Tragikstolzes‘ blieb dabei erhalten: im rechten politischen Lager, das über viele Jahrzehnte den Verlust ehemals deutscher Ostgebiete und das Leid der Vertriebenen pflegte, aber auch im linksliberalen Milieu, das dazu aufforderte, die Teilung der Nation und mit ihr die Berliner Mauer als logische Konsequenz der deutschen Geschichte anzunehmen.

Mit Gründung des neuen westdeutschen Staates stellte sich die drängende Frage nach dem Umgang mit den Tätern. Deutsche Nachkriegsspielfilme wie „Die Mörder sind unter uns“ (1946) und „Rosen für den Staatsanwalt“ (1959) stehen paradigmatisch dafür, dass ein nicht unbedeutender Teil belasteter Personen, insbesondere Amtsträger in Justiz, Schulen und Verwaltung, unbehelligt blieben. Erst mit der juristischen AufarbeitungVergangenheitsbewältigung Ende der 1950er Jahre (u.a. Auschwitzprozesse, Eichmann-Prozess) rückten die Täter überhaupt wieder stärker in den Fokus. In den 1960er Jahren schloss sich eine breite gesellschaftliche Debatte an, in der die Frage nach Schuld und Verantwortung in den Familien ausgetragen wurde. Dabei zeigten sich Verdrängungs- und Leugnungsprozesse nicht nur in der Generation der Großeltern und Eltern, sondern auch bei Kindern und Enkeln. Die Wissenschaft hat dieses Phänomen in das plakative Schlagwort gefasst: „Opa war kein Nazi“ (Moller/Tschuggnal/Welzer 2002). Die Fixierung auf die zweifelsfrei schuldige NS-Führungselite ließ Deutsche, die behaupteten, von den Verbrechen in den Lagern nichts gewusst zu haben, sich lange quasi selbst als erste Opfer der Nazis gerieren.

Im Blick auf die VertreibungFlucht und Vertreibung Millionen Deutscher aus den ehemals deutschen Ostgebieten verschwimmen die Grenzen zwischen Opfern und Tätern. Denn weder lassen sich aus der Vorgeschichte die Verbrechen an Deutschen während der VertreibungenFlucht und Vertreibung rechtfertigen, noch sich das deutsche Leid von eben dieser Vorgeschichte trennen. Die unbedingte Anerkennung der historischen Kausalitäten von Krieg und VertreibungFlucht und Vertreibung bildet die Grundlage für den Aussöhnungsprozess der Deutschen mit ihren osteuropäischen Nachbarn. Der gesellschaftliche Diskurs über die Vertriebenen war zuvor über viele Jahrzehnte hochpolitisiert gewesen (siehe Gauger/Kittel 2004; Hahn/Hahn 2010). In der bundesdeutschen Gesellschaft bildeten die rund 15 Millionen Heimatvertriebenen eine politisch überaus einflussreiche Gruppe (von 1949 bis 1969 gab es ein eigenständiges Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte). In zahlreichen Verbänden und Landsmannschaften gut organisiert, wussten sie ihren Interessen in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen – und tun das in inzwischen dritter Generation bis heute. Ganze Stadtviertel erinnern in StraßennamenStraßennamen an verloren gegangene Landschaften und Städte, Erinnerungs- und Reisebücher waren wiederholt Bestseller.

Das öffentliche Bekenntnis zur Heimat und den nach 1945 abgebrochenen Kulturtraditionen blieb nicht widerspruchsfrei, insbesondere die hochpolitisierten „Tag der Heimat“-Veranstaltungen führten regelmäßig zu teils heftigen Kontroversen. Das Festhalten an Eigentumsansprüchen in der alten Heimat geriet immer wieder unter den Verdacht des Revanchismus und Revisionismus. Erst die Umwälzungen nach 1989 und die deutsche Wiedervereinigung, in deren Zuge die deutschen Ostgrenzen an Oder und Neiße endgültig anerkannt wurden, trugen zur Entspannung auf allen Seiten bei. Mit der neu gewonnenen Möglichkeit, die alte Heimat durch Reisen vor Ort wieder zu entdecken, hat sich ein Klima der wechselseitigen Anerkennung des gemeinsamen Vertreibungsschicksals entwickelt, das die Basis zur Aussöhnung legt. Gleichwohl zeigt sich an wiederkehrenden Querelen um die „BundesstiftungStiftung FluchtFlucht und Vertreibung, Vertreibung, Versöhnung“, dass man sich hier auch 70 Jahre nach den Ereignissen auf dünnem Eis bewegt.

Seit den 1970er Jahren trat vor allem die Ermordung der europäischen JudenHolocaust/Shoah, deren systematische industrielle Vernichtung beispiellos gewesen ist, in den Fokus der AufarbeitungVergangenheitsbewältigung. Andere Opfergruppen wie Sinti und Roma, Slawen, Homosexuelle, Behinderte oder Zwangsarbeiter fanden sehr viel später und in weit geringerem Ausmaß öffentliche Aufmerksamkeit. Die Opfer deutscher Massaker in Frankreich (Oradour), Italien (Sant’Anna di Stazzema) oder Griechenland (Ligiades) wurden in den vergangenen Jahren durch Besuche des BundespräsidentenBundespräsident als Teil staatlicher Gedenkpolitik einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst bekannt. Ansprüche auf Entschädigung, wie sie etwa die Griechen 2014 angemeldet haben, überraschten viele und stoßen gesellschaftlich auf wenig Verständnis.

Infobox

Vertriebene und FlüchtlingeFlucht und Vertreibung

Der „Bund der Vertriebenen“ ist der Zusammenschluss von 20 Landsmannschaften, 16 Landesverbänden und 4 angeschlossenen Mitgliedsorganisationen, in denen sich in Deutschland Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler organisiert haben (www.bund-der-vertriebenen.de). Das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) – das als „Magna Charta der Vertriebenen“ gilt – stammt aus dem Jahr 1953 und erfuhr seitdem mehrfach eine Novellierung (→ Glossar). Bund und Länder haben sich in § 96 BVFG dazu verpflichtet, das Kulturgut der Deutschen im östlichen EuropaEuropa zu bewahren, zu präsentieren und zu erforschen. Zu wichtigen Akteuren auf diesem Gebiet zählen neben zahlreichen lokalen Heimatstuben und historisch-landeskundlichen MuseenMuseen die zwei wissenschaftlichen Institute für die Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordost- und in Südosteuropa, das „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ in Oldenburg sowie das „Deutsche Kulturforum östliches Europa e.V.“ in Potsdam. Ein eigener „Beauftragter der BundesregierungBundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten“ ist auf Bundesebene Ansprechpartner für Aussiedler (→ Glossar) und in dieser Funktion verantwortlich für die Koordination des Aufnahmeverfahrens und der Integrationsmaßnahmen, er ist aber auch für diejenigen zuständig, die als Angehörige der deutschen Minderheit in den Herkunftsländern der Aussiedler geblieben sind (siehe www.aussiedlerbeauftragter.de).