Der Tanz des Kranichs

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1.2. Tai Chi als Kampfkunst

Ich möchte an dieser Stelle einige Überlegungen über die Kampfkunst einflechten, nicht zuletzt natürlich auch deswegen, weil Tai Chi von Anfang an eine Kampfkunst war, bei der es um mehr als die reine Kunst des Kämpfens ging. Bereits Chang San-feng soll gesagt haben: »Ich wünschte, die Menschen würden sich in der Kunst der Verlängerung des Lebens üben und nicht so sehr auf die groben und oberflächlichen Kampftechniken bedacht sein.« – Ich denke, dass es nicht zu weit hergeholt ist, diese Aussage als einen Aufruf zu Gewaltlosigkeit aufzufassen, denn es geht um nichts weniger als den Wert des menschlichen Lebens, der hier hervorgehoben wird. Und der beste Schutz des menschlichen Lebens besteht darin, sich einen gesunden Körper und einen gesunden Geist zu bewahren und Gewalt zu vermeiden. Für beides ist die ausdauernde Praxis des Tai Chi eine ausgezeichnete Voraussetzung.

Mahatma Gandhi (1869-1948) wurde von seinen Getreuen, nachdem viele Inder beim Widerstand gegen die britischen Kolonialherren schwer verletzt worden waren, gefragt: »Warum wehren wir uns nicht?« – »Ein Auge für ein Auge – dann wird bald die ganze Welt blind sein«, war Gandhis Antwort. In seinen Schriften findet sich zudem die interessante Aussage: »Gewaltlosigkeit bedeutet keineswegs Ablehnung jeglicher Konfrontation mit dem Bösen. Sie ist meiner Auffassung nach, im Gegenteil, eine Form eines sehr aktiven Kampfes – echter als der gewalttätige Gegenschlag, dessen Wesen im Grunde die Vermehrung der Boshaftigkeit ist.«2

Der Begriff »Kunst« bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist. In der Antike wurden als freie Künste (artes liberales) jene Kenntnisse und Fähigkeiten bezeichnet, die einem freien Mann, nicht aber einem Sklaven zur Verfügung standen. Heute verstehen wir als Kunst im engeren Sinne kreative menschliche Tätigkeit, die nicht eindeutig auf funktionale Zweckmäßigkeit abzielt. Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines schöpferischen Prozesses. Wer systematisch eine Kunst ausübt, wird als Künstler bezeichnet.

Die Kampfkunst wird auf Lateinisch als »ars martialis« bezeichnet, die Kunst des römischen Kriegsgottes Mars. Das verweist darauf, dass Kampfkünste in der Vergangenheit vorrangig für die Vorbereitung auf den Krieg geübt wurden. Vor allem im Fernen Osten entwickelten sich die Kampfkünste jedoch auf eine Weise weiter, dass in zunehmendem Maße Aspekte wie Philosophie, Religion und auch Heilkunde darin einflossen und mitunter sogar ein größeres Gewicht gewannen als die eigentlichen Kampftechniken, die oft nur noch als Mittel zum Zweck angesehen wurden. Wobei der Zweck zum Beispiel darin bestand, dem Menschen zu helfen, seinen Charakter zu entwickeln, sich von den Fesseln seines Egos zu befreien, sich selbst zu ergründen, um das eigene Wesen besser kennenlernen zu können und so einen Sinn im Leben zu finden.

Dr. Jwing Ming Yang, ein zeitgenössischer Meister des Weißen-Kranich-Stils und Tai-Chi-Experte (Yang-Stil), schrieb in diesem Zusammenhang, dass sein Meister Gin Gsao Cheng ihm erklärt habe, dass das Ziel eines jeden Kampfkünstlers nicht das Kämpfen sei. Es gehe nicht darum, in der Lage zu sein, seinen Gegner zu überwältigen. Das eigentliche Ziel beim Erlernen einer Kampfkunst bestehe darin, den Sinn des Lebens zu entdecken. So wird aus der Kampfkunst ein Lebensweg. – Letzten Endes geht es nicht einmal darum, ob man eine Kampfkunst oder eine andere Kunst praktiziert. Auch jemand, der beispielsweise Klavier spielen lernt, wird dabei viel über sich selbst erfahren, und er wird lernen, sich zu disziplinieren und all seine Energie auf ein bestimmtes Ziel auszurichten.

