Geschichte im politischen Raum

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2.4 GeschichtspolitikGeschichtspolitik und GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl

Alle Geschichte, postuliert Heinrich August WinklerWinkler, Heinrich August (2004, 7), sei eine Geschichte von Kämpfen um die Deutung von Geschichte. Was meint er damit? Erinnerungen sind an die Gegenwart gebunden, die Deutungen von Geschichte also zeitimmanent und kontextabhängig. Damit sind divergierende Interpretationen möglich, um historischen Ereignissen Sinn zu verleihen, unterschiedliche Geschichtsbilder treten in Konkurrenz zueinander. Da diese aber auf das gesellschaftliche Selbstverständnis zielen, erwächst dem Streit um die historische Deutungshoheit eine eminent politische Dimension (siehe Steinbach 2013). Beim „Griff nach der Deutungsmacht“ (Winkler 2004) geht es also immer auch um die politische Diskurshegemonie. Der politische Kampf wird zum Geschichtskampf, die Deutung von Vergangenheit zur „GeschichtspolitikGeschichtspolitik“ (siehe Schmid 2009 und 2009c; Troebst 2013).

Edgar WolfrumWolfrum, Edgar hat maßgeblich dazu beigetragen, den im ‚HistorikerstreitHistorikerstreit‘ (→ Kapitel 4.2) als „publizistischen Kampfbegriff“ (Schmid 2009c) geprägten Terminus zu einem eigenständigen Theorieansatz fortzuentwickeln (siehe Wolfrum 1996; ders. 1998; ders. 2001). Wolfrum versteht unter GeschichtspolitikGeschichtspolitik die Untersuchung eines Handlungs- und Politikfeldes, „auf dem verschiedene politische Akteure die Vergangenheit mit bestimmten Interessen befrachten und in der Öffentlichkeit um Zustimmung ringen“ (Wolfrum 1998b, 4f.). Weil die Praxis der politischen Indienstnahme von Geschichte und die Erforschung dieser Praxis begrifflich nicht getrennt voneinander sind, sondern beides unter ‚Geschichtspolitik‘ firmiert, unterstreicht Wolfrum (2013, 37) die Ideologiefreiheit der Forschungen zur Geschichtspolitik: Sie „wollen mitnichten Rezepte für den Umgang mit Vergangenheiten liefern. Sie wollen vielmehr herausfinden, wer, wann, warum und mit welchen Mitteln Vergangenheit nutzt, sich auf sie beruft, sie politisch deutet und ummodelt“. Ergebnisse dieser Forschungen sind mithin auch gerade für den interessant, der heute selbst an historisch fundierter politischer Sinnstiftung mitwirken möchte oder daran bereits teilhat.

Das geschichtspolitische Forschungsinteresse liegt weniger auf dem mythisch verdichteten und verinnerlichten Ereignis als vielmehr auf den Akteuren des Deutungskampfes, die die Mobilisierungs- und Integrationskraft der kollektiven Vorstellungen, Denk- und Weltbilder in den Dienst ihrer politischen Interessen stellten (siehe Fröhlich/Heinrich 2004). Die geschichtspolitische Forschung richtet ihren Blick über die ‚Höhenkammliteratur‘ hinaus wesentlich auf den außerwissenschaftlichen Raum. Denn gerade politische Eliten geben nachhaltig Impulse auf die öffentlich zirkulierenden Geschichtsbilder, die in politischen Debatten Breitenwirkung entfalten (Wolfrum 1996, 390). Nicht nur das Verhältnis von Geschichte und Politik, sondern auch das zwischen Politiker und Historiker ist delikat. Zitate zweier Repräsentanten aus Wissenschaft und Politik veranschaulichen die Selbstwahrnehmung der jeweils eigenen Rolle: Während sich BundespräsidentBundespräsident Richard von WeizsäckerWeizsäcker, Richard v. (1920–2015) auf dem Historikertag 1988 bescheiden als „Verbraucher“ geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse präsentierte (Weizsäcker 1990,115), formulierte der Historiker Lothar GallGall, Lothar (1997, 1) bei gleicher Gelegenheit acht Jahre später das Verhältnis aus Sicht des Wissenschaftlers so: „Und der Historiker war über Jahrhunderte oft nicht mehr als ein zur Dienstleistung für andere Zwecke herbeigezogener Knecht, seine Wissenschaft eine Dienstmagd, eine ancilla.“ Die Indienstnahme von Geschichte in der Politik hat eine Orientierungsfunktion, sie soll Öffentlichkeit mobilisieren, politisieren und als Bindemittel dienen, um nationale, soziale und andere Gruppen zu integrieren, sie kann ausgrenzen, Gegner diffamieren und gleichzeitig das eigene Handeln legitimieren (Wolfrum 2001, 5f.). Daher lauten zentrale Fragestellungen geschichtspolitischer Forschung, wer die Geschichte wie und mit welchem Kalkül in die politische Debatte einbringt, welche Reaktionen sie provozierte und welche Grenzen ihrer Wirksamkeit gesetzt sind.

