Geschichte im politischen Raum

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2.2 Dreiklang der geschichtswissenschaftlichen Gedächtnisforschung: Kollektives, kommunikatives und kulturelles GedächtnisGedächtniskulturelles



Seit den 1970er Jahren vollzog sich ein Richtungswechsel im Forschungsinteresse vieler Historiker. Ihr Augenmerk ruhte nicht mehr allein auf der Geschichte, wie sie sich vollzogen hat, sondern zugleich darauf, wie sie rezipiert und interpretiert wurde. Dadurch wurde ‚das GedächtnisGedächtnis‘ zum zentralen Gegenstand eines eigenen Forschungsschwerpunkts innerhalb der Geschichtswissenschaft. Diese Perspektivverschiebung führte zu einer Vielzahl von Theorien und Konzepten, die sich oft wechselseitig aufeinander beziehen. Mit stets neuen Begriffen bestellt die Wissenschaft ihr noch immer junges Forschungsfeld (siehe z.B. Frei 1996; König/Kohlstruck/Wöll 1998; Kohlstruck 2004; Reichel 1995; Wolfrum 1996). Der souveräne Umgang mit ihnen ist für den Historiker, der sich beruflich auf das weite Feld der ErinnerungskulturErinnerungskultur begibt, unabdingbar.



Infobox



Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, Vergangenheitspolitik



Die Reflexion über den Umgang mit der Vergangenheit hat eine eigene (Begriffs-)Geschichte, von der Edgar Wolfrum (2013, 37) sagt, sie sei die „reine Kakofonie“. Bis heute prägend ist der Ausdruck

Geschichtsbewusstsein

, den die Geschichtsdidaktik in den 1970er Jahren einführte und seitdem theoretisch füllte (siehe Jeismann 1988). Schnell fand dieser Begriff auch umgangssprachlich Gebrauch. Geschichtsbewusstsein als die individuelle „Vorstellung von und Einstellung zur Vergangenheit“ (Jeismann 1977, 12f.) verleiht Gegenwart und Zukunft Sinnhaftigkeit und schafft Orientierung. Geschichtsbewusstsein umfasst nach Hans-Jürgen Pandel mehrere Dimensionen, vor allem ein Zeitbewusstsein, d.h. die Erkenntnis und Deutung der miteinander verwobenen Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Außerdem baut es darauf, zwischen Realität und Fiktion unterscheiden sowie Kontinuität und Wandel erkennen zu können. Hinzu kommen gesellschaftlich-soziale Dimensionen des Geschichtsbewusstseins, die auf Identitäten, Machtstrukturen, soziale Ungleichheiten und Moralvorstellungen verweisen (Pandel 1993).



Während beim Geschichtsbewusstsein das Individuum und sein subjektiver Umgang mit der Zeiterfahrung in den Blick genommen werden, bezieht sich Geschichtskultur auf die „Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte umgeht“ (Pandel 2009, 86). Geschichtskultur, die vor allem Jörn Rüsen und Bernd Schönemann theoretisch ausdifferenziert haben, wirkt weit über die Geschichtsdidaktik hinaus, ist aber ein Begriff der Wissenschaft geblieben (siehe Rüsen 1994; Schönemann 2006). Deutlich ist die inhaltliche Nähe zur Erinnerungskultur, die sich begrifflich auch im vorwissenschaftlichen Raum, sogar alltagssprachlich durchgesetzt hat. Auch der jüngste Terminus Geschichtspolitik hat längst die Grenzen der Wissenschaft verlassen und wird jenseits des eingegrenzten historischen Theorie- und Forschungsansatzes allgemein für den öffentlichen Umgang mit Geschichte benutzt. Gelegentlich wird als Synonym von Vergangenheitspolitik gesprochen. Das ist insofern begrifflich ungenau, als der Historiker Norbert Frei diesen Begriff 1996 nur für den zeitlich und thematisch begrenzten rechtlichen und materiellen Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Frühphase der Bundesrepublik prägte (Frei 1996). Daran anknüpfend widmen sich inzwischen weitere Forschungen der Aufarbeitung von Diktatur und Gewalt in der Übergangsphase zur Demokratie in anderen Ländern (siehe Vergangenheitspolitik 2006; Oettler 2004).





„Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen“, postulierte im Jahr 2000 Reinhart KoselleckKoselleck, Reinhart (1923–2006). Er plädierte für ein Vetorecht persönlicher Erfahrungen gegenüber jeder Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv: „So wie es immer überindividuelle Bedingungen und Voraussetzungen der je eigenen Erfahrungen gibt, so gibt es auch soziale, mentale, religiöse, politische, konfessionelle Bedingungen – nationale natürlich – möglicher Erinnerungen“ (Koselleck 2000, 20). Koselleck fand dafür das anschauliche Bild von Schleusen, die die persönlichen Erfahrungen filtern, damit sich klar unterscheidbare Erinnerungen festsetzen können. Die moderne Gedächtnisforschung fasst die Vergangenheit als eine kulturelle Schöpfung auf, die erst dadurch entsteht, dass man sich auf sie bezieht. Bereits 1925 betonte der Soziologe Maurice HalbwachsHalbwachs, Maurice (1877–1945) die sozialen Bezugsrahmen, ohne die sich kein individuelles GedächtnisGedächtnis konstituieren und erhalten könne (Halbwachs 1985; ders. 1985a; siehe Welzer 2001). Die Individuen erinnern sich demnach zwar an ihre eigene Geschichte, das Erinnern unterliegt aber gesellschaftlichen Wahrnehmungsrahmen (

cadres sociaux

), die Menschen der gleichen Gruppe teilen. Erinnerung entsteht nach Halbwachs durch Kommunikation und bezieht nicht nur die selbst gemachten, sondern auch die von anderen mitgeteilten Erfahrungen ein. So besteht zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis eine enge Bindung. Letzteres definiert Halbwachs als den Gesamtbestand von Erinnerungen, die eine Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren könne.





Jan und Aleida AssmannAssmann, Jan entwickelten darauf aufbauend eine für zahlreiche nachfolgende Forschungsarbeiten instruktive Theorie des kollektiven GedächtnissesGedächtniskollektives (Assmann 1992; Assmann 1999). Darin kontrastieren die Begriffe

Kommunikatives

 und

Kulturelles


Gedächtnis

Gedächtnis zwei wesentlich voneinander zu unterscheidende Erinnerungsformen. Das „kommunikative GedächtnisGedächtniskommunikatives“ zielt auf einen Erinnerungsraum aus persönlich erlebter Vergangenheit und aus Kenntnissen, die durch Kommunikation mit Zeitgenossen angeeignet werden. Das kulturelle GedächtnisGedächtniskulturelles richte sich dagegen auf Fixpunkte bzw. schicksalhafte Ereignisse in einer absoluten Vergangenheit. Diese Erinnerung, die vorrangig im Fokus dieses Lehrbuches steht, sei gestiftet und geformt, ihre Pflege obliege Spezialisten. Das kollektive Gedächtnis rekonstruiere aber nicht nur die Vergangenheit, sondern es organisiere auch die Erfahrung von Gegenwart und Zukunft, sei also Teil der Sinnstiftung einer Gesellschaft.





