Herzensöffnung (1)

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Maria aber antwortete: „Ich habe keinen Mann.“

Erst jetzt betrachtete Wolfram sie etwas näher. Vor ihm saß eine attraktive Frau, deren Erscheinung ihn faszinierte. „Dann sind Sie sicher geschieden.“

„Nein, ich war nie verheiratet. Aber das wissen Sie doch schon vom Portier“, sagte sie mit einem traurigen Unterton.

„Nein, davon hat er nichts gesagt. Er meinte nur, dass Sie hier im Hotel unerwünscht seien, mehr nicht. – Sie haben nie geheiratet? Bitte verzeihen Sie meine Frage. Ist es so, dass Sie vielleicht mit einer Frau zusammenleben?“

Sie schüttelte den Kopf und ein gequältes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Nein. Ich wohne immer noch bei meinen Eltern.“

Nun verstand Wolfram gar nichts mehr. „Ja sind denn die Männer hier blind? In Deutschland hätte eine Frau wie Sie mehr Verehrer, als ihr vielleicht lieb wäre.“

„Ja, vielleicht“, antwortete sie sinnend. Maria hatte Tränen in den Augen und Wolfram spürte, dass das ein Thema war, über das sie nicht gern sprechen wollte.

Nun war aus ihrem Gespräch erst mal die Luft raus. Wolfram bat Maria, hier im Zimmer zu warten, er wolle erst einmal ihre Anwesenheit mit der Rezeption klären, damit es keine Probleme gebe. Sie nickte.

Er fuhr nach unten und berichtete dem Portier, dass es Maria jetzt gut gehe und sie das Hotel verlassen werde, sobald es ihr möglich sei. Anschließend bat er den Portier um Verzeihung für sein Verhalten, als er mit Maria das Hotel betreten hatte. Er sei zu sehr im Stress gewesen und habe es nicht so gemeint.

Und zum Schluss fragte Wolfram noch: „Warum nennen Sie diese Frau eigentlich Touristen-Maria?“

„Es ist besser, sie erzählt Ihnen das selbst.“

Mit dieser Antwort fuhr Wolfram wieder nach oben. Im Fahrstuhl bemerkte er, wie sehr er sich doch für diese Frau einsetzte. Irgendetwas faszinierte ihn an ihr. Er hatte ein Gefühl, als kenne er sie schon ewig, dabei war es vielleicht gerade mal eine Stunde. Gedankenverloren betrat er wieder sein Zimmer. Maria war im Bad und kämmte sich die Haare.

„Ich habe Ihren Aufenthalt hier im Hotel geregelt und unten gesagt, dass Sie das Hotel verlassen würden, sobald es möglich sei. Damit waren sie an der Rezeption einverstanden.“

Von ihr kam ein leises: „Takk … äh … Danke!“

„Aber was machen wir jetzt mit Ihnen? Bis Ihre Sachen trocken sind, können Sie ja nicht hierbleiben. Sie können hier ja schlecht übernachten.“

Ihre Antwort war nur ein fragender Blick.

„Maria – ich darf Sie doch so nennen?“

Sie nickte.

„Wir werden erst mal zusammen essen, dann suchen wir etwas Warmes zum Anziehen für Sie. Danach bringe ich Sie nach Hause und Sie geben mir, nachdem Sie sich umgezogen haben, meine Sachen wieder. Geht das?“

Sie nickte und Wolfram spürte eine tiefe innere Traurigkeit in ihr. So entfuhr es ihm: „Wenn’s nach mir ginge, könntest du bleiben.“ Er erschrak und verbesserte sich sofort: „ … könnten Sie bleiben.“

Ein kurzes Lächeln zog über ihr Gesicht; dann fiel sie in ihre Traurigkeit zurück und meinte: „Sie können ruhig Du sagen. Das machen alle anderen auch.“

Er schüttelte den Kopf und fragte sie voller Mitgefühl: „Warum sind Sie nur so traurig? Ich würde viel darum geben, wenn ich ein Lächeln auf Ihr Gesicht zaubern könnte.“

Nun war eine Weile Ruhe im Raum. Doch bald unterbrach Wolfram diese Ruhe wieder: „Gibt es etwas, das Ihnen die Traurigkeit aus dem Gesicht vertreiben würde?“

Sie schüttelte den Kopf und Tränen rollten über ihr Gesicht. Wolfram spürte, dass diese Frau dringend etwas Trost brauchte. Er zog sie vom Stuhl hoch und bedeutete ihr, sich auf die Bettkante zu setzen, da es keine andere passende Sitzgelegenheit im Raum gab. Er selbst setzte sich direkt daneben. Dann legte er vertrauensvoll seinen Arm um ihre Schulter, um sie zu trösten. Dabei sah er sie verständnisvoll an. „Was haben Sie?“, fragte er voller Mitgefühl.