Welche Rolle spielt dabei der Staat mit seinen Institutionen und Repräsentanten? Er greift einerseits mit seiner Gedenkpolitik aktiv ein, andererseits bündeln sich in den quasi staatlich sanktionierten Geschichtsbildern die gesellschaftlich mehrheitsfähigen Deutungen. Derart kulturell gestiftetes Erinnern tritt zwangsläufig in Konkurrenz zu den privaten Erinnerungen, die in Familien über Generationen weitergegeben werden. Nach Einschätzung von Aleida AssmannAssmann, Aleida (2006, 4) entwickeln sich in vielen Gesellschaften Zweigleisigkeiten zwischen einem offiziellen und einem inoffiziellen GedächtnisGedächtnis: „Unter den monumentalen Deklamationen und Zeichensetzungen des Staates erhält sich das Netz eines sozialen Gedächtnisses, das eine kognitive Dissonanz produziert, damit aber auch eine kritische Distanz zur offiziell verordneten Gegenwartsdeutung ermöglicht.“ Neben den großen nationalen und heute nicht selten europäischen Narrativen eines verordneten offiziellen Gedächtnisses, in dem den ‚alten‘ Institutionen des Kulturbetriebs eine Vermittlerrolle zukommen, existieren – neben den ganz privaten – zahlreiche weitere, für die Alltagswelt der Menschen dabei oftmals drängendere und anschlussfähigere Erinnerungsbezüge. In diesem Kontext werden Gefühle als die eigentlichen Konservatoren der Erinnerung relevant. Jede Erfahrung transportiert und überträgt sich demnach durch Gefühle, die ihrerseits die Erfahrung im Gedächtnis bewahren. Sie verknüpfen Vergangenheit und ZukunftZukunft, indem sie Erfahrungen und Erinnerungen in Erwartungen überführen – angstvolle oder auch optimistische (Frevert 2000, 102).