Neben dem sozial-konstruktivistischen Ansatz von HalbwachsHalbwachs, Maurice regten die Forschungen des französischen Historikers Pierre NoraNora, Pierre über die „lieux de memoire“ (dt.: ErinnerungsorteErinnerungsorte) die Auseinandersetzung mit der erinnerten Vergangenheit an (Nora 1990). An die Stelle eines ‚lebendigen‘ Gedächtnisses sieht Nora ‚Erinnerungsorte‘ treten, die sich als kulturelle Kristallisationspunkte historischer Erfahrung im kollektiven GedächtnisGedächtniskollektives ablagern und auf das historische Selbstverständnis einer Gesellschaft verweisen. Auch Nora interessierte sich in seinen Forschungen also nicht mehr für die Vergangenheit als solche, sondern für die kulturell überformte

Gegenwart

 der Vergangenheit, die – in seinen Worten – Geschichte zweiten Grades. Von Frankreich aus trat das Konzept seinen Siegeszug durch ganz EuropaEuropa an, es folgten vergleichbare Mammutprojekte zu Erinnerungsorten in Italien (1996–1997), Österreich (2004–2005), den Niederlanden (2006/2007), Luxemburg (2007), Russland (2007) und auch in Deutschland (François/Schulze 2001). Es gibt aber auch Kritik. Etienne FrançoisFrançois, Etienne, der selbst zu Erinnerungsorten geforscht hat, verweist neben der begrifflichen Verschwommenheit, die zu missverständlicher und missbräuchlicher Verwendung verleite, vor allem auf den Primat des

nationalen

 Rahmens. Der ließe andere mögliche Perspektiven bei der Konstruktion von Gedächtniskulturen, z. B. lokale und regionale, unberücksichtigt (François 2009). Dafür hat sich die Wissenschaft bei der Erforschung von Gedächtniskulturen mit dem aufwändigen Projekt deutsch-polnischer Erinnerungsorte inzwischen transnationalen Ansätzen gegenüber geöffnet (Hahn/Traba 2011).





Auch einen anderen Kritikpunkt unterschlägt François nicht: So würde die Perspektive der ErinnerungsorteErinnerungsorte-Forschung stark von institutionellen, politischen und kulturellen Akteuren dominiert. Die nicht-politischen, sozialen, emotionalen, ‚erlebten‘ Dimensionen des Gedächtnisses blieben hingegen unterbelichtet. Davon unbenommen betont FrançoisFrançois, Etienne die grundsätzliche Bedeutung der jüngeren Forschungsdisziplin: Das Bemühen um die Historisierung des Gedächtnisses habe nämlich dazu beigetragen, den Gegensatz zwischen GedächtnisGedächtnis und Geschichtswissenschaft zu überwinden. Historiker würden heute im Gedächtnis „eine grundlegende historische Wirklichkeit , in die sie eingebettet sind und an der sie in gleichem Maße als Akteur wie als Beobachter teilnehmen“ (François 2009, 36) – oder in den Worten des Historikers Harald SchmidSchmid, Harald (2009a, 10): Der „Gegensatz zwischen dem auf Identitätsbildung zielenden, emotionalisierend-konfliktträchtigen Gedächtnis und der auf Erkenntnis zielenden, objektivierend-kritischen Geschichtswissenschaft durch eine Historisierung des ersteren in professionelle und fruchtbare Bahnen gelenkt.“



Weiterführende Literatur



Assmann 1999: Aleida AssmannAssmann, Aleida, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen GedächtnissesGedächtniskulturelles (München 1999).



Assmann 1992: Jan AssmannAssmann, Jan, Das kulturelle GedächtnisGedächtniskulturelles: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München 1992).



NoraNora, Pierre 1990: Pierre Nora, Zwischen Geschichte und GedächtnisGedächtnis (Berlin 1990).

 



François/Schulze 2001: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche ErinnerungsorteErinnerungsorte, 3 Bde. (München 2001).