„Die Menschen hier verachten mich. Mein Vater lässt keinen guten Faden an mir. Sagt man so?“ Wolfram nickte wortlos und sie sprach weiter: „Ich habe Angst, wenn ich heute nach Hause muss. Er wird sicher schon alles wissen, was heute passiert ist.“

„Woher sollte er das wissen?“, fragte Wolfram verwundert.

„Hier im Dorf ist das so! Was einer weiß, wissen bald alle.“ Und wieder rollten Tränen über ihr Gesicht. „Am liebsten würde ich gar nicht nach Hause gehen. – Verstehen Sie nun, warum es nicht schlimm gewesen wäre, wenn ich aufs Meer getrieben wäre?“ Das klang bitter.

„Maria, bitte sagen Sie so etwas nicht. Es gibt doch sicher auch Menschen, die traurig wären, wenn Sie nicht wieder kommen.“

Sie nickte mit einem Seufzer und sagte dann voller Bitternis: „Sie sind doch auch nicht besser. Hier tun Sie, als hegten Sie Sympathie für mich, und wenn Ihr Urlaub zu Ende ist, sagen Sie tschüss, denn zu Hause wartet sicher auch eine Frau auf Sie. Ich kenne die Männer.“

Wolfram wurde jetzt sehr ernst. „Zu Hause wartet keine Frau auf mich.“

„Das sagen alle und dann haben sie doch eine.“

Er drehte Marias Kopf zu sich, sodass sie ihn ansehen musste. „Bitte sehen Sie mich an. Ich lüge nie! Ich verachte zutiefst Menschen, die lügen. Und es ist gemein, wenn man mit den Gefühlen einer Frau spielt und sie dabei verletzt.“ Sein Gesicht nahm dabei einen starren Ausdruck an.

Sie erschrak vor diesem Anblick. „Ich … ich wollte Sie nicht beleidigen.“

„Schon gut“, meinte er und alles Negative wich wieder aus seinem Gesicht. „Ich weiß ja, dass es Männer gibt, die wirklich so sind, wie Sie sie beschreiben.“ Arme Maria, dachte Wolfram und sagte: „Sie haben sicher schon einige kennengelernt, die so waren.“

Sie nickte leicht.

Draußen ging der Tag zur Neige und im Zimmer wurde es langsam dunkler.

„Glauben Sie mir, ich würde Sie nie belügen. Es gibt nicht viele Frauen mit Ihrer Erscheinung, die trotzdem so natürlich geblieben sind. Ich würde was darum geben, wenn Sie nicht hier, sondern bei uns in Sonnenberg leben würden.“

„Ja?“ Sie sah ihn mit großen kindlichen Augen an. Ihre Augen füllten sich schon wieder mit Wasser. „Meinen Sie das ehrlich?“ Diesmal war es Wolfram, der nur nickte.

„Ich möchte das ja gern glauben. Aber ich kann es mir nicht vorstellen, dass es so ist.“ Maria sprach die ganze Zeit langsam und es war nicht zu übersehen, dass ihr das Deutsch nicht leichtfiel.

Sie saßen immer noch auf der Bettkante, da es die einzige Möglichkeit im Zimmer war, nebeneinanderzusitzen.

„Maria.“ Dabei umarmte er sie noch etwas fester mit seinem Arm, der immer noch auf ihrer Schulter lag. „Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die so ist wie Sie. Schon als Sie vorhin in der Wanne lagen, waren Sie mir gar nicht so fremd. Es kam mir vor, als würden wir uns kennen. Ich weiß, dass das Unsinn ist. Trotzdem ist es so.“

Maria drehte den Kopf zu ihm, blickte ihn ungläubig an und musterte ihn lange. Dann zuckte sie mit den Schultern und fiel wieder in ihre Traurigkeit zurück.

„Maria. Ich werde jetzt runter ins Restaurant gehen und mein Abendbrot holen. Das essen wir dann zusammen hier oben. Ich glaube, dass ist besser so.“

Sie nickte.