Vor und nach der Jahrtausendwende erlebte Deutschland eine „emotionale Schleusenöffnung“ (Seitz 2006). Lange verschüttete und neue Themen von hoher Sprengkraft bestimmten die Debatten: Deutsche als Opfer von FluchtFlucht und Vertreibung, Vertreibung und alliiertem Luftkrieg, aber auch DDRDDR-Nostalgiewellen unterliefen die üblichen Prämissen des Gedenkens, die auf rationale AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der doppelten Diktaturgeschichte zielen. Parallel dazu führte 2002 der Schriftsteller Martin WalserWalser, MartinAffärenWalser einen Begriff in die Debatte ein, von dem Kritiker spitz sagen, er scheue die Definition wie Walser den intellektuellen Standpunkt (Cammann/Hacke/Schlak 2003, 12). Er hat trotzdem (oder gerade deshalb) in der Folge eine erstaunliche Karriere gemacht: das „GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl“. Dolf SternbergerSternberger, Dolf (1987, 733) postulierte einst, Geschichte sei „leichenstarr“, und darum könne man Geschichte nicht „erleben“: „Fängt man an, Geschichte für das Erlebnis zuzubereiten, so löscht man ihre Geschichtlichkeit, hebt ihre unwiderrufliche Faktizität auf.“ Walser hingegen rückte gerade das emotionale Erlebnis ins Zentrum seines Vergangenheitsbezugs und verwies auf Grenzen einer bloß rational argumentierenden Identitätsstiftung: „Eine Zugehörigkeit muss man erleben, nicht definieren. Auch die Zugehörigkeit zu einem Geschichtlichen hat man nicht zuerst als Erkenntnis parat, sondern als Empfindung, als Gefühl. So kommt es wenigstens bei mir zu einem Geschichts-Gefühl. Frage sich jeder selbst, ob er, wenn er versucht, das Wort Nation zu definieren, nach dem Definieren mehr weiß als er vorher durch Empfindung wusste.“ (Walser 2002) Man könne durch Empfinden wissend werden, hielt Walser seinen Kritikern entgegen: „Wer als Intellektueller glaubt, er könne oder müsse gar über Nation gefühlsfrei denken, den darf man wohl mit allem Respekt einfältig nennen. Mein Geschichtsgefühl Deutschland betreffend ist der Bestand aller Erfahrungen, die ich mit Deutschland gemacht habe – mit dieser Nation.“ (ebd.) Ein Sturm der Entrüstung entlud sich über den Schriftsteller, auch weil Walser in seinem Plädoyer für ein „Geschichtsgefühl“ zwar von den Karolingern bis zu den Hohenzollern, vom Rhein bis zu den Alpen einige „historische Ströme“ benannte, die er „erleben“ könne, die dunklen Phasen der deutschen Geschichte aber aussparte. Walsers geschichtsgefühliger Einwurf wurde als Kampfansage an den Intellekt und die kritische Geschichtswissenschaft verstanden, als Angriff auf die Grundlagen des kulturell gestifteten kollektiven GedächtnissesGedächtniskollektives und unseren Umgang mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts (→ Kapitel 4, Infobox AffärenAffären). Die Frage, was angesichts erfahrener Gewalt erinnert und was vergessen werden soll, ist, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, so alt wie die Menschheit. Die Antwort darauf war allerdings lange eine andere als heute.

Weiterführende Literatur

Cammann/Hacke/Schlak 2003: Alexander Cammann/JensJens, Walter Hacke/Stephan Schlak (Hg.), GeschichtsgefühlGeschichtsgefühl. In: Ästhetik und Kommunikation. 34 (2003), H. 122/123.

Fröhlich/Heinrich 2004: Claudia Fröhlich/Horst-Alfred Heinrich, GeschichtspolitikGeschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? (Stuttgart 2004).

SchmidSchmid, Harald 2009: Harald Schmid (Hg.), GeschichtspolitikGeschichtspolitik und kollektives GedächtnisGedächtniskollektives: ErinnerungskulturenErinnerungskultur in Theorie und Praxis (Göttingen 2009).

François u.a. 2013: Etienne François/Kornelia Konczal/Robert Traba/Stefan Troebst (Hg.), GeschichtspolitikGeschichtspolitik in EuropaEuropa seit 1989: Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich (Göttingen 2013).

WinklerWinkler, Heinrich August 2004: Heinrich August Winkler (Hg.), Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der GeschichtspolitikGeschichtspolitik in Deutschland (Göttingen 2004).

 

WolfrumWolfrum, Edgar 2001: Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom KaiserreichKaiserreich bis zur Wiedervereinigung (Göttingen 2001).

2.5 Kein Recht auf Vergessen? Und wo bleibt die Zukunft?

„Das Zukünftige nimmt ab, das Vergangene wächst an,

bis die Zukunft verbraucht und das Ganze vergangen ist.“

(AugustinusAugustinus, Bekenntnisse XI)

Das VergessenVergessen hat gegenwärtig keinen guten Leumund. Doch das war nicht immer so. „Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört“, schreibt Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich (1844–1900) in seiner für die Gedächtnisforschung inspirierenden Abhandlung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (Nietzsche 1893, 209). Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, „der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholtem Wiederkäuen leben sollte“ (ebd. 212). Das berühmte Philosophen-Fazit lautet deshalb: „Es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“ (ebd.).