Es geht in jedem Fall um das stete Bemühen, sich zu verbessern, zu vervollkommnen. Die Weisheit, die wir auf diesem Weg erlangen, ermöglicht es, unsere Gefühle zu verstehen und zu beherrschen und generell zu einem höheren, spirituellen Verständnis für unsere eigentlichen Ziele im Leben zu gelangen. Um solch ein Verständnis zu erreichen, bedürfen wir jedoch eines großen »Feindes«, den wir bezwingen müssen. Und dieser große Feind sind wir selbst, genauer gesagt, unser Ego, das unserer freien Entfaltung stets im Wege steht. Und der einzige Weg, diesen ultimativen Feind zu besiegen, besteht in Selbstdisziplin und echtem Verständnis für das Leben.

Es ist ein interessantes Phänomen, dass so viele Kampfkünste in buddhistischen oder daoistischen Klöstern entwickelt wurden. Die Mönche, die sich solch todbringende Fähigkeiten mit viel Mühe und Ausdauer aneigneten, hatten zwei Beweggründe hierfür: Zum einen ging es um die Fähigkeit, sich gegen die in der Vergangenheit geradezu allgegenwärtigen Banditen zur Wehr setzen zu können, zum anderen gestattete das harte Training es ihnen, einen hohen Grad an Weisheit zu erreichen, die es ihnen ermöglichte, Herr über ihre Emotionen zu werden.

It’s not because I’m old And it’s not what dying does I’ve always liked it slow Slow is in my blood

Leonard Cohen

1.3. Vom Sinn der Langsamkeit

Unsere heutige Welt ähnelt Olympischen Spielen. Schneller, höher und weiter – das scheint das Motto unserer Zeit zu sein. Wer nicht mitkommt, bleibt irgendwann auf der Strecke. Wir folgen nicht mehr den Rhythmen und Zyklen der Natur, aus der wir doch kommen, und verlieren so unsere Verbindung zu unseren Ursprüngen. Wer jedoch ein gesundes, aufrichtiges und erfülltes Leben führen will, der sollte den Rhythmus der Natur studieren und seinen eigenen daran anpassen.

So wird es schon im über zweitausend Jahre alten Huangdi neijing, dem »Buch des Gelben Kaisers zur inneren Medizin« dargestellt, das ein ganzheitliches Dasein des Menschen im Einklang mit der Natur propagiert und noch heute als ein Grundlagenwerk für die chinesische Medizin gilt.

Betrachten wir die Natur und ihre Zyklen, so sehen wir, wie langsam manche Veränderungen vor sich gehen. Im Frühling können wir beobachten, wie ein Samenkorn langsam Wurzeln schlägt und sich so mit »Mutter Erde« verbindet. Und ohne »Vater Himmel« und seinen Regen könnte das Samenkorn nicht wachsen und gedeihen. Und bis aus dem Samen zum Beispiel ein Busch wird, muss einiges an Zeit vergehen. Der Sommer mit seiner Wärme wird den Busch erstarken lassen, im Spätsommer ist sein Wachstum abgeschlossen. Im Herbst ist es Zeit, loszulassen; der Busch verliert seine Blätter und seine Früchte. Es beginnt die Phase der Neuorganisation. Ein Kapitel wird abgeschlossen, bevor ein neues beginnen kann. Die Winterzeit dient der Erholung, der Ruhe, dem Sammeln von Kräften für den nächsten Zyklus.