2.3 Zur Relevanz politischer MythenMythos, politischer



Man könnte annehmen, die aufgeklärte Moderne mit ihrer „Entzauberung“ (Max WeberWeber, Max) schaffe eine mythenlose, weil rationale Welt. Doch stimmt das? Führt der menschliche Fortschritt geradewegs vom Irrationalen zum Rationalen, vom Erzählen zum Erklären, von der Weltdeutung zur Erkenntnis, kurz: vom Mythos zum Logos (Nestle 1940)? Man muss nicht nur die bunte Mythenwelt der Populärkultur aufrufen, deren Figuren Bestseller und Blockbuster bevölkern, um daran Zweifel zu hegen. Für Odo MarquardMarquard, Odo (1979, 41) ist die Entmythologisierung ohnehin selbst ein Mythos, „und daß so der Tod des Mythos selber zum Mythos wird, beweist ein wenig des Mythos relative Unsterblichkeit. Es ist zumindest ein Indiz dafür, daß wir ohne Mythen nicht auskommen.“ Wer sich in den politischen Raum begibt, wird unweigerlich mit Mythenerzählungen konfrontiert. Sie nach ihren Mechanismen und Funktionen hinterfragen zu können, ist eine wichtige Methodenkompetenz, die den Historiker auszeichnet – sei es, um sie bloßzustellen oder aber an ihrer Generierung teilzuhaben.





Dem Mythos begegnet man heute alltäglich und überall, schnell wird etwas zum Mythos erklärt, um es positiv hervorzuheben, oder im Gegenteil: um es als falsch und überholt zu brandmarken. Doch was ist ein Mythos? Es scheint einfacher, geläufige Mythen zu benennen, als den Mythos terminologisch zu fassen. Als Begriff ist er unpräzise, eher eine „Verhüllungsvokabel“ (Hacke/Münkler 2009a, 15). Alle Definitionsansätze bewegen sich in einem Geflecht komplementärer Begriffe, mit denen er in Verbindung steht bzw. gegenüber denen der Mythos abzugrenzen ist: der Ideologie und Utopie, der Legende, der Fiktion und Lüge – ein großes Thema der Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart (siehe Blumenberg 1979; Bohrer 1983). Im Folgenden soll es um dezidiert

politische

 MythenMythos, politischer gehen (siehe Dörner 1996; eine Definition ebd. 76f.).





Politische Mythen können sich an historische oder sagenhafte Ereignisse und Dinge binden (die NibelungenNibelungensage, die BefreiungskriegeBefreiungskriege etc.), an Orte und Landschaften (den ‚deutschen‘ Rhein, den ‚deutschen‘ Wald) und Zeiten (das ‚deutsche‘ MittelalterMittelalter), aber genauso an Personen (von ArminiusArminius/Hermann der Cherusker über LutherLuther, Martin, Friedrich den GroßenFriedrich II., preuß. König, Königin LuiseKönigin Luise bis zu BismarckBismarck, Otto v. und AdenauerAdenauer, Konrad). Und sie müssen keineswegs ausschließlich auf die Vergangenheit gerichtet sein. Neben gegenwartsfundierende Geschichts- und Gründungsmythen treten in die ZukunftZukunft gerichtete Erzählungen, die die Gegenwart gerade in Frage stellen. Bei ihnen übernimmt die Erwartung die Funktion historischer Erinnerung. Prominentes Beispiel dafür ist der Revolutionsmythos (siehe Speth 2000).