„Und danach bringe ich Sie erst mal nach Hause.“

Mit diesen Worten verließ er das Hotelzimmer. Unten klärte er erst mal das mit dem Essen auf dem Zimmer mit der Rezeption. Nach einem kurzen Gespräch hatte der Portier nichts dagegen. Nun ging Wolfram ans Buffet und nahm reichlich. Dann fuhr er wieder nach oben.

Mit drei Tellern und zwei Bestecken in der Hand betrat er das Zimmer und betrachtete Maria, die jetzt wieder am Tisch saß. Ihre schönen langen blonden Haare waren ihm noch gar nicht aufgefallen. Vielleicht lag es daran, dass sie nass gewesen waren, als er sie vor Stunden in der Wanne gemustert hatte. Sie gefiel ihm, aber Maria hatte auch irgendetwas an sich, das ihn auf Distanz hielt. Wieso lehnen die Männer sie ab, fragte er sich.

Zu Maria sagte er: „Es ist alles in Ordnung und mit der Rezeption abgesprochen.“ Dann gab er ihr Besteck und Teller. Den zweiten Teller mit Besteck stellte er zu sich und den dritten Teller mit Brot, Wurst, Käse und Butter in die Mitte des Tischs. Dann aßen sie wortlos. Dabei dachte er ständig über Maria nach. Wenn jemand so aussieht und trotzdem ohne Mann ist, kann da irgendetwas nicht stimmen. Immer wieder blickte er sie kurz verstohlen an. Was ist ihr Geheimnis? Auf diese Frage fand er einfach keine Antwort.

Nach dem Essen suchte er für sie ein paar Schuhe von sich heraus und fünf Paar Strümpfe, damit die Schuhe wenigstens einigermaßen passten. Dann gab er ihr seinen dicken Wintermantel und seine dicke Fellmütze für ihre nassen Haare mit den Worten: „Etwas anderes habe ich leider nicht.“ Er selbst zog seinen Anorak an und wartete, bis auch Maria fertig angezogen war. Als Wolfram zur Tür wollte, umarmte Maria ihn plötzlich ganz fest, ohne ein Wort zu sagen. Dann ließ sie ihn los und wandte sich von ihm ab. Doch er drehte sie wieder zu sich und sah in ihr Gesicht, das erneut voller Tränen war. Jetzt nahm er sie in die Arme und drückte sie an sich. Ihm war in diesem Moment alles egal. Er hatte diese Frau irgendwie lieb gewonnen.

„Maria, du bist eine wundervolle Frau und ich lasse dich nur ungern gehen“, sagte er mehr vor sich hin.

Sie rückte von ihm ab und sah ihn mit großen Augen an. Erst jetzt merkte er, dass er sie schon wieder mit Du angesprochen hatte. Deshalb streckte er ihr die Hand hin und sagte: „Ich heiße Wolfram. Können wir beim Du bleiben?“

Sie nickte, nahm seine Hand und küsste ihn kurz. Dann erschrak sie über sich selbst und bat: „Bitte verzeihen Sie mir.“

Nun drückte Wolfram sie noch einmal und sagte dann: „Ich kann nicht zu einer Frau Du sagen, wenn sie Sie zu mir sagt. Können wir uns nicht auf Du einigen?“

 

Maria nickte.

„Und jetzt ist es vielleicht besser, wenn wir gehen.“ Mit diesen Worten nahm er Marias nasse Sachen und sie verließen das Zimmer. Als sie aus dem Hotel traten, war es schon richtig dunkel. Verlaufen konnten sie sich aber nicht. Schließlich war Maria hier zu Hause, außerdem war Wolfram schon am Vormittag im Dorf gewesen und hatte den Weg noch in Erinnerung.

Die Kälte kroch langsam unter ihre Sachen, als sie die Fernstraße überquerten. Noch immer gingen sie wortlos nebeneinander. Da unterbrach Maria das Schweigen: „Es ist sicher besser, wenn dich mein Vater nicht sieht. Er hasst die Deutschen.“

„Warum? Was haben wir ihm getan?“

„Das muss noch vom Krieg sein“, sagte sie.

„Wie alt ist denn dein Vater?“

„66 Jahre“, antwortete sie.

„Dann hat er den Krieg nur als Kind miterlebt und weiß bei vielem sicher gar nicht, wie es wirklich war.“

„Trotzdem hasst er die Deutschen, so wie viele hier in Norwegen.“

„Du auch?“, fragte Wolfram zögernd.

„Nein. Ich nicht.“

Sie hatten inzwischen den Dorfrand erreicht und gingen zielgerichtet auf ihr Elternhaus zu. Es lag direkt am Rand von Håp Land.