Erinnern und VergessenVergessen sind zwei Seiten der gleichen Medaille. NietzschesNietzsche, Friedrich Einwand antizipiert ein Unbehagen, das sich gegenüber dem dominierenden Erinnerungsimperativ zu regen beginnt: Gibt es nicht auch das Recht, vielleicht sogar die Notwendigkeit zu vergessen? Mit Blick auf zahlreiche historisch aufgeladene Konflikte formuliert Jan AssmannAssmann, Jan einen naheliegenden Gedankengang (ohne ihn sich gemein zu machen): „Allen wäre geholfen, wenn die Vergangenheit begraben, ein Schlussstrich gezogen und endlich eine gemeinsame Zukunft gefunden werden könnte. […] Die Vergangenheit hat uns im Griff, sie verengt unseren Blick für die Zukunft und beschränkt unsere Handlungsfreiheit. In solchen Fällen wäre mit Vergessen viel zu erreichen“ (Assmann 1999a, 25). Der Althistoriker Christian MeierMeier, Christian hat dazu unter dem Titel „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“ einen anregenden Essay vorgelegt (Meier 2010). Seine Untersuchung zum öffentlichen Umgang mit „schlimmer Vergangenheit“ bürstet das gegenwärtige Erinnerungsdogma gehörig gegen den Strich. Meier zeichnet nach, dass die Menschheit über Jahrtausende auf das Vergessen und gerade nicht das Erinnern setzte, um den gestörten Frieden untereinander wiederherzustellen. Von der Antike über das MittelalterMittelalter bis zur Neuzeit enthielten die Verträge nach Kriegen und Bürgerkriegen Bestimmungen, vergessen zu sollen, es regierte Amnestie und Amnesie. Erst das 20. Jahrhundert räumte welthistorisch neuartig mit dieser Praxis auf, beginnend mit der AufarbeitungVergangenheitsbewältigung des Ersten WeltkriegsErster Weltkrieg. Auschwitz schließlich habe die völlige Abkehr vom Gebot des Vergessens bewirkt. Meier schildert diesen Wandlungsprozess nicht allein deskriptiv-chronologisch, er bindet das Erinnern und Vergessen zugleich normativ an die Forderung nach Gerechtigkeit und die Notwendigkeit zum Frieden (ebd. 9ff., 81ff.). An diesen zwei konfliktreichen Alternativen haben sich Gesellschaften in der „Konfrontation mit schlimmer Vergangenheit“ abzuarbeiten – und es bedarf keiner expliziten Erwähnung, in welche Richtung sich die Waagschale in Deutschland neigt. Dabei hat sich heute weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, „dass es keinen wirklichen Frieden geben kann, solange nicht den Opfern, ihren Angehörigen und Nachkommen Gerechtigkeit widerfährt, im Erinnern an das, was tatsächlich geschehen ist.“ (Norbert Lammert, BT-Plenarprotokoll 18/101, S. 9653)

Und die Zukunft? Wo bleibt bei all den Vergangenheitsbezügen der Gegenwart, dieser „Übersättigung einer Zeit in Historie“ (Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich), eigentlich die Zukunft? Der Philosoph Sir Karl Raimund PopperPopper, Karl Raimund (1902–1994) hat gegenüber teleologischen Ansprüchen der Geschichtsphilosophie proklamiert: „Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig“ (Popper 1945, 5). Gegenüber dieser normativ gesetzten Freiheit des Menschen, seine Zukunft selbst zu gestalten, betont das Erinnerungsparadigma unsere Abhängigkeit von der Vergangenheit – überlagert sie unsere Zukunftsvorstellungen inzwischen bereits? Der Befund ist nicht eindeutig. Der Publizist und frühere Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Joachim FestFest, Joachim (1926–2006) urteilte noch 2004 über das deutsche GeschichtsbewusstseinGeschichtsbewusstsein: „Deutschland hat einerseits Angst vor dem Neuen, und andererseits ist es völlig geschichtslos. Das Gestern hat in Deutschland keine Anwälte, nicht erst seit HitlerHitler, Adolf. Die Deutschen haben sich stets in irgendwelche Zukünfte hineingeträumt, aber die sind ihnen durch den Zusammenbruch der Ideologien und Utopien genommen. Jetzt leben sie nur noch in der Gegenwart“ (Amend 2004). Und „Die Zeit“ konstatierte ein Jahrzehnt später: „Alles, wirklich alles dreht sich zurzeit um die Zukunft der Herkunft! Das heißt aber: Wir sind dabei, den Begriff der Herkunft inflationär zu verwenden. Tag für Tag verliert er an Wert. Bald wird er weiter nichts sein als ein Gespenst der Vergangenheit“ (Das kommt davon. In: Die Zeit, 11.12.2014). Auch der Sozialpsychologe Harald WelzerWelzer, Harald (2012, 34f.) sieht in der deutschen ErinnerungskulturErinnerungskultur die Tendenz zu „einer ‚Memorymania‘ (A. Assmann), in der Vergangenes nicht auf seinen Gebrauchswert hin befragt, sondern an sich für erinnernswert gehalten wird.“ Diese „Zukunftsvergessenheit“ definiert Welzer als „eine seltsam indifferente Haltung allem gegenüber, was Zukunftsbewältigung sein könnte“. Die Vergangenheit bekomme demnach ein solches Gewicht, dass sie – im Sinne des Eingangszitats von AugustinusAugustinus – die Gegenwart dominiere und die Zukunft dezimiere.