Mythen sind Narrative, betont Herfried MünklerMünkler, Herfried (2008): Sie werden immer wieder neu erzählt: literarisch, wissenschaftlich, politisch. Sie finden in Bildern ihre ikonische Verdichtung und werden rituell öffentlich inszeniert. Aber Mythen sind mehr als bloß Erzählungen, „sie stiften politische Bedeutung, strukturieren die Vergangenheit und haben Einfluss auf die Gegenwart.“ Als wesentliche Bestandteile des kulturellen GedächtnissesGedächtniskulturelles generieren Mythen Gruppenidentitäten, indem sie Selbstbilder schaffen und Fremdvorstellung formen. Sie konzentrieren Loyalitäten und wirken komplexitätsreduzierend, während sie gleichzeitig als Projektionsfläche für ZukunftserwartungenZukunft fungieren (siehe Berding 1996; Bizeul 2000; Speth 2000). Als Ursprungserzählung dienen sie der Sinnbedürftigkeit des Menschen: So wie es ist, ist es nicht zufällig, es hat vielmehr seinen Sinn. Mythen schaffen damit Vertrauen, sie stiften Zuversicht und haben mobilisierende Kraft – bis hin zur Opferbereitschaft. Während sie Münkler zufolge in ruhigen Phasen bloß die Funktion eines „Erinnerungsreservoirs“ haben, stellen sie in Zeiten großer politischer Herausforderungen „Krisenbewältigungsressourcen“, auf die die Politik nicht verzichten könne. Münkler (2007, 171) betont vor allem das Motivationsvermögen mythischer Narrationen: „Die politische Kraft zu folgenreichen Entscheidungen und Entschlüssen, deren Umsetzung einen langen Atem erfordert, erwächst vor allem aus Erzählungen und Verheißungen und weniger aus einem sorgsamen Delibrieren des Für und Wider.“ Zu einfach sei es deshalb, Mythen nur als Ausdruck von Irrationalität zu begreifen. „Eher handelt es sich dabei um große Erzählungen, die nicht nur das kollektive GedächtnisGedächtniskollektives einer politischen Gemeinschaft speisen, sondern auch ihren Erwartungshorizont abstecken und so für die Orientierung und Perspektive sorgen“ (ebd. 172).



Exkurs: Nationalmythen der Deutschen



Nationen produzieren Mythen, sie bedürfen geradezu eines Gründungsmythos als gemeinschaftsstiftendes „emotionales Fundament“ (François/Schulze 1998; kritisch dazu Fischer u.a. 2015). „Es macht das Wesen eines Nationalmythos aus, dass es nicht bloß eine Erzählung von fernen geschichtlichen Ereignissen oder ein bedeutender literarischer Text ist, sondern zur Metanarration der politischen Weltwahrnehmung wird. Politische Mythen stellen eine Grammatik für die Versprachlichung des Politischen dar“ (Münkler 2007, 166). Auch die Deutschen verfügen über ein Arsenal an Geschichtsmythen, die vor allem im national gesinnten 19. Jahrhundert geprägt wurden und mit deren – teils fataler – früherer Wirkung der Historiker, der sich heute in den politischen Raum begibt, vertraut sein sollte (siehe Wülfing/Bruns/Parr 1991; Flacke 1998; Münkler 2009):



Aus den Untiefen deutscher Mythenerzählungen ragt das Epos von Siegfried und dem Schatz der NibelungenNibelungensage heraus. Dem 19. Jahrhundert bot es reichen Stoff zur Heldenerzählung (siehe Heinzle 2013; Oberste 2008). Die Bedeutung der Nibelungensage als Steinbruch deutscher Mythenerzählung belegen zwei geschichtspolitisch verhängnisvolle Bilder: die Nibelungentreue und der Dolchstoß. Das Leitmotiv der Sage – die unerschütterliche Treue bis in den Untergang – begleitete Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn. Reichskanzler Fürst von BülowBülow, Bernhard v. benutzte die Wendung erstmals 1909 in einer Reichstagsrede, später zählte sie zum Arsenal der Propaganda im Ersten WeltkriegErster Weltkrieg, als die Mittelmächte „in Nibelungentreue fest vereint“ dem Bündnis aus Großbritannien, Frankreich und Russland gegenüberstanden. Im NationalsozialismusNationalsozialismus erhielt das Treue-Motiv eine Umwidmung, nun meinte es die bedingungslose Gefolgschaft der Deutschen zu HitlerHitler, Adolf. Nicht minder nachhaltig hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Legende vom DolchstoßDolchstoß gewirkt, die an die hinterhältige Ermordung Siegfrieds anknüpfte und statt der Treue den Verrat ins Zentrum rückte: So wie der Held der Sage durch einen Speerstich in den Rücken starb, sei 1918 das unbesiegt im Feld stehende Heer durch das Versagen an der Heimatfront quasi von hinten zur Strecke gebracht worden – eine Entlastungslüge der Militärs, um die Schuld an der Niederlage auf die zivilen Kräfte abzuwälzen. Den Aufbau einer demokratischen Nachkriegsordnung in der Weimarer RepublikWeimarer Republik untergrub die Dolchstoßlegende nachhaltig.