Es ist heute bekannt, dass es die Qualität von Pflanzen, die als Lebensmittel verwendet werden, mindert, wenn ihr Wachstum mit Kunstdünger und künstlichem Licht beschleunigt wird. Ähnlich unnatürlich ist unser Leben in der immer schneller werdenden »Tretmühle« der modernen Gesellschaft. Wir müssen uns mit immer mehr »Düngemittel« stimulieren, damit wir noch Schritt halten können. Der Preis dafür, dass wir auf diese Weise gegen die Natur handeln, besteht darin, dass unsere Lebenskraft vor der Zeit verbraucht wird und wir schneller altern und anfällig für Krankheiten werden.

Die langsame Ausführung der Techniken im Tai Chi hilft uns, unser Tempo zurückzunehmen, zum Rhythmus der Natur zurückzufinden und auf diese Weise ein gesünderes Leben zu führen.

Tai Chi entspricht den Rhythmen und Zyklen der Natur. Langsam entwickeln sich seine Wirkungen im ganzen Körper, und wir können mit großer Aufmerksamkeit das, was wir tun, wahrnehmen und empfinden. Letzten Endes bedeutet Wahrnehmung nichts anderes als Fühlen, und Tai Chi lehrt uns, uns dessen bewusst zu werden.

Führt man Tai Chi aus, so sollte dies auf vollendete Weise geschehen; Fehler sollten vermieden werden. Die Form sollte glatt sein, ohne Unregelmäßigkeit, und sie sollte kontinuierlich, ohne Unterbrechungen geübt werden.

Chang San-feng

2. Die Kranichform des Tai Chi

2.1. Die Herkunft des Kranichstils

Eine der Quellen der Kranichform des Tai Chi ist die südchinesische Kampfkunst »Weißer Kranich von Fujian«. Mein Lehrer Roland Habersetzer schrieb über diesen Wushu-Stil in seinem Buch über das chinesisch-okinawanische Bubishi:

Die Ahnenfolge der Meister dieses Kampfstils beginnt mit einem Mönch des Shaolinklosters mit Namen Fang Shiyu (oder Fang Houshou), der ein Experte des »Boxens der 18 Punkte« war. Nach der Zerstörung des Klosters von Honan im Jahre 1644 und der darauf folgenden Emigration der überlebenden Mönche fand Fang Shiyu Unterschlupf in einem Kloster in der südchinesischen Provinz Fujian. Dieses Kloster übernahm die Bezeichnung Shaolin. In ganz China gab es solche Ableger des ursprünglichen Shaolinklosters. Hier lebten und wirkten die Erben der Kampftechniken, die seit Bodhidharma entwickelt worden waren, und hier lebte der Widerstand gegen die verhaßte Herrschaft der neuen Mandschu-Dynastie. In einem Nachbardorf des Klosters Yongchun (auf japanisch Eishun), in dem Fang Shiyu Zuflucht gefunden hatte, wuchs die Tochter des Mönches auf, ein Mädchen namens Fang Jin Jang. Er lehrte sie seine Kampftechnik. Aber erst nach dem Tode ihres Vaters schuf Fang Jin Jang die Grundlagen jenes Kampfstils, der als »Weißer Kranich von Fujian« bekannt wurde.

 