Gewarnt wird also nicht nur vor der banalisierenden Aushöhlung des Vergangenheitsbezugs, beklagt wird auch der zunehmende Verlust an Fortschrittsglauben und Utopien. Der Kulturhistoriker Thomas MachoMacho, Thomas fragt angesichts der Gedächtniskonjunktur, wie viel Zukunft wir eigentlich überhaupt noch der Zukunft geben: Was wird kommen, was bringt die Zukunft? Diese Fragen würden wir gar nicht mehr stellen, während sich alle Kulturen stets auch in ihrem Umgang mit der Zukunft konstituiert hätten: durch ihre Techniken der Voraussage, der Planung, der Prognostik (Macho 2007; siehe auch Mayer/Pandel/Schneider 2000, 260–269). Der Historiker Paul NolteNolte, Ernst (2003, 28) empfahl deshalb bereits Anfang des Jahrtausends, als der gesellschaftliche Reformstau der Nachwende-Ära die Debatten prägte, der übermäßigen Historisierung Grenzen zu setzen und sich, statt Vergangenheit als Zukunft zu präsentieren, wieder dem Gegenwartsprojekt der Gesellschaftsreform zuzuwenden. Diese Mahnung von Wissenschaftsseite hat die Politik erreicht. 2014 eröffnete BundespräsidentBundespräsident Joachim GauckGauck, Joachim den 50. Historikertag mit der bemerkenswerten rhetorischen Frage, ob die Geschichte nicht dabei sei, über die Gegenwart und über die Zukunft zu siegen? „Wo ist nur die Zukunft hin?“, fragte ein angesichts der unaufhörlichen Konfrontation mit der Geschichte, mit Jubiläen, Gedenktagen, Erinnerungen, Denkmälern oder Denkmalplanungen verunsicherter Bundespräsident in seinem eindrücklichen politischen Plädoyer dafür, sich nicht nur der Vergangenheit zu stellen, sondern auch die Zukunft zu gestalten (Gauck 2014). Doch ein Ende des Vergangenheitsbooms ist nicht in Sicht, im Gegenteil.

Weiterführende Literatur

Dimbath/Wehling 2011: Oliver Dimbath/Peter Wehling (Hrsg.), Soziologie des VergessensVergessen: Konturen, Themen und Perspektiven (Konstanz 2011).

MeierMeier, Christian 2010: Christian Meier, Das Gebot zu VergessenVergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit (München 2010).

NietzscheNietzsche, Friedrich 1893: Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen (Berlin 20143) 59–118 [Erstdruck: Leipzig 1893].

3 Zur Zukunft des Gedenkens – neue Herausforderungen der GeschichtspolitikGeschichtspolitik

Gesellschaften und mit ihnen Erinnerungsgemeinschaften befinden sich im steten Wandel. ErinnerungskulturErinnerungskultur(en) und auch das öffentliche Gedenken sind deshalb nie statisch. In einem sich verändernden sozialen Bezugsrahmen durch Generationenwechsel sowie die Dynamik sozialer und politischer Umbrüche verlieren historische Epochen an geschichtspolitischer Relevanz, dafür rücken andere neu oder mit modifizierten Fragestellungen in den Fokus. Drei solcher grundlegenden Wandlungsprozesse und ihre geschichtspolitischen Implikationen werden im Folgenden exemplarisch vorgestellt (siehe dazu auch Zukunft 2010). Denn den damit verbundenen Herausforderungen wird sich absehbar jeder stellen müssen, der sich in der Politik aktiv am erinnerungskulturellen Diskurs beteiligen will.