Von besonderer Wirkmacht für den deutschen Nationalismus waren die Mythen um den Germanen ArminiusArminius/Hermann der Cherusker (= Hermann der CheruskerArminius/Hermann der Cherusker), der 9 n. Chr. im Teutoburger Wald die Römer unter ihrem Feldherrn Varus besiegt hatte (siehe Dörner 1996), und um Kaiser BarbarossaFriedrich I., Kaiser (Barbarossa) (siehe Berg 1994; Kaul 2007). Als Sehnsuchtsmotiv wurde das national gedeutete mittelalterliche Kaisertum der Nationalbewegung in einem zersplitterten Deutschland zum Sinnbild von Einheit und Größe verklärt. Dieser maßgeblich an Kategorien der Macht orientierte Reichsmythos fand sein eingängiges Bild im schlafenden Kaiser Barbarossa, der im KyffhäuserDenkmalKyffhäuser auf den Moment neuer deutscher Größe wartet (Abb. 1). Als mit der kleindeutschen Reichseinigung 1871 der deutsche Partikularismus überwunden schien, feierte die Legende von der Auferstehung des schlafenden ‚Rotbarts‘ mehr als nur eine Renaissance. In Kaiser Wilhelm I.Wilhelm I., Kaiser, der die deutsche Sehnsucht nach Einheit endlich erfüllt hatte, und seinem rauschenden weißen Bart fand sie eine erzählerische Äquivalenz: Dem Barbarossa trat der Barbablanca zur Seite. Das Nachwirken des überzeichneten Bildes von imperialer, missionarischer Größe des mittelalterlichen KaiserreichsKaiserreich zeigte sich noch Jahrzehnte später im Decknamen „Unternehmen Barbarossa“, den HitlerHitler, Adolf 1941 dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gab.



Immer wieder sind es gerade Schlachten und Kriege, die der mythenbeladenen Identitätsbildung dienen: die wundersame Wendung von PreußensPreußen aussichtsloser Lage im Siebenjährigen KriegSiebenjähriger Krieg (1756–1763), der Mythos der „BefreiungskriegeBefreiungskriege“ gegen NapoleonNapoleon, Bonaparte (siehe Carl 2000), der sich im VölkerschlachtdenkmalDenkmalVölkerschlacht von Leipzig (→ Kapitel 6.7) materialisiert hat, der Kult um den Sieg gegen Frankreich 1871. Gerade letzterer zeigt, dass politische MythenMythos, politischer nicht unsterblich sind, denn der Sedan-Mythos ist heute völlig aus dem Erinnerungshorizont der Deutschen verschwunden.








Abb. 1:

 Deutscher Reichsmythos: Kaiser Rot- und Weißbart am Kyffhäuser-DenkmalDenkmal



Einer der wirkmächtigsten deutschen Mythen kommt völlig unmilitärisch daher: Der Mythos Deutschlands als

Kulturnation

Kulturnation. Er knüpft sich an Orte (vor allem Weimar und Königsberg), an Epochen (Aufklärung, deutsche Klassik etc.) und Persönlichkeiten aus Literatur (von LessingLessing, Gotthold Ephraim über GoetheGoethe, Johann Wolfgang v. und SchillerSchiller, Friedrich v. bis Thomas MannMann, Thomas und Bertolt BrechtBrecht, Bertolt), Philosophie (von KantKant, Imanuel über NietzscheNietzsche, Friedrich bis HeideggerHeidegger, Martin), Musik (von Bach und HändelBach, Johann Sebastian über Beethoven bis WagnerBeethoven, Ludwig van) und Kunst (von den alten Meistern über die Romantiker bis zu den Malern der Moderne). Gerade in Zeiten staatlicher Schwäche, ob im partikular zersplitterten 19. Jahrhundert oder in der geteilten Nation nach 1945, blieb es das einigende Band, auf das sich die Deutschen über alle realen und ideologischen Grenzen hinweg beziehen konnten. Dass die Stilisierung der Deutschen als Kulturnation in Kriegszeiten auch zum Instrument kulturchauvinistischer Propaganda taugt, zeigte sich im Ersten WeltkriegErster Weltkrieg, als deutsche Intellektuelle den Krieg gegen Frankreich zum Kampf zwischen deutscher Kultur und ‚welscher‘ (= romanischer, v.a. französischer) Zivilisation erklärten.





Mythen kennen Konjunkturen, das heißt auf Latenzphasen folgen Perioden, in denen die Narrationen wieder aktiviert werden, um Gegenwartserfahrungen zu verarbeiten. Und sie können sich aufeinander beziehen, sich gegenseitig verstärken. Im nationalen Diskurs der Deutschen verbanden sich etwa der Mythos um den Römerbezwinger ArminiusArminius/Hermann der Cherusker mit den herausragenden Mythenfiguren aus der frühen Neuzeit, dem „deutschen LutherLuther, Martin“, der mit der Reformation den Kampf gegen den römischen Katholizismus aufnahm (siehe Lehmann 2000), sowie Friedrich dem GroßenFriedrich II., preuß. König, dessen protestantisches PreußenPreußen dem katholischen Habsburg die Stirn bot und sich gegen eine Welt von Feinden durchsetzte. Im 19. Jahrhundert wurde daraus eine immens wirkungsvolle nationale Großerzählung des Kampfes gegen ausländische Bevormundung konstruiert, die als einigendes Band die Vorstellung einer spezifisch „teutschen Freiheit“ transportierte. In BismarckBismarck, Otto v. fand sie ihren Abschluss als ‚Reichseiniger‘, der im Ringen „deutscher Kultur“ gegen „welsche (d.h. romanische) Zivilisation“ den modernen Nationalstaat durch Blut und Eisen „schmiedete“ – eine wirkmächtige Mythoserzählung, die zur bedingungslosen Opferbereitschaft noch in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts anstiftete (siehe Gerwarth 2007).





Und heute? Die eingangs erwähnte Präsenz konstruierter moderner Konsum-, Marken- und Lebensstilmythen steht in einem auffallenden Kontrast zur Verdrängung nationaler Mythen aus der staatlich-politischen Sphäre. Während in der DDRDDR der AntifaschismusAntifaschismus zu einem staatstragenden Gründungsmythos aufstieg, tat sich die Bundesrepublik schwer mit einer auf Mythen basierenden Staatsrepräsentation. Vom übersteigerten Nationalismus und der NS-Diktatur desavouiert und im staatlichen Provisorium der geteilten Nation ihres nationalstaatlichen Bezugsrahmens beraubt, blieben die überkommenen nationalen Großerzählungen auf der Strecke (siehe Hacke/Münkler 2009; Cammann/Hacke/Schlak 2005). Aus der mythenarmen bundesdeutschen Geschichtserzählung ragt insbesondere ein positiver Gründungsmythos heraus: das WirtschaftswunderWirtschaftswunder (siehe Gries 2005; Münkler 2004). Seine Erzählung zielt politisch auf die im Wirtschaftsaufschwung gewonnene demokratische Stabilität. Er bot der noch jungen Demokratie Orientierung – zusätzlich verstärkt durch die Komplementärgeschichte des Scheiterns der Weimarer RepublikWeimarer Republik in Inflation und Wirtschaftskrise. Das Wirtschaftswunder als Gründungsmythos der Bundesrepublik fand seine ikonische Verdichtung in der DM, in den Bildern sich füllender Schaufenster – eine Ursprungserzählung, die sich vom Konzept der Sozialen Marktwirtschaft bis in die Werbung großer Unternehmen hinein bis heute wiederholt. Im Bild „blühender Landschaften“, das Helmut KohlKohl, Helmut nach 1990 für die neuen Bundesländer bemühte, wurde die Wirtschaftswunder-Narration auch für das wiedervereinigte Deutschland anschlussfähig und um ein neues Kapitel erweitert. Die Erzählung vom rasanten Aufschwung zum Exportweltmeister hat ihre Stärke dabei weniger im Politischen. Kein DenkmalDenkmal transportiert sie, und kein Staatsakt muss ihrer gedenken. Das Wirtschaftswunder ist genuin und auch in der Erinnerung vieler eine Geschichte des Konsums – und damit auch die Geschichte seiner Marken. Vom „Wir sind wieder da“ der Markenprodukte bis zum „Wir sind wieder wer“ im Behelfsmythos „Wunder von Bern“ (dem Gewinn des Fußball-WM-Titels 1954) tradiert sich die bundesrepublikanische Ursprungserzählung aus den Wirtschaftswundertagen wirkungsvoll in den Markenmythen der Populärkultur. Denn auch die Werbung ist längst ein Erinnerungsträger, sie bedient eine Erinnerung „en passant“ (Welzer 2001, 12).

 





Und welches mythische Potential entfalten die historischen Ereignisse von 1989/90? Die Erzählung von einer nach Freiheit strebenden Bürgerbewegung, die Mauern niederzureißen vermochte, hat in der dichten Folge von immer stärker inszenierten Gedenkveranstaltungen bereits Kontur gewonnen. Sie gründet aber nur in der Erfahrung eines (zudem bedeutend kleineren) Teils der Bevölkerung – so wie der Achtundsechziger-Mythos, der die Protestbewegung zum eigentlichen Begründer der liberalen Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik stilisiert, ein rein westdeutsches Phänomen ist. Die mythische Überhöhung einer einzelnen Person, die historisch im BismarckBismarck, Otto v.-Mythos begegnet, blieb bislang aus – wohl auch, weil der zum „Kanzler der Einheit“ erkorene Helmut KohlKohl, Helmut durch eine Parteispendenaffäre sein Bild wenn auch vielleicht nicht endgültig so doch nachhaltig demontiert hat. Außerdem erweist sich das Personaltableau der deutschen Einheit von Willy BrandtBrandt, Willy bis Michail GorbatschowGorbatschow, Michail als durchaus heterogen und die Wiedervereinigung vollzog sich in enger Verbindung zum parallel laufenden europäischen EinigungsprozessEuropa, der über die Nation hinausweist.





Prägend für die ErinnerungskulturErinnerungskultur in Deutschland ist vor diesem Hintergrund also weniger ein unhinterfragbarer Mythos – jedenfalls dann, wenn die negative Ursprungserzählung der deutschen Demokratie aus der Erfahrung des HolocaustsHolocaust/Shoah nicht als ein solcher bezeichnet werden soll. Vielmehr ist es die lebendige und kontroverse Erinnerungspolitik, die in der AufarbeitungVergangenheitsbewältigung einer doppelten Diktaturerfahrung gründet (→ Kapitel 6.1). Der Grund für die Schwäche politischer MythenMythos, politischerbildung liegt aber nicht alleine in der nachhaltigen ‚Kontaminierung‘ deutscher Geschichte durch die NS-Vergangenheit und der jahrzehntewährenden deutschen Teilung. Sie ist auch der veränderten Medialität mythischer Erzählungen geschuldet: der Dominanz neuer Mythenproduzenten wie Film und Fernsehen, die die alten mythischen Ausdrucksformen, vom Buch über das DenkmalDenkmal bis zum Fest, herausfordern. Da jedenfalls, wo der Versuch zur offiziellen Inszenierung eines positiv konnotierten Staatsmyt