„Ich komme mit rein und möchte Deinem Vater erklären, was passiert ist, damit er nichts falsch versteht. Versteht er überhaupt Deutsch?“

„Ja. Ich habe deutsch es von meinen Eltern gelernt. Aber ich glaube nicht, dass er dich anhören wird.“

Jetzt waren sie an Marias Zuhause angekommen und traten ein. Kjelt Lizell holte tief Luft, als Maria und Wolfram durch die Tür traten.

„Guten Tag“, meinte Wolfram. „Ich bringe Ihnen Ihre Tochter zurück.“

Nun schimpfte Marias Vater sehr heftig mit seiner Tochter. „Er du en ny Tysktøs?“

Maria schluchzte und sah immer wieder verstohlen zu Wolfram. Ihre Mutter Annefried versuchte ihren Mann mit Worten zu besänftigen, doch Kjelt schimpfte weiter. Von alledem verstand Wolfram kaum etwas, da er Norwegisch nie gelernt hatte. Er verstand nur Wörter wie Tourist und etwas, das wie hore klang. Wolfram hatte eine Vermutung, aber er verwarf sie gleich wieder. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, auch wenn die Blicke von Marias Vater, die ihn immer wieder streiften, alles andere als freundlich waren.

Nun wandte sich Kjelt Lizell an Wolfram: „Raus hier!“

„Ist das der Dank, dass ich Ihrer Tochter das Leben gerettet habe?!“

„Sie haben Maria das Leben gerettet?“, fragte Marias Mutter ganz entsetzt.

Maria nickte schuldbewusst. Aber Kjelt schimpfte weiter: „Ihr Deutschen habt nur Leid über unser Volk gebracht! Also verlassen Sie mein Haus!“

Das war nun auch für Wolfram zu viel. „Ich habe Ihnen nichts getan. Was hier im Zweiten Weltkrieg alles passiert ist, weiß ich nicht. Ich habe damals noch nicht gelebt und ich habe mich in meinem Leben auch nicht schuldig gemacht, so wie die meisten Deutschen, die heute leben. Sollen wir Deutsche alle Franzosen verurteilen, weil Napoleon Deutschland und Europa in einen unsinnigen Krieg getrieben hat? Sollen wir auch die Norweger für das verurteilen, was die Wikinger uns in der Geschichte angetan haben? Wäre es nicht richtiger, wenn wir alle versuchen würden zu verzeihen? Hat uns nicht Jesus gelehrt, dass nur durch Verzeihen wahrer Frieden entstehen kann?“

Totenstille war nun im Raum. Kjelt Lizell saß da, ohne sich zu regen. Maria und ihre Mutter blickten Wolfram mit offenem Mund und großen Augen an. Noch nie hatte sich jemand erlaubt, so mit Kjelt zu reden.

Nach einer Weile fand Marias Vater seine Worte wieder. „Machen Sie doch, was Sie wollen.“ Damit wandte er sich ab.

Annefried Lizell blickte mit sorgenvollen Augen zu Wolfram.

Maria zog Wolfram in den Hausflur, schloss die Tür zum Wohnzimmer und sagte zu ihm: „Bitte warte hier.“ Dann nahm sie die nassen Sachen und ging die Treppe nach oben. Nach ein paar Minuten kam sie umgezogen wieder herunter und hatte Wolframs Sachen in der Hand.

Er meinte zu ihr: „Lass uns noch ein Stück gehen. Ich habe vieles noch nicht verstanden.“

Sie verließen das Haus. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Nun begann Wolfram zu fragen: „Warum war dein Vater so böse zu dir? Was meinte er immer mit Turister und was bedeutet das Wort hore, das er so oft verwendete? In einigen slawischen Sprachen bedeutet hore Berg oder oben. Ist das bei euch auch so?“

Maria schüttelte den Kopf und weinte wieder.

Wolfram versuchte sie zu trösten. Er nahm sie einfach in den Arm und fragte sie: „Habe ich etwas Schlimmes gesagt?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Maria, du bist eine wundervolle Frau“, sagte Wolfram und dann musste es aus ihm heraus: „Aber bitte lass mich nicht im Ungewissen. Ich vertrage Ungewissheit nicht und noch weniger Lügen. Alles andere ist ertragbar.“

Turister heißt Touristen.“ Sie stockte und erneut liefen Tränen über ihr Gesicht.

„Und hore?“, fragte Wolfram vorsichtig.

Unter Tränen antwortete sie: „Ich weiß nicht, wie das im Deutschen heißt. Mit hore ist eine Frau gemeint, die“, sie schluchzte erneut, „viel die Männer wechselt.“

Wolfram war entsetzt. Das hatte er zwar vermutet, aber doch nicht erwartet. Er drückte sie ganz fest an sich und fragte leise weiter: „Hat er das wegen mir gesagt?“

Maria schüttelte den Kopf.

„Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr. Dieses Wort gibt es auch im Deutschen. Da wird es nur mit einem u statt dem o geschrieben.“

„Er hat Grund“, meinte sie nur kurz und riss sich vorsichtig von ihm los.

„Maria. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du eine Hure sein sollst. Du bist überhaupt nicht der Typ dazu. Dein Vater kann doch froh sein, so eine Tochter wie dich zu haben.“

„Wenn ich dir das erzähle, wirst du …“ Sie brach erneut in Tränen aus.

Wolfram nahm sie wieder in den Arm, um sie zu beruhigen. „Ich bin nicht der erste Mann, der dir begegnet. Ist es das?“

Sie nickte.

„Aber es ist doch völlig normal, dass man mehrere Partner kennenlernt, bevor man sich für den Lebenspartner entscheidet. Was meinst du, wie viele Frauen manche Männer hatten, bevor sie heirateten.“

„Bei Männern ist das auch etwas anders. Die dürfen das.“

„Na, das sehe ich aber nicht so. Männer sind doch nichts Besseres. Nur, dass sie dabei keine Kinder bekommen.“

Bei diesem Satz zuckte sie merklich zusammen.

Wolfram begann langsam zu verstehen. „Du hast ein Kind?“

Sie löste sich aus seiner Umarmung und nickte.

„Das ist doch aber kein Grund, dich zu verurteilen. Uneheliche Kinder gibt es öfter in Deutschland. Nur wenige Männer regen sich darüber noch auf. Ist das hier anders?“

Maria holte tief Luft. „Ja“, sagte sie, „das ist hier anders. In dieser Gegend sollte eine Frau unberührt sein, wenn sie heiratet. Und eine Frau mit Kind heiratet hier keiner. Ist das in Deutschland wirklich anders?“

„Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Mir tun dabei immer die Kinder leid. Sie trifft es am meisten, dabei können sie doch am wenigsten dafür. Und wegen dieses Kindes schimpft dein Vater so heftig mit dir?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. Viele Tränen liefen ihr jetzt übers Gesicht und sie gestand: „Ich weiß, dass du jetzt enttäuscht von mir bist. Aber glaube mir, ich bin keine Frau, die sich jedem an den Hals wirft, auch wenn ich … wenn ich … drei Kinder habe.“ Unter ständigen Tränen erzählte sie weiter: „Ich habe jedes Mal geglaubt, das sei der Mann fürs Leben, und dann ist er nach Hause gefahren und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Weißt du, wie weh das tut? Und dann merkst du auch noch, dass du schwanger bist.“ Maria sah Wolfram vollkommen zerbrochen an. „Ich nehme es dir auch nicht übel, wenn du jetzt von so einer wie mir Abstand hältst. Ich danke dir trotzdem für die schönen Stunden. Die Zeit mit dir war kurz, aber wunderschön.“ Maria drehte sich weg und wollte gehen. Sie weinte bitterlich.

Wolfram griff vorsichtig nach ihren Oberarmen und zog sie an sich heran, doch Maria drehte ihren Kopf weg. „Maria“, begann er, „darf ich sie kennenlernen?“

Sie blickte ihn an, als wäre er ein Geist. „Wie? Was? … Wen?“, fragte sie ungläubig und blickte ihn durch die wassergefüllten Augen an. Sie sah ihn nur verschwommen.

„Deine Kinder!“

„Ja, aber … Du willst … Wieso?“

„Egal, was andere von dir denken, ich verurteile dich ganz bestimmt nicht. Für mich bleibst du eine wunderbare Frau. Und glaube mir, ich verstehe dich besser, als du ahnst. Auf eine gewisse Art bin ich genauso einsam wie du. – Darf ich deine Kinder kennenlernen?“

Maria sah ihn immer noch völlig entgeistert an. „Ich habe …“ Sie fiel ihm um den Hals und war nicht fähig weiterzureden. Jedes weitere Wort würde in Tränen ertrinken. Wolfram drückte sie fest an sich. Und so schwiegen sie einige Minuten.

„Meine Kinder interessieren dich wirklich?“, begann sie erneut das Gespräch. Und wieder hatte sie diesen überraschten Ausdruck im Gesicht.

„Ja. Ich habe mir gerade vorgestellt, wie es wäre, wenn wir eine Familie wären. Es war eine schöne Vision!“, gestand er ihr.

„Aber du kannst doch nicht mit fremden Kindern zu einer Familie werden. Und dann sind es auch nur Mädchen.“ Traurig und zerbrochen wendete sich Maria erneut von ihm ab. Doch gleich darauf erschrak sie von seinem harten Ton.

„Maria, Mädchen sind doch genauso Menschen wie Jungs! Ich verachte Menschen, die Jungen als etwas Besonderes sehen. Warum sind Mädchen für dich weniger wert? Bist du nicht auch ein Mädchen gewesen? Bist du da nicht genauso wertlos?“

Aus dem völlig verweinten Gesicht blickten ihn große Augen an. „Ich konnte doch nicht wissen … Hier wollen die Männer nur Jungen. Mädchen werden nur geduldet, wenn sie geboren werden. Ihr Deutschen müsst ein sehr glückliches Volk sein. Ich würde viel darum geben, dort zu leben.“

Wolframs Frust war wie weggeblasen. Er war jetzt eher etwas verlegen. „Nicht alle Deutschen denken so. Es gibt auch solche wie bei euch. Und ein besonders glückliches Volk sind wir ganz sicher auch nicht. Wir Deutschen werden von vielen Völkern verurteilt, weil es den Zweiten Weltkrieg gab. Alle schauen verächtlich auf uns, als ob wir, die wir heute leben, etwas dafür könnten, was vor 1945 passiert ist. Nein, so glücklich sind wir auch nicht. Die Frauen und Mädchen haben es in Deutschland aber vielleicht doch leichter als hier – zumindest in dieser Region. Wenn ich dich so höre, dann muss ich das annehmen.“ Nach einer Pause der Besinnung sprach Wolfram weiter: „Du würdest gern in Deutschland leben? Du würdest wirklich in Deutschland leben wollen?“

Aus ihrem tränenüberströmten Gesicht kam nur ein „Ja“.

Nach einigen Minuten unterbrach Maria das Schweigen. Sie hatte sich wieder etwas erholt und blickte jetzt sorgenvoll in Wolframs nachdenkliches Gesicht. „Du sagst gar nichts mehr. Habe ich etwas Falsches gesagt? Dann verzeih mir bitte.“

„Nein, nein“, entgegnete Wolfram. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht weiß, was ich machen soll. Bitte verzeih mir meine Offenheit. Mein Herz möchte mit dir noch heute nach Deutschland fahren. Dagegen sagt mir mein Verstand, ich solle nicht so leichtsinnig sein. Schließlich kennen wir uns ja erst seit heute.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Was ist das nur? Ich habe dich hier im Arm und mir ist, als würden wir uns kennen. Du bist mir so vertraut. Ich möchte dich gar nicht wieder loslassen.“ Und er drückte sie wieder fest an sich. „Glaubst du an Reinkarnation? Meine Tante Elfriede hat mir mal davon erzählt. Damals habe ich nur darüber gelacht. Aber heute … Ich weiß nicht. Alles ist so sonderbar. Schon im Flugzeug der Regenbogen. Dann, dass ich eben da war, als du ins Wasser gerutscht bist. So viele Zufälle.“

„Was bedeutet Reinkarsation?“

„Reinkarnation! Das heißt, wir leben nicht nur einmal. Wir werden immer wieder neu geboren. Diese Lehre kommt aus Asien. Dort glauben alle Menschen, dass sie schon mehrmals gelebt haben und wiedergeboren sind.“

Sie liefen schweigend nebeneinander. Langsam zeichnete sich hinter der Fernstraße die Silhouette des Hotels vor dem Himmel ab und Wolfram gestand ihr: „Ich möchte dich nicht verlieren.“ Er riss Maria an sich und küsste sie. Danach war Wolfram selbst über sich erschrocken und beteuerte Maria: „Bitte verzeih mir. Das wollte ich eigentlich gar nicht, aber es kam plötzlich und ich war machtlos. Bist du mir deshalb böse?“

 

Maria schüttelte den Kopf. Ihre Augen leuchteten. Sie umarmte und küsste ihn. Dann fragte sie ihn leise: „Willst du, dass ich mit ins Hotel komme?“ Wolfram sah sie lange an. „Und wer kümmert sich um deine Kindern? Du kannst sie doch nicht die ganze Nacht allein lassen.“

„Das macht meine Schwester Andrea, wenn ich nicht da bin. Meine Kinder lieben sie.“

Nun blickte er ihr tief in die Augen und sprach: „Bitte versteh mich jetzt nicht falsch! Aber ich glaube, ich bringe dich zurück zu euch nach Hause. Das ist sicher besser so. Aber wenn ihr morgen Zeit habt, dann würde ich gern mit euch den Tag verbringen. Geht das? Ich möchte sehr gern deine Mädchen kennenlernen. Wie heißen sie eigentlich?“

„Eva, Laura und Julia.“

„Und wie alt sind sie?“

„Eva ist sechs Jahre, Laura fünf und Julia fast drei. Und du willst morgen wirklich mit uns den Tag verbringen? Aber das würde man in jedem Fall im Dorf sehen.“

„Wäre dir das unangenehm?“, fragte Wolfram.

„Mir nicht, aber dir vielleicht?“

„Mir?“ Wolfram zog die Schultern hoch. „Und wenn schon. Da haben sie wieder was zu tratschen.“

„Was bedeutet tratschen? Das kenne ich nicht“, gestand Maria.

„Hm, das ist mit einem Wort gar nicht zu beschreiben. Es bedeutet, dass Menschen über andere schlecht reden, ohne die Wahrheit zu kennen. Manche sagen tratschen, andere sagen klatschen. Im Grunde genommen ist es das Gleiche“, erklärte Wolfram.

Inzwischen waren sie wieder am Hause von Marias Eltern angekommen.

„Abgemacht? Wir begehen den morgigen Tag gemeinsam?“

Maria nickte.

„Dann hole ich euch morgen, sagen wir, gegen 10.00 Uhr ab.“

„Oh, bitte nicht von hier. Mein Vater würde das nicht dulden“, meinte sie. „Treffen wir uns besser an der Bushaltestelle auf der Fernstraße.“

„Gut, morgen um 10.00 Uhr. Ich werde da sein. Deutsche sind pünktlich!“, sagte Wolfram mit einem Lächeln.

Eine kurze Umarmung, ein Händedruck und Maria verschwand im elterlichen Haus.

Nun ging Wolfram nachdenklich zum Hotel zurück. Er hatte immer noch den Beutel mit seinen Sachen in der Hand, den ihm Maria nach dem Umziehen gegeben hatte. Durch seinen Kopf wirbelten viele Gedanken. Auf der einen Seite war er sehr glücklich und auf der anderen Seite schimpfte sein Verstand mit ihm, dass er so viele Versprechen gemacht hatte, ohne Maria wirklich zu kennen. Wolfram wusste nicht, wohin das führen sollte. Aber dann war es ihm auch wieder egal, denn er wollte und konnte sich nur eine glückliche Zukunft mit Maria vorstellen. Eine Familie sein, zu Hause in Deutschland leben und … Oh je, das würde noch viele Probleme geben. Er lächelte in sich hinein. Dafür würde er auch noch Lösungen finden müssen.

Als Wolfram völlig durchgefroren im Hotel eintraf, war sein Plan für morgen fertig. Er brauchte unbedingt einen Leihwagen. Und so ging er geradewegs auf den jungen Mann an der Rezeption zu und fragte ihn, ob dieser ihm für morgen einen Leihwagen besorgen könne. Das sei auf so kurze Zeit nicht möglich, bekam er zur Antwort.

Da fragte Wolfram: „Wie heißen Sie?“

„Weshalb wollen Sie das wissen?“

„Nun, ich will Ihnen etwas vorschlagen, aber ich möchte Sie nicht immer mit ‚Herr Portier‘ ansprechen.“

„Ich heiße Sven Aglund.“

„Wohnen Sie hier in Håp Land?“, fragte Wolfram weiter.

„Nein. Ich wohne kurz vor Bergen und komme fast jeden Tag mit meinem Auto hierher, weil das mit dem Bus von der Zeit nur selten möglich ist. Warum fragen Sie?“

„Wann beginnen Sie denn morgens hier mit Ihrer Arbeit?“, fragte Wolfram weiter.

„Ich fange 8.00 Uhr an“, antwortete er misstrauisch. „Würden Sie mir Ihr Auto von 10.00 Uhr bis zirka 15.00 Uhr leihen? Ich muss morgen unbedingt nach Bergen und der Bus fährt doch erst Mittag. Ich gebe Ihnen 300,- DM dafür.“

„Wie bitte? Sind Sie verrückt? Bitte verzeihen Sie diesen Ausdruck, aber ich kann Ihnen doch nicht mein privates Auto vermieten. Wenn das hier im Hotel jemand erfährt, dann verliere ich meine Arbeit.“

„Sven – ich darf Sie doch so nennen? Gehen Sie einfach davon aus, dass wir Freunde sind, und einem Freund darf man auch hier sein Auto leihen. Sie verlangen ja keinen Preis dafür. Ich schenke Ihnen, meinem Freund, freiwillig 300,- DM. Auch das ist hier sicher nicht verboten.“

Sven zögerte, aber das viele Geld lockte ihn schon. So viel verdiente er sonst gerade mal in einer Woche. „Kann ich Ihnen überhaupt vertrauen?“, fragte er.

Wolfram antwortete: „Sie würden mir einen großen Gefallen tun.“

„Hat das mit Touristen-Maria zu tun?“, fragte Sven jetzt etwas nachdenklich.

Wolfram überlegte kurz und sagte dann: „Ja. Aber seien Sie ohne Sorge. Ich möchte mit Ihrem Auto nur nach Bergen fahren und wieder zurück; sonst nichts.“

Sven war verblüfft von dieser Offenheit. Er hatte vermutet, dass Wolfram den Zusammenhang mit Touristen-Maria leugnen würde. Diese Ehrlichkeit imponierte ihm. „Sie wollen wirklich 300,- DM für einen Tag bezahlen? Kommen Sie morgen nach 9.00 Uhr zu mir hier an die Rezeption. Aber das Geld möchte ich dann auch gleich haben.“

Deutsche Mark in Norwegische Kronen umzutauschen, war für Sven kein Problem, denn das konnte er schon hier im Hotel.

Wolfram bedankte sich und fragte: „Können Sie mich vielleicht morgen um 8.00 Uhr wecken?“

„Das geht in Ordnung“, sagte Sven.

Wolfram fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Er wollte noch ein warmes Bad nehmen und dann gleich zu Bett gehen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken um Maria herum. Sie ließen ihn nicht los.

Auch Maria dachte nur an Wolfram. Sie brachte erst ihre Kinder zu Bett und sprach dann noch lange mit ihrer jüngeren Schwester.

„Habe ich dir heute Früh von dem deutschen Lied erzählt?“

Marias Schwester Andrea schüttelte den Kopf.

„Ich habe einfach nur so am Radio gespielt. Da hatte ich plötzlich einen deutschen Sender und sie spielten ein Lied mit deutschem Text. Als ich auf den Text hörte, lief es mir eiskalt den Rücken runter. Da sang eine Frau von Menschen, die unglücklich sind; von Menschen, die sich fragten, warum das Glück nicht zu ihnen kommt; von Menschen, die die wahre Liebe suchen. Und dann, wenn sie schon aufgegeben haben, kommt der Eine, der sie liebt. Denn Wunder gibt es immer wieder, aber man muss sie auch sehen, wenn sie einem begegnen. Es klang, als ob sie von mir sang, aber ich glaubte nicht mehr daran, dass ich in diesem Leben noch einmal wirkliches Glück erleben könnte. Das hat mich so traurig gemacht, dass ich runter zum Millstream gegangen bin und nur noch allein sein wollte.“

Und sie erzählte voller Begeisterung von den Erlebnissen dieses Tages, wie sich dieses Lied doch erfüllte. Sie berichtete von dem Rutsch in den Millstream, wie Wolfram sie gerettet und wie fürsorglich er sich um sie gekümmert hatte. Sie sprach aber auch von den Problemen im Hotel und schloss mit den Worten: „Dieser Mann war ganz anders als alle anderen. Er ist so einfühlsam und vorsichtig. Aber als er heute Abend vor Pappa stand, da war er wie ein Fels, den sogar Pappa respektieren musste. Andrea, hast du schon mal so einen Mann gesehen?“

Marias Schwester schüttelte den Kopf.

„Und jetzt halt dich fest. In dem Lied heute Früh hieß es: Wunder gibt es immer wieder und du musst sie auch sehen, wenn sie dir begegnen. Andrea, genau so ein Wunder ist heute geschehen. Ich würde viel drum geben, wenn ich dieses Lied noch einmal hören könnte.“ Sie schwärmte weiter: „Ich liebe diesen Mann über alles. Es ist wie im Märchen, wie im Traum, und ich habe Angst, dass ich aufwache und alles wie vorher ist. Ich würde