3.1 Das Ende der NS-Zeitzeugenschaft

Geschichtsschreibung stützt sich auch auf Selbstzeugnisse von Menschen, dazu gehören Tagebücher, Briefe, Memoiren, Gerichtsaussagen und andere mehr. Die Aussagen des ZeitzeugenZeitzeuge unterscheiden sich von diesen historischen Quellen grundlegend, da sie nicht aus der Zeit stammen, sondern erst später verfasst werden. Der Begriff Zeitzeuge hat seine Ursprünge in den 1970er Jahren. Er ist eng mit der Oral history (→ Glossar) verknüpft (siehe Sabrow 2012). Sein Aufstieg hat vor allem mit der veränderten medialen Vermittlung von Geschichte zu tun, vor allem im Fernsehen, wo der Authentizität versprechende Zeitzeuge längst den geschichtliche Sachverhalte beglaubigenden Historiker ergänzt, wenn nicht sogar verdrängt hat.

Mit dem ZeitzeugenZeitzeuge rückt gegenüber schriftlichen Selbstzeugnissen das Interview ins Zentrum, das sich durch die körperliche Präsenz des Erzählers auszeichnet. Martin SabrowSabrow, Martin (2012, 13) beschreibt den erzählenden Zeitzeugen bildlich als Wanderer zwischen der Welt der Vergangenheit und der Gegenwart und definiert ihn in Abgrenzung zum Tat- oder Augenzeugen: „Der Zeitzeuge […] beglaubigt nicht so sehr außerhalb seiner selbst liegende Geschehnisse, wie dies der klassische Tat- und Augenzeuge tut; er konstituiert vielmehr durch seine Erzählung eine eigene Geschehniswelt.“ Er bestätige weniger durch sein Wissen fragliche Einzelheiten eines sich häufig ohne sein Zutun abspielenden Vorgangs, sondern dokumentiere durch seine Person eine raumzeitliche Gesamtsituation der Vergangenheit: Er „autorisiert eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit von innen als Träger von Erfahrung und nicht von außen als wahrnehmender Beobachter.“

Der Bedeutungsgewinn des ZeitzeugenZeitzeuge ist untrennbar mit der AufarbeitungVergangenheitsbewältigung der nationalsozialistischenNationalsozialismus Vergangenheit verbunden. Anfänglich diente er einer ‚Gegengeschichte‘ von unten: gegen die Fixierung auf die Täter durch die Übermacht ihrer schriftlichen Überlieferung in Form von Akten, gegen abstrakt-theoretische Erklärungen, gegen Distanzierungsbestrebungen, wie sie der Begriff ‚VergangenheitsbewältigungAufarbeitung‘ (→ Kapitel 6.1) suggeriert. Diese ursprünglich kritische Funktion büßte der Zeitzeuge jedoch in seinem medialen Siegeszug zugunsten seiner heute vorrangig bekräftigenden, meist nur illustrierenden Rolle ein (Sabrow 2012, 21). Die Geschichtswissenschaft begegnet dem Zeitzeugen dementsprechend mit Vorbehalten. Er gilt gemeinhin als ihr größter Feind (siehe Plato 2000). Die Kritik, die hier nur ansatzweise skizziert wird, baut auf der trügerischen persönlichen Erinnerung, auf der Subjektivität im Erleben historischer Ereignisse und Prozesse, die nicht selten in Konflikt mit anderen überlieferten Zeugnissen gerät. Der Informationsgehalt der Zeitzeugenaussage gilt dem kritischen Historiker als überschätzt, da er selten über den anderer Quellen hinausgehe. Dafür reproduziere der Zeitzeuge aber gern verbreitete Stereotype. Dem Historiker komme deshalb die Aufgabe zu, die Zeitzeugenaussagen zu prüfen, abzugleichen, zu kontextualisieren und so in ihrer Bedeutung zu gewichten. In einem medialen Umfeld aber, das den Zeitzeugen weitgehend unhinterfragt zur zentralen Beglaubigungsinstanz erhoben hat, gewinnt der Zeitzeuge aus Sicht seiner Kritiker eine problematische Dominanz. Die emotionalisierende Suggestionskraft der Zeitzeugenschilderung unterlaufe die wissenschaftlichen Prämissen des auf Aufklärung bedachten Historikers – und macht den Zeitzeugen gerade deshalb so attraktiv für eine Geschichtsaufbereitung, die weniger einem sachlich-nüchternen Erkenntnisanspruch folgt als vielmehr in einer breiten Öffentlichkeit den emphatischen Geschichtszugang sucht.