Die Archive der von ihr begründeten Schule berichten, dass Fang Jin Jang eines Tages die Gelegenheit hatte, durch eine Bambushecke hindurch den Kampf zweier Kraniche zu beobachten. Ihr fielen die Präzision der Hiebe, der Ausweichmanöver und des Flügeleinsatzes auf. Plötzlich verspürte sie den Wunsch, die beiden Vögel voneinander zu trennen. Sie nahm einen langen Bambusstock, um sie zu erschrecken. Aber zu ihrer größten Überraschung wich der Vogel, den sie zu treffen versuchte, jedes Mal, wenn sie glaubte, ihn im nächsten Moment mit dem Stock zu berühren, mit einer schnellen und präzisen Bewegung aus und entkam mühelos ihrem Angriff. Er schwang sich schließlich auf, ohne dass sie ihn erreichen konnte. Der Vogel erwies sich als unberührbar! Dies war für die junge Frau eine wahre Offenbarung, und sie begriff auf diese Weise unmittelbar das Prinzip des Weichen und des Harten. Unverzüglich machte sie sich daran, eine Synthese aus den Lehren ihres Vaters und dem von ihr beobachteten Verhalten der Kraniche zu schaffen. Das Ergebnis war ein neuer Kampfstil, der sich schnell einen bedeutenden Ruf in der gesamten Provinz erwarb, wo er unter dem Namen Yongchun Hequan bekannt wurde. Die Tradition der Schule berichtet weiterhin, dass Fang Jin Jang die eigentliche Technik um bestimmte Atemtechniken und moralische Grundsätze erweiterte, um jedem Praktizierenden zu innerer Ausgeglichenheit und zur Harmonie mit den Kräften der Natur zu verhelfen.3


2.2. Die Botschaft des Kranichs

Werden Kraniche in Tierparks gehalten, so werden ihnen die Flügel gestutzt. Auf diese Weise können sie nur noch laufen und ein wenig flattern, sich aber nicht mehr frei in die Lüfte aufschwingen. Das heißt, ihr eigentliches Element, die Weite des Himmels, ist ihnen nicht mehr zugänglich. Diese in Gefangenschaft lebenden großen Vögel können zwar durchaus ein hohes Alter erreichen, aber verglichen mit ihren frei lebenden Artgenossen wirken sie weniger lebendig, weniger vor Lebenskraft »vibrierend«. Mit anderen Worten – sie können sich nicht mehr frei entfalten, denn das Potential hierfür schöpft ein freier Kranich aus der Wechselwirkung zwischen Yin (der Erde) und Yang (dem Himmel). Das gleiche gilt entsprechend für jedes Tier, das statt in Freiheit in der Enge eines Käfigs lebt.

Wir Menschen leben in der modernen Gesellschaft ebenfalls wie in einem Zoo. Wir bauen Mauern und Zäune, isolieren uns voneinander, äußerlich und innerlich. Wir leben in »Käfigen«, die wir für unseren eigenen Schutz errichtet haben. Vor allem die inneren Mauern in unseren Köpfen hindern uns an unserer Entfaltung, daran, unser wirkliches Potential als Menschen zu erreichen.

Ein Kranich, dessen Flügel nicht gestutzt sind, kann jeden Zaun, jede Mauer überwinden. Er tut dies nicht, indem er sie niederreißt, sondern indem er sich über sie hinwegschwingt. Seine Freiheit beruht nicht auf Zerstörung, sie beruht auf Harmonie, auf intuitivem Erkennen der Situation und auf intuitiver Anpassung an die Gegebenheiten. Diese Möglichkeit steckt auch in uns, und Tai Chi kann uns die Flügel verleihen, die wir dazu brauchen, unsere inneren Mauern und Zäune zu überwinden.

Ich möchte an dieser Stelle den Psychologen und Buchautor Dr. Steven D. Farmers zitieren, der schrieb, welche spirituelle Nachricht ein großer Vogel wie ein Adler oder ein Kranich für uns haben könnte:

Ob du es weißt oder nicht, aber du hast Zugang zu einer unglaublichen spirituellen Kraft! Wenn dein Blick zu eng ist und du keine Probleme mehr lösen kannst, wenn du jeder Herausforderung hilflos gegenüberstehst, dann schau darauf aus meiner Perspektive. Komm mit mir mit, und ich bringe dich zur Sonne und zu den Sternen. Du musst den Mut haben, alte und bequeme Gewohnheiten und Glaubensgrundsätze abzulegen und in unbekannte Reiche und neue Welten aufzusteigen, indem du deinen Blick unaufhörlich erweiterst. Die Zeit, die volle Verantwortung für dein Leben zu übernehmen, ist jetzt; sei bereit für sofortiges Karma. Und sobald dein spirituelles Bewusstsein ansteigt, wird dies positive und auch negative Wirkungen haben, die unmittelbar sind und immer größere Kraft besitzen werden. Wenn du vor einer Entscheidung stehst, gleichgültig, ob es dabei um eine bedeutende oder unbedeutende Angelegenheit geht, so besieh dir zunächst all die Möglichkeiten, die für dich zur Auswahl stehen, von oben. Dann wähle eine davon aus und halte dich rückhaltlos daran, ohne irgendwelche Mehrdeutigkeiten zuzulassen. Lass dich nicht von materiellen Sorgen davon abhalten, dich aufzuschwingen!4

Bitte einen Kranich um Hilfe:

 wenn Zeitmangel und all die kleinen Dinge des Alltags für dich eine schwere Last bedeuten;

 wenn du schwere Entscheidungen für dein Leben oder deine Partnerschaft zu treffen hast, oder darüber, welche Richtung du für dein weiteres Leben einschlagen möchtest;

 wenn du viel Energie in eine Sache steckst und das Ergebnis dich trotzdem nicht zufriedenstellt.

Wie können wir uns die Kraft des Kranichs zu eigen machen? Wie können wir von ihm lernen, unseren Alltag in den Griff zu bekommen, Energie zu sparen und dennoch unsere Vorhaben, unsere Träume Wirklichkeit werden zu lassen? Eine Möglichkeit besteht darin, die weiter hinten im Buch vorgestellten Übungen zu praktizieren. Das mag zu Beginn schwierig sein, da jedes regelmäßige Üben zunächst einmal eine Überwindung bedeutet und die Übungen zwar nicht übermäßig kompliziert, aber dennoch nicht anspruchslos sind. Aber es geht nicht darum, sofort zur Perfektion zu gelangen. Gewöhnen Sie sich an die Übungen, dann werden Sie sie immer besser »verstehen«, bis sie eines Tages zu Ihrer »zweiten Natur« werden.

2.3. Der Kranich und das Tai Chi

Im Tai Chi ist oft die Rede von den »fünf Tugenden« und den »acht Wahrheiten«. Diese finden sich in alten Manuskripten chinesischer Meister, deren Namen heute nicht mehr bekannt sind.

Die fünf Tugenden des Tai Chi

Dein Lernen sollte weitgreifend sein und vielfältig. Beschränke dich nicht selbst. Dieses Prinzip kann mit deinem Stand verglichen werden, der es dir gestattet, dich leichtfüßig und in verschiedene Richtungen zu bewegen.

Prüfe und frage. Frage dich selbst, wie und warum Tai Chi funktioniert. Dieses Prinzip kann mit deiner Empfindsamkeit verglichen werden, die dich wahrnehmen lässt, was andere ignorieren.

Sei sorgfältig und achtsam in deinem Denken. Nutze deinen Verstand, um zum richtigen Verständnis zu finden. Dieses Prinzip kann verglichen werden mit deiner Fähigkeit zu verstehen.

Prüfe sorgfältig. Trenne klar die Konzepte und entscheide dich dann für den rechten Weg. Dieses Prinzip kann mit dem ununterbrochenen Bewegungsfluss im Tai Chi verglichen werden.

Übe ernsthaft. Dieses Konzept kann mit dem Himmel und der Erde, dem Ewigen verglichen werden.

Die acht Wahrheiten des Tai Chi

Mach dir keine Gedanken über die Form. Mach dir keine Gedanken über die Art und Weise, in der sich die Form ausdrückt. Das beste ist es, die eigene Existenz zu vergessen.

Dein ganzer Körper sollte transparent und leer sein. Lass das Innere und das Äußere miteinander verschmelzen, um eins zu werden.

Lerne, die äußeren Dinge zu ignorieren. Folge dem natürlichen Weg. Erlaube es deinem Verstand, dich zu leiten, und handle spontan, im Einklang mit der Bewegung.

Die Sonne geht über dem westlichen Gebirge unter. Der Felsen tritt hervor, frei im Raum hängend. Sieh den Ozean in seiner Weite und den Himmel in seiner Unermesslichkeit.

Des Tigers Gebrüll ist tief und gewaltig. Des Affen Schrei ist hoch und schrill. So sollst du deinen Geist verfeinern, indem du das Positive und das Negative entwickelst.

Das Wasser der Quelle ist klar wie Kristall. Das Wasser des Teiches steht still und ruhig. Dein Verstand soll wie das Wasser des Teiches sein und dein Geist wie die Quelle.

Der Fluss tost. Der stürmische Ozean brodelt. Lass dein Chi wie diese Naturwunder werden.

Strebe ernsthaft nach Vollkommenheit. Lass das Leben gedeihen. Wenn du deinen Geist geklärt hast, kannst du das Chi entwickeln.

Der Kranich scheint all dies zu vereinigen. Er steht für Individualität, die in Harmonie mit anderen Individuen existiert. Der Kranich ist ein zuverlässiges und beständiges Wesen: Findet er einen Lebenspartner, so bleibt er ihm für gewöhnlich sein Leben lang verbunden.

Schaut man einem Kranich zu, so ruft das ein Gefühl der Erhabenheit hervor. Dieser große Vogel bewegt sich mit äußerster Eleganz und Ruhe. Ihn umgibt eine Art Aura, ein Energiefeld, dessen Ausstrahlung wir spüren können und das direkt aus seinem innersten Wesen stammt. Aus diesem Grund galt der Kranich im alten China als Symbol für ein langes Leben, für Weisheit, für die Reife des Alters und ebenfalls für die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Die chinesische Mythologie kennt auch das Konzept des »Himmelskranichs« beziehungsweise des »Seelenkranichs« – man glaubte, dass sich daoistische Priester, die den Zustand der Vollendung erreicht hatten, nach ihrem Tod in einen Kranich verwandelten. In der Qing-Dynastie trugen die höchsten Zivilbeamten ein Abzeichen mit dem Abbild eines Kranichs als Zeichen ihres Ranges.

Dieses Buch, vor allem aber die darin vorgestellten Übungen, sollen Ihnen helfen, sich in die Lebensphilosophie eines Kranichs hineinzuversetzen, sein Wesen zu imitieren. Gelingt Ihnen diese Imitation eine Zeitlang, so werden Sie in eine Phase der Kreativität gelangen. Dann werden Sie »fühlen«, und zwar aus dem Bauch heraus, und Sie werden etwas Neues schaffen. Machen Sie sich beim Üben keine Gedanken darüber, ob Sie es »richtig« machen. Sie sind der Künstler, und am Ende werden Sie Ihre eigene Form entwickeln, die genau Ihnen und Ihrem innersten Wesen entspricht. Um dahin zu gelangen, lernen Sie von Anfang an mit dem Körper und nicht mit dem Kopf. Versuchen Sie nicht, die Übungen intellektuell zu verstehen – üben Sie sie durch Imitation.

Wenn wir uns die Kranichform »aneignen«, gehen wir von außen nach innen und wieder nach außen. Zunächst müssen wir unsere äußere Schutzschicht öffnen, indem wir die Übungen in uns »eindringen« lassen. Wir müssen bereit für Neues sein, es immer tiefer in uns hineinlassen, bis das neue Konzept unser Zentrum erreicht hat, wo es wie ein Samenkorn aufgehen und wieder nach außen dringen kann, wo es wie ein unsichtbares Strahlen von uns ausgehen wird. Das ist es, was wir als »Aura« bezeichnen und was die rational kaum erklärbare Gesamtwirkung eines Menschen auf andere Wesen – Menschen, Tiere und Pflanzen – bestimmt.

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