Geschichte im politischen Raum

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Plato 2000: Alexander von Plato, ZeitzeugenZeitzeuge und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives GedächtnisGedächtniskollektives in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 13, H. 1, 2000, 5–29.

SabrowSabrow, Martin/FreiFrei, Norbert 2012: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des ZeitzeugenZeitzeuge nach 1945 (Göttingen 2012).

3.2 Erinnern in Zeiten von EuropäisierungEuropa und GlobalisierungGlobalisierung

Kollektives Erinnern vollzieht sich auch heute noch wesentlich im Referenzrahmen der Nation und ihrer Geschichte(n), der ererbten Kultur und den überkommenen Traditionen. Doch im Zeitalter der GlobalisierungGlobalisierung und supranationaler politischer Strukturen steht die Dominanz nationaler Erinnerungsbezüge in Kontrast zu zunehmend transnationalen Verflechtungen. Sie finden ihren stärksten Ausdruck im europäischen EinigungsprozessEuropa, der neue und erweiterte Identifikationsmöglichkeiten bietet bzw. erfordert und zugleich überkommene nationale Identitäten in Frage stellt.

Die Geschichtswissenschaft reagiert auf die genannten Prozesse mit unterschiedlichen Konzepten, denen gemeinsam ist, dass sie Alternativen zur national fokussierten Geschichtsschreibung aufzeigen. Dazu gehört die Globalgeschichte und Postkolonialgeschichtsschreibung; besonders wirkmächtig, jedenfalls begrifflich einprägsam und in der Öffentlichkeit stärker rezipiert ist die transnationale Geschichte (siehe Budde/Conrad/Janz 2006). Sie ist nicht als Antithese zur konventionellen Nationalgeschichte zu verstehen, sondern „umfasst all das, was jenseits (und manchmal auch diesseits) des Nationalen liegt, sich aber auch durch dieses definiert – sei es, dass es sich daraus speist oder davon abgrenzt, dass es das Nationale erst konstituiert oder dass es sich um wechselseitige und dynamische Konstruktionsprozesse zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen handelt.“ (Patel 2005)

Was sind die geschichtspolitischen Implikationen? Hier steht zweierlei im Fokus: erstens die Auswirkungen der europäischen Integration auf die nationalen Erinnerungsgemeinschaften, also in wie weit sich die nationale Perspektive europäisiertEuropa; und zweitens die Schaffung einer gemeinsamen, historisch begründeten europäischen Identität, dass also neben die nationale Perspektive eine spezifisch europäische tritt.

Hinsichtlich der Auswirkungen der europäischen IntegrationEuropa auf nationale Erinnerungsgemeinschaften zeigt sich, dass die konkurrierenden nationalen Geschichtserzählungen mit dem europäischen Einigungsprozess einen neuen, gemeinsamen Fluchtpunkt erhalten haben. Stärker noch als in anderen Staaten ist dies in Deutschland der Fall, wo die Erfahrung des NationalsozialismusNationalsozialismus zum Bruch mit überkommenen nationalen Traditionen und Mythen geführt hat. Mehr als das: Die Nation an sich galt nach den Schrecken, die von Deutschen und im Namen einer vermeintlich deutschen Kulturüberlegenheit ausgegangen sind, als desavouiert. Die Bundesrepublik verstand sich nicht zuletzt angesichts ihres Sonderstatus durch die eingeschränkten Souveränitätsrechte als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ (Bracher 1979, 544). Stärker als anderswo bedeutete der Weg in die europäische Integration die Flucht aus einer beklemmend empfundenen nationalen Geschichte. Es gehört zu den historischen Merkwürdigkeiten, dass 1990 die Europäisierung der Bundesrepublik, die mit der Westbindung (→ Glossar) eine eigene politische MythosMythos, politischererzählung gefunden hat, den Deutschen den Weg zur Wiedervereinigung öffnete und damit zugleich die Grundlagen für ein unbefangeneres Verhältnis zur eigenen Nation legte. Deutschland ist heute ein „postklassischer demokratischer Nationalstaat“ (Winkler 2000, 638) wie die anderen europäischen Staaten auch, die Teile ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben oder auf supranationale (→ Glossar) Einrichtungen übertragen haben. In Deutschland verzichtet kaum noch eine historische Ausstellung auf EuropaEuropa als Deutungsrahmen oder Kulminationspunkt der nationalen Erzählung, so wie fast jede Gedenkrede wenigstens an einer Stelle die europäische Perspektive einnimmt. Beispielhaft für diesen Trend ist die zentrale deutsche Schau anlässlich des 150. Jahrestages der Revolution von 1848/49Revolution von 1848 in Frankfurt am Main: Sie gipfelte 1998 in der Präsentation des Maastricht-Vertrages. Beim offiziellen Gedenken an den Ausbruch des Ersten WeltkriegsErster Weltkrieg dominierte 2014 in Deutschland ein Deutungsmuster, bei dem der Weltkrieg vor allem als Ausgangspunkt für die Erzählung gelungener Gewaltüberwindung im vereinten Europa diente. Die sich daran entzündende Kritik, vor allem das Unverständnis anderer europäischer Nationen, die ganz selbstverständlich ihre überkommenen nationalen Opfer- und/oder Heldenerzählung rekapitulierten, verweisen zugleich auf die Grenzen solch transnationaler Erzählungen.

Hinsichtlich der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität zeigt sich der Wunsch, dem politischen Projekt eine „Seele“ einzuhauchen, wie es der frühere EU-Kommissionspräsident Jaques DelorsDelors, Jacques bildlich ausgedrückt hat (siehe Assmann 2012; Boer u.a. 2011; Leggewie 2011). Gegenüber dem Image der EU als vor allem wirtschaftliche Ziele verfolgende Vertragsgemeinschaft mit einer gern und oft übertrieben gescholtenen Bürokratie wird der ideelle Kern EuropasEuropa, also die gemeinsamen kulturellen Wurzeln und Werte, betont, um die Bindungskräfte zwischen den Nationen weiter zu stärken. Das birgt geschichtspolitische Herausforderungen (siehe Schmid 2008a, 174–199, zu weiterer Literatur dort Anm. 1; außerdem Arendes/Duyster Borredà 2015):

 Die Probleme beginnen definitorisch damit, welches EuropaEuropa eigentlich gemeint ist: ein geographischer Raum (mit oder ohne Russland bzw. der Türkei), ein Kulturraum (dessen prägende geistigen Kräfte, von der Antike und den großen Religionen über den Humanismus und die Aufklärung bis zum liberalen Verfassungsdenken, immer auch eigene Teil-Erinnerungsgemeinschaften herausgebildet haben) oder etwa der Raum eines gemeinsamen politischen Projekts (wozu neben der Europäischen Union genauso der Europarat, die OSZE und andere zählen könnten)? Europa bildet offenkundig auch noch jenseits der Vielfalt an Nationen mit ihrer jeweils eigenen Geschichte einen überaus heterogenen Erinnerungsraum; es haben sich transnationale Teilgemeinschaften herausgebildet, die zwar über die Nation hinausweisen, aber nicht in Europa aufgehen müssen: etwa die Unterscheidung in Ost und West (politisch aufgeladen in ein ‚neues‘ und ein ‚altes‘ Europa) oder in einen ‚reichen‘ Norden und ‚armen‘ Süden. Dazu treten regionale Erinnerungskreise wie die baltischen Staaten, die Benelux-Staaten, der deutschsprachige Raum, die Staaten des ehemaligen Jugoslawien oder der Mittelmeerraum (der wiederum über Europa weit hinausweist). Und auch das bi-nationale Erinnern, etwa zwischen Deutschland und Frankreich oder neuerdings verstärkt zwischen Deutschland und Polen, gehört in diesen Zusammenhang.

 Als Hemmnis für die Stärkung der europäischen Bindungskräfte erscheint ein Empathie-Defizit: Das Potential zur Homogenisierung von Geschichtsbildern liegt zwar im Gründungsimpuls der EU, also dem Wunsch, nach der Katastrophe zweier Weltkriege eine dauerhafte Friedensordnung auf einem Kontinent zu schaffen, der im gnadenlos geführten Wettstreit der Nationen zuvor den Weg der Selbstzerstörung gegangen war. Diese Gewalterfahrung ist zwar transnational, liefert aber nur Stoff für eine negative Gründungserzählung, die noch dazu auf die divergierenden und konkurrierenden Lesarten der Nationen zurückverweist. Seitdem die Bürger der EU fast sieben Jahrzehnte in Frieden leben, haben Kriegserfahrung und Friedenssehnsucht zudem längst von ihrer früheren emotional verbindenden Zugkraft verloren. Gegenüber den miteinander geteilten negativen Erfahrungen fällt es sehr viel schwerer, die gemeinsam erreichten Errungenschaften im kollektiven GedächtnisGedächtniskollektives zu verankern: Denn die europäische IntegrationsgeschichteEuropa besitzt in ihrer Abfolge von Vertragsabschlüssen wenig Potential zur emotionalen Bindung. Die EU erscheint – gerade gegenüber der Nation – als eher mythenarm und wenig symbolträchtig. Die beiden als Europatag begangenen Daten – 5. Mai (Gründung des Europarates 1949) bzw. 9. MaiGedenktage9. Mai (Rede des französischen Außenministers Robert SchumanSchuman, Robert 1950 zur Gründung einer Gemeinschaft von Kohle und Stahl) – stehen bis heute völlig im Schatten des 8. MaiGedenktage8. Mai, dem Tag des Kriegsendes 1945 (→ Kapitel 6.4).

 Erschwerend für die Stiftung kollektiver Identität in der Europäischen Union ist deren Selbstverständnis. Ihr Motto lautet „Einheit in Vielfalt“. Es braucht nicht weiter erläutert zu werden, dass sich dieser Markenkern der EU, der auf die Pluralität gleichberechtigter Geschichtsbilder verweist, realpolitisch zwar einleuchtet, sich aber für gemeinsame Geschichtserzählungen als problematisch erweisen muss. Angesichts der skizzierten Diversität kann die spezifisch europäische Erinnerung sicher nie Ersatz, sondern immer nur „spannungsreiche Erweiterung“ (Reichel/Schmid/Steinbach 2009, 408) nationaler Erinnerungen sein. Unter europäischer Gedächtniskultur versteht der Osteuropa-Historiker Karl SchlögelSchlögel, Karl (2008, 166) deshalb auch nicht ein „homogenes Narrativ aus einem Guss, […] sondern die Entstehung eines geschützten Raumes für den Strom der Erzählungen, die jetzt am Ende des Kalten Krieges und am Ende der Verfeindung möglich geworden sind.“

 

 Es stellen sich nicht zuletzt strukturelle Probleme: Inzwischen gab es zwar eine Reihe gedenkpolitisch bedeutsamer Resolutionen des EU-Parlaments (siehe Hammerstein/Hofmann 2009). Ein gemeinsames europäisches Erinnern lässt sich aber nicht per EU-Richtlinie verordnen; eine lebendige ErinnerungskulturErinnerungskultur wächst von unten. Dazu bedarf es eines gemeinsamen Kommunikationsraums, eine grenzüberschreitende Arena zur Austragung des Deutungskampfes über (miteinander) geteilte Erinnerungen, mithin eine europäische Öffentlichkeit. Die ist jedoch erst im Entstehen (etwa mit dem Nachrichtensender „Euronews“, Zeitungsangeboten wie „Le monde diplomatique“ und der gemeinsamen EuropaEuropa-Beilage mehrerer großer nationaler Tageszeitungen [darunter die „Süddeutsche Zeitung“], vor allem aber im Netz mit dem Onlineportal Historiana oder dem Geschichtsnetzwerk EUSTORY). Die institutionellen Rahmenbedingungen, öffentliche wie zivilgesellschaftliche, sind auf europäischer Ebene bei weitem nicht so ausgebaut wie auf nationalstaatlicher Ebene. Immerhin: Ansätze gibt es, insbesondere auf Ebene der MuseenMuseen mit einer Reihe von EU-, nationalstaatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen, darunter das im Entstehen begriffene „Haus der Europäischen Geschichte“, das auf eine Initiative des Europäischen ParlamentsEuropäisches Parlament zurückgeht (siehe Troebst 2012). Die Grenzen einer europäischen Erinnerungspolitik verdeutlicht beispielhaft das immer wieder neu angeregte Projekt eines transnationalen Geschichtsschulbuchs, ohne dass es bislang gelungen wäre, ein bereits 1992 inoffiziell erarbeitetes europäisches Schullehrbuch in allen Mitgliedsstaaten durchzusetzen (in Deutschland konnten jedoch bi-nationale Schulbücher mit Frankreich und mit Polen realisiert werden).

 Das Bemühen um die Intensivierung transnationalen Erinnerns in EuropaEuropa wird am deutlichsten in der Etablierung europäischer GedenktageGedenktage wie dem 27. JanuarGedenktage27. Januar zum Gedenken an den HolocaustHolocaust/Shoah (→ Kapitel 6.4). Der „Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und NationalsozialismusNationalsozialismus“, der seit 2009 am 23. AugustGedenktage23. August, dem Tag der Unterzeichnung des HitlerHitler, Adolf-StalinStalin, Josef-Pakts 1939, begangen wird, verdeutlicht, wie nach 1989 neue Erzählungen in die geschichtspolitische Arena getreten sind, die mit überkommenen westlichen Geschichtsauffassungen um die Deutungshoheit konkurrieren. Während das Kriegsende 1945Zweiter Weltkrieg in den westeuropäischen Staaten als Befreiung gilt, begann für die osteuropäischen Nationen ein Leben unter neuer Diktatur. In diesen Ländern hat das Jahr 1989 als Fluchtpunkt ihrer Geschichtserzählungen eine weit größere Bedeutung als 1945. Mit dem Gedenktag am 23. August (→ Kapitel 6.4), der an die doppelte Diktaturerfahrung unter Nationalsozialisten und Kommunisten erinnert, gewinnt auf europäischer Ebene der vergleichende Totalitarismus-Ansatz an Auftrieb, der das Diktum von der Singularität und Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen und des Holocaust in Frage stellt. Missverständnisse, Unverständnis und heftige geschichtspolitische Debatten sind da vorprogrammiert. Mit der Osterweiterung ist die ErinnerungskulturErinnerungskultur in der EU also vielfältiger geworden, die Einflussmöglichkeiten einer offiziellen Gedenkpolitik gleichzeitig begrenzter. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der 23. August in den meisten EU-Staaten gar nicht als Gedenktag begangen wird.

Verlassen wir die europäische Ebene. Angesichts neuer transnationaler Erfahrungsräume im Zuge der GlobalisierungGlobalisierung und der Fähigkeit zur unbegrenzten Kommunikation im World Wide Web stellt sich die Frage: Wird das GedächtnisGedächtnis künftig ‚ortlos‘? Solch ein Internationalisierungsprozess, in dem Geschichtsbilder universelle Bedeutung erhalten und es gleichzeitig zur Umdeutung überkommener partikularer Geschichtsauffassungen kommen kann, zeichnet sich bislang am stärksten im Umgang mit dem HolocaustHolocaust/Shoah ab (SchmidSchmid, Harald 2008a, 197f.; Levy/Sznaider 2001). Kennzeichnend für den universalen Geschichtsbezug ist das Moralisieren anstelle der Historisierung. Das internationale Auschwitz-Gedenken löst sich von der Perspektive auf die deutsche Schuld. Der Holocaust wird – aus seinem geschichtlichen Kontext gerissen – zur Chiffre für das Verbrechen gegen die Menschlichkeit schlechthin und damit gleichzeitig für die Forderung nach universalen Menschenrechten. Damit ist er heute global anschlussfähig, übertragbar auf andere Ereignisse, auf andere Opfergruppen. Auschwitz liegt dann, diametral zu seinem Verständnis als – auch metaphysisch – singulärer Ort, „potentiell überall“ (Augstein 2002, 225), der Holocaust wird „zu einem ‚Container‘ für Erinnerungen an unterschiedliche Opfer“ (Levy/Sznaider 2001, 223). Umstritten ist, inwieweit die Instrumentalisierung des Holocaust wirklich der Universalisierung von Menschenrechten dient oder nur der Legitimation politischen Handelns, bei der die Trivialisierung des Verbrechens und das Verwischen von Grenzen zwischen Tätern und Opfern billigend in Kauf genommen wird. Kontrovers diskutiert werden in diesem Zusammenhang die provokanten Thesen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Norman FinkelsteinFinkelstein, Norman über die Instrumentalisierung der Massenvernichtung der europäischen Juden in der US-amerikanischen Nahost-Debatte zugunsten der Position Israels (Finkelstein 2001; siehe Piper 2001, Steinberger 2001).

Weiterführende Literatur

Boer u.a. 2011: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis u.a. (Hg.), Europäische ErinnerungsorteErinnerungsorte, 3 Bde. (München 2011ff.).

Eckel/Moisel 2008: Jan Eckel/Claudia Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust? ErinnerungskulturErinnerungskultur und GeschichtspolitikGeschichtspolitik in internationaler Perspektive (Göttingen 2008).

Feindt u.a. 2014: Gregor Feindt/Félix Krawatzek/Daniela Mehler/Friedemann Pestel/Rieke Trimçev (Hg.), Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation (Göttingen 2014).

Kroh 2008: JensJens, Walter Kroh, Erinnern global. In: Bundeszentrale für politische BildungBundeszentrale für politische Bildung, Dossier Geschichte und Erinnerung, 21. November 2008 URL: <http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39863/erinnern-global> [Zugriff: 03.04.2016]

Sznaider 2016: Natan Sznaider, GedächtnisGedächtnis im Zeitalter der GlobalisierungGlobalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 3–4, 2016, 10–15.

3.3 Erinnern in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft

Auch die globalen Wanderungsströme der zurückliegenden Jahrzehnte verändern die ErinnerungskulturErinnerungskultur. Welche Auswirkungen hat die Zuwanderung ethnischer und religiöser Minderheiten auf bestehende Erinnerungsgemeinschaften im Einwanderungsland? Vor welchen Herausforderungen stehen Mehrheitsgesellschaft und Migranten bzw. Einwanderer-Communities, jeweils für sich und im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander? Das sind hochpolitische Fragen, die sich bereits heute stellen und im ‚Zeitalter der Migration‘ absehbar weiter an Bedeutung gewinnen werden.

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es hat lange gedauert, bis sich Gesellschaft und Politik zu diesem empirisch unbestreitbaren Befund bekannten. Insgesamt leben bereits heute rund 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik, das sind über 20 Prozent der Bevölkerung. Frühere ‚Gastarbeiter‘-Familien (→ Glossar) befinden sich inzwischen in zweiter und dritter Generation in Deutschland, ihre Kinder und Enkel sind hier geboren, oft im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit – und nicht selten geprägt von einem doppelten, z.T. sogar multiplen Heimat- bzw. Zugehörigkeitsgefühl.

Zuwanderung (und im Übrigen auch Auswanderung) hat es immer schon gegeben. So berichtet jedes örtliche Telefonbuch des Ruhrgebiets mit der Massierung polnischer Nachnamen vom ‚Pott‘ als Einwanderungsregion im Zeitalter der Industrialisierung. Und auch die Anfangsjahre der Bundesrepublik waren von einer immensen Integrationsaufgabe geprägt: Die Millionen Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten mussten nicht nur in Lohn und Brot gebracht werden, auch ihre Erinnerungen an FluchtFlucht und Vertreibung und Vertreibung, an die alte Heimat und die abgebrochenen deutschen Kulturtraditionen im Osten verlangten nach politischer und gesellschaftlicher Achtung (→ Kapitel 4.1).

Während der Staat sich bemüht, das ostdeutsche Kulturgut in den erinnerungskulturellen Haushalt der Bundesrepublik aufzunehmen, gibt es derzeit wenige Versuche, auch die Erfahrungen der Zuwanderer aus anderen Staaten und Kulturen in die kollektive Erinnerung einzubeziehen. Als „augenfällig blass und unterbelichtet“ beurteilten die Historiker Jan MotteMotte, Jan und Rainer OhligerOhliger, Rainer die historische Dimension im Migrationsdiskurs. Sie kritisieren, Einheimische und Zuwanderer bzw. deren Kinder lebten noch immer in „getrennten Erinnerungslandschaften“ (Motte/Ohliger 2004, 47). Unter Migranten wie unter Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft herrschen wechselseitig gravierende Defizite im Wissen um die Geschichtsbilder ihres Gegenübers. Allenfalls das Foto des Portugiesen Armando Rodrigues, der 1964 als millionster Gastarbeiter ein Moped geschenkt bekam, zählt als Ikone der Wirtschaftswunderjahre zum nationalen Bilderschatz. Eine Historisierung der Migration steckt aber noch immer in den Anfängen, auch wenn deutsche MuseenMuseen begonnen haben, Migrationsprozesse darzustellen, und die Musealisierung der Migration international durchaus Konjunktur hat (siehe Baur 2009; ders. 2010; ders. 2013).


Abb. 3: Migration im Museum: Vitrine des Realschulprojekts in der Geschichtswerkstatt zur Sonderausstellung des DHMMuseenDHM „Zuwanderungsland Deutschland“

Die öffentliche Zuwanderungs-Debatte pendelte in Deutschland lange zwischen den Auswüchsen von Fremdenfeindlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft einerseits und andererseits einem Nützlichkeitsdenken in Wirtschaft und Politik, in dem Zuwanderung angesichts des demographischen Wandels zur Sicherung des Sozialstaats ausdrücklich gefordert wird. Seit einigen Jahren gewinnt unter dem Schlagwort „Zweite deutsche Einheit“ das Bemühen um eine bessere gesellschaftliche Integration der Zugewanderten an Fahrt. Dabei geht es vorrangig um Spracherwerb, um Ausbildungs- und Beschäftigungsperspektiven, um die Überwindung der Bildungssegregation, also der ungleichen Verteilung von Bildungschancen. Integrationsbemühungen berühren aber auch ganz wesentlich Fragen von Zugehörigkeit und Identität, und dabei bündeln sich vielfältige Dimensionen von Geschichte und Politik. Wie bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt geht es auch hier um Partizipation, um emotionale Zugehörigkeit. So betonen Jan MotteMotte, Jan und Rainer OhligerOhliger, Rainer (2004, 48) die Notwendigkeit historisch-symbolischer Anerkennung als wichtigen Baustein „einer vollständigen, auch staatsbürgerlichen Akzeptanz und Voraussetzung für volle Partizipation im Gemeinwesen.“

Unter dem Begriff Integration sammeln sich ganz unterschiedliche Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens, ihre Schlagworte lauten u.a. „Kulturelle Vielfalt“, „Multikulturelle Gesellschaft“, aber auch „Leitkultur“ und „Assimilation“. Die öffentliche Debatte fokussiert – so wie während der leidenschaftlich geführten Debatte zu Beginn des Jahrtausends, als sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft in überaus kontroversen Diskussionen ihrer zentralen Werte und Normen vergewisserte (siehe Lammert 2006) – vorrangig auf die Integrationsbereitschaft der Migranten in die verfassungsrechtlichen und kulturellen Grundlagen der Mehrheitsgesellschaft. Den gesellschaftlichen Veränderungen, die Zuwanderung auch für die aufnehmende Gesellschaft brachte, und den Erfahrungen der Migranten wurden und werden hingegen nur wenig Aufmerksamkeit und Interesse entgegengebracht.

Im schier uferlosen Strom wissenschaftlicher Literatur zur ErinnerungskulturErinnerungskultur bilden die Studien, die sich dezidiert dem Erinnern in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft widmen, noch immer ein Rinnsal. Vor allem die Erziehungswissenschaften leisten wichtige Pionierarbeit. Viola B. GeorgiGeorgi, Viola B. erkennt sechs „Dimensionen historischer Sinnbildung“ in der Einwanderungsgesellschaft: „1. Die Geschichte des Aufnahmelandes bzw. des Einwanderungslandes, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Mehrheit. 2. Die familiär-tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft, also die privaten Narrative der Mehrheit. 3. Die Geschichte der Herkunftsländer und Regionen der Migranten und Migrantinnen, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative der Minderheit. 4. Die familiär-tradierten Geschichten und Erzählungen der Repräsentanten der Einwanderer-Communities, also die privaten Narrative der Mehrheit. 5. Die spezifische Migrationsgeschichten der und über die Einwanderer-Communities, also die Narrative der Migration. 6. Die im doppelten Sinn geteilte – trennende und gemeinsame – Geschichte der Beziehungen von Einheimischen und Eingewanderten, also die geteilten Narrative.“ (Georgi/Ohliger 2009, 11)

 

Menschen mit Migrationsgeschichte stehen in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Anerkennung der eigenen Vergangenheit einerseits und nach Zugehörigkeit zur Geschichte der Mehrheitsgesellschaft andererseits. GeorgiGeorgi, Viola B. unterscheidet bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund deshalb fünf Varianten der Aneignung von Geschichte (ebd. 12f.): 1. Orientierung an den historischen Traditionen des Herkunftslandes; 2. Übernahme kollektiver Geschichtsdeutungen aus der Mehrheitsgesellschaft; 3. Verortung ausschließlich in der ErinnerungskulturErinnerungskultur der jeweiligen Einwanderer-Community, die mit konstituiert und tradiert wird; 4. Mischen von Elementen unterschiedlicher Kollektivgedächtnisse; 5. Geschichts- und Erinnerungslosigkeit, weil einerseits Verlust der historischen Traditionen aus dem Herkunftsland und gleichzeitig Ausschluss vom GeschichtsbewusstseinGeschichtsbewusstsein des Einwanderungslandes.

In der multi-ethnischen Gesellschaft erfahren die an sich schon pluralen ErinnerungskulturenErinnerungskultur also weitere Diversität. „Das Vielfältige ist die Zukunft der Vergangenheit“ (Georgi/Ohliger 2009, 20) – dieser programmatische Satz zeigt: Das Kaleidoskop der historischen Betrachtung wird in der modernen EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft mit seiner ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt bunter. Historische Erzählungen und Geschichtsbilder können neue, bislang nicht vorhandene Formen annehmen. Migrationsgeschichte, Herkunftsgeschichte, Familiengeschichte und die Geschichte der Aufnahmegesellschaft müssten, so die Forderung der Wissenschaftler, zukünftig weit stärker auf ihre Gemeinsamkeiten, Zusammenhängen und Wechselwirkungen hin betrachtet werden.

Für die ErinnerungskulturErinnerungskultur im Einwanderungsland Deutschland stellen sich vor diesem Hintergrund und unter dem Gesichtspunkt nationaler Identität, also der Bindekraft miteinander geteilter Erinnerungen, gravierende Herausforderungen. Es wird verstärkt auszuhandeln sein, welchen Stellenwert die verschiedenen Erinnerungskulturen innerhalb der Gesellschaft haben sollen. Hier sind besondere Vermittlungsanstrengungen nötig, denn mit einer dauerhaften ‚Segregation der Erinnerung‘ gehen Ausgrenzungsprozesse einher, fehlen zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Alltags in der Erinnerungskultur.

Konfliktpotential steckt insbesondere in der Frage, wie sich Eingewanderte zu den kollektiv erinnerten Geschichten der Mehrheitsgesellschaft positionieren. Zu berücksichtigen ist dabei, dass nicht alle historischen Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft für Zuwanderer anschlussfähig sind, gerade bei schuldbeladenen Narrativen, die zum identitätsstiftenden Grundbestand der deutschen ErinnerungskulturErinnerungskultur gehören, ist das schwierig. Gefragt wird etwa, wie historisch unbelastete Migranten die Gewaltgeschichte des NationalsozialismusNationalsozialismus als „negatives Eigentum“ (Jean Améry) annehmen sollen (siehe Gryglewski 2013; Messerschmidt 2016). BundespräsidentBundespräsident Joachim GauckGauck, Joachim prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Verantwortungsgemeinschaft“, zu der sich die „Erfahrungsgemeinschaft“ wandeln müsse, damit in diese auch die Zuwanderer eintreten könnten. Die Größe dieser Aufgabe wird deutlich angesichts von Konflikt-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen in den Zuwanderer-Communities, die mit historisch gewachsenen Normen in der Mehrheitsgesellschaft kollidieren. Beispielhaft veranschaulicht das der Israel-Palästina-Konflikt oder der Völkermord an den Armeniern. Um solche widersprüchlichen Interpretationen aufzufangen, braucht es verstärkte Anstrengungen bei der Vermittlung historischen Wissens und der darauf gewachsenen Werte. Es wird dazu neuer Kontextualisierungen der deutschen Geschichte bedürfen. MuseenMuseen und Gedenkstätten werden in ihren pädagogischen Angeboten stärker die jeweiligen kulturellen Vorkenntnisse und Erfahrungen berücksichtigen und auf Interessen der Migranten eingehen müssen, sie werden die Menschen mit ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen häufiger als bisher bei ihren eigenen biographischen Erinnerungen ‚abholen‘ und neue Vermittlungs- und Aneignungswege ausprobieren müssen.

Wie reagiert die Politik? Sie hat die Herausforderung zwischenzeitlich erkannt (siehe Wagner 2009, 227–279). „Integration bedeutet die Einbindung in das gesellschaftliche, wirtschaftliche, geistig-kulturelle und rechtliche Gefüge des Aufnahmelandes ohne Aufgabe der eigenen kulturellen Identität“, heißt es im Nationalem Integrationsplan (→ Glossar), der den „angemessene[n] Umgang mit kultureller Vielfalt [als] eine notwendige Kompetenz für alle Teile der Gesellschaft“ beschreibt (BundesregierungBundesregierung 2007, 127). Auch die Enquete-Kommission des Deutschen BundestagesBundestag „Kultur in Deutschland“ widmete sich in ihrem Abschlussbericht dem neuen Leitgedanken „Interkultur“ (Bundestag 2008, 308ff.). Explizit angesprochen wird die historische Dimension der Zuwanderung indes nicht. Immerhin verband 2011 die damalige Integrationsbeauftragte Maria BöhmerBöhmer, Maria (CDU) die Einsetzung eines neuen Bundesbeirats für Integration ausdrücklich mit dem Wunsch, dieser solle auch die gesellschaftliche Identitätsdebatte voranbringen. Mit Blick auf „Heimatgefühle“ in der EinwanderungsgesellschaftEinwanderungsgesellschaft postulierte der Beirat 2013, Heimat sei nicht mehr nur eine „Schicksalsgemeinschaft, die sich aus einer gemeinsamen Vergangenheit definiere“, sondern eine „Gemeinschaft der Zukunft.“ Gleichzeitig wurde aber auch betont, dass Heimat ohne eine gemeinsame Geschichts- und ErinnerungskulturErinnerungskultur inhaltslos sei. Der „Bau einer modernen Identität als Einwanderungsgesellschaft“ müsse mit der Entwicklung eines neuen Zugangs zur deutschen Geschichte anfangen, wozu etwa ein nationaler Erzähl-Marathon einberufen werden solle (Beirat 2012). Die Geschichte der Einwanderung, die Aufbauleistung von Einheimischen und Zugewanderten als gemeinsamer Erfolg müssten als Teil der Erinnerungskultur künftig stärker vermittelt und in Schulbüchern und Ausstellungen thematisiert werden. Geschichts- und Zeitbilder der Einwanderung und Integration sollten zudem in der Benennung von Straßen und Plätzen deutlich werden. Diese Form der Symbolpolitik steckt allerdings noch gänzlich in den Anfängen, ebenso verhallen vereinzelte Aufrufe, einen Gedenktag zu etablieren, bislang ungehört. Immerhin: Bei einem Festakt zum 60. Jahrestag der ersten Gastarbeiteranwerbung dankte BundeskanzlerinBundeskanzler/in Angela MerkelMerkel, Angela allen, die am WirtschaftswunderWirtschaftswunder mitgearbeitet haben. Bereits zuvor setzte das Parlament ein wichtiges Zeichen: Am 23. Mai 2014 hielt im Deutschen Bundestag der Schriftsteller Navid KermaniKermani, Navid, Deutscher iranischer Herkunft und Muslim, die zentrale Festrede zum 65. Jahrestag des GrundgesetzesGrundgesetz (Kermani 2014). Angesichts der prognostizierten tiefgreifenden demographischen Veränderungen in der deutschen Gesellschaft und der anhaltenden Zuwanderung wird die Debatte über das Erinnern in der Zuwanderungsgesellschaft absehbar weiter an Bedeutung gewinnen.