 

Insbesondere die gemeinhin dem ZeitzeugenZeitzeuge zugesprochene Authentizität (→ Glossar), das heißt sein angenommener „Wirklichkeitsvorsprung gegenüber anderen Erzähltypen“ (Welzer 2012, 33), erregt den Widerspruch der Historiker. Sie betonen seinen Charakter als Kunstfigur, der eine Vermittlerrolle zwischen Vergangenheit und Gegenwart ausübe. Der Zeitzeuge verspreche zwar den unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit, der perspektivische Fluchtpunkt der erinnernden Erzählung liege aber in der Gegenwart (ebd.). In Wirklichkeit passe der Zeitzeuge seine Erinnerung den Wertmaßstäben der Gegenwart an. Das unterscheide ihn vom Mitlebenden bzw. Zeitgenossen. Ein Erzähler, der den Geist der Zeit, von der er zeugt, willentlich oder unwillentlich in die Gegenwart transportiere, falle jedoch aus seiner Rolle. Denn die vom Rezipienten erwünschte Leistung des Zeitzeugen sei gerade die kathartische Distanzierung von der Vergangenheit. Deshalb komme im Regelfall allenfalls der geläuterte Mit-Täter zu Wort, nie aber der bekennende Nazi oder Kommunist. Denn der würde die Vergangenheit nicht in ihrer Überwundenheit und Unwiderbringlichkeit, sondern im Gegenteil in ihrer Ungebrochenheit und vorstellbaren Wiederholbarkeit beschwören (Sabrow 2012, 25ff.).

Trotz solcher Kritik: Der ZeitzeugeZeitzeuge ist das goldene Kalb, um das sich die Erinnerungsgemeinschaft versammelt. Mit dem Ableben der letzten Generation, die den NationalsozialismusNationalsozialismus noch selbst erlebt hat, zeichnet sich jedoch ein tiefgreifender Wandel ab. Damit sind tektonische Verschiebungen in den Grundpfeilern der ErinnerungskulturErinnerungskultur verbunden. Der Hinweis auf das nahende Ende der NS-Zeitzeugenschaft gehört längst zum festen Grundbestand jeder Gedenkrede. Von geschichtspolitischer Brisanz ist, dass natürlich nicht die Zeitzeugenschaft an sich endet, sondern nur das lebendige Zeugnis von NS-Diktatur, Krieg und Holocaust, das bislang alle vorangegangenen und späteren Epochen dominierte. Wenn also, was unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft anzunehmen ist, dem Zeitzeugen ungebrochen die herausragende Bedeutung in der Vermittlung von Geschichte wie bisher zukommen wird, dann werden sich zwangsläufig Epochen der Zeitgeschichte verstärkt in den Fokus schieben, die bislang weniger Aufmerksamkeit gefunden haben. Denn mit noch lebenden Zeitzeugen verfügen sie über ein größeres mediales Darstellungspotential als die Vergangenheit, die mit dem Ende der Generation von Mitlebenden ins Stadium ‚toter‘ Geschichte übergegangen ist. Mit dem Schwinden der Zeitzeugen geht natürlich nicht zwangsläufig die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu Ende, mit Blick auf den kategorischen Erinnerungsimperativ ist das in Deutschland auch nicht zu erwarten; es geht aber die unmittelbare Präsenz der Erfahrung der Überlebenden verloren, „die auf einzigartige Weise zu berühren vermag und Lernprozesse in Gang setzen kann“ (Knigge 2005). Anders ausgedrückt: Es beginnt das Stadium der Historisierung. Die Geschichtsschreibung wird zwar auch weiterhin über einen gigantischen Pool an Zeitzeugenstimmen in Schrift, Ton und Bild verfügen, und zahlreiche Initiativen widmen sich derzeit bereits der Aufgabe, möglichst viele dieser Interview-Zeugnisse zu sammeln, um sie zukünftigen Generationen bereitzustellen (etwa die Shoah-Foundation von Steven SpielbergSpielberg, Steven oder das deutsche Projekt „GedächtnisGedächtnis der Nation“ mit seinem Jahrhundertbus). Moderne technische Mittel sollen den NS-Zeitzeugen auf diese Weise virtuell in die Nachwelt retten. Nicht nur Totgesagte, sondern Tote leben länger, ironisiert Christoph ClassenClassen, Christoph (2012, 302) das Vorgehen. Doch die ‚Konserve‘ ist von grundlegend anderer Qualität, denn der Zeitzeuge könne die „Imagination der unmittelbaren Begegnung mit der Vergangenheit“ nur so lange verbürgen wie er selbst der Gegenwart angehöre. Sein Zeugnis verliere für die Geschichtsvermittlung an Relevanz, wenn das Band der Generationen gerissen sei (Sabrow 2012, 25f.).

Wenn die AufarbeitungVergangenheitsbewältigung von NationalsozialismusNationalsozialismus, Krieg und ShoahHolocaust/Shoah weiterhin das erinnerungskulturelle Fundament im Selbstverständnis der Deutschen bilden soll, woran politisch kein Zweifel gelassen wird, bedarf es besonderer Anstrengungen, um die Erinnerung auch künftig wachzuhalten. Das gilt für Darstellungen in den Medien genauso wie für Veranstaltungen, die dem offiziellen Gedenken dienen, und in denen – etwa bei den jährlichen Bundestags-Gedenkveranstaltungen zum 27. JanuarGedenktage27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus (→ Kapitel 6.4) – regelmäßig erst der Auftritt von ZeitzeugenZeitzeuge mit ihrer auratischen Präsenz die gewünschte öffentliche Aufmerksamkeit schafft. „Niemand zeugt für den Zeugen“, heißt es in dem Gedicht „Aschenglorie“ von Paul CelanCelan, Paul (1920–1970). Demgegenüber betonte der Friedensnobelpreisträger Elie WieselWiesel, Eli, dass jeder, der einem Zeugen zuhört, selbst zum Zeugen wird (Doerry 2006). Auch die Politik betont die Notwendigkeit einer solchen Generation von Zeugen der Zeugen (siehe beispielhaft die Rede des BundestagspräsidentenLammert, Norbert bei der in der Web-Mediathek des BundestagesBundestag abrufbaren zentralen Gedenkveranstaltung zum 27. Januar 2015). Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von der sekundären oder stellvertretenden Zeugenschaft, bei der den Nachgeborenen die Rolle des Berichterstatters zufällt. Schon heute beglaubigen Kinder und Enkel mit ihren Erzählungen die authentischen Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern. Einen Schritt weiter gehen Fernsehformate, die in einer Vermischung von Fakten und Fiktionen Schauspieler in die Rolle von Zeitzeugen schlüpfen lassen, wobei sich – je populärer der Darsteller und bekannter die jeweilige Rollenfigur – das Image des Schauspielers und die Aura des Zeitzeugen nicht unproblematisch wechselseitig vermischen können (siehe Gries 2012).

Das Authentizitätsbedürfnis des Menschen lässt vermuten, dass die authentischen Stätten des Verbrechens zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen werden. Das zöge kulturpolitisch die Forderung nach personeller wie materieller Stärkung der Gedenkstätten nach sich. Volkhard KniggeKnigge, Volkhard sieht als Leiter der StiftungStiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora darin die Chance zu einer grundlegenden Neujustierung unseres Umgangs mit der NS-VergangenheitNationalsozialismus: weg vom Paradigma der Erinnerung als bloß appellative, moralisch aufgeladene Pathosformel, hin zu neuen Wegen historischen Lernens, kritischer Selbstvergewisserung und der Bildung eines selbstreflexiven GeschichtsbewusstseinsGeschichtsbewusstsein (Knigge 2010). Damit würde nicht zuletzt auch ein grundsätzlicher Bedeutungsgewinn der Geschichtswissenschaft einhergehen.

Weiterführende Literatur

Baer 2000: Ulrich Baer (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“ – ErinnerungskulturErinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah (Frankfurt a.M. 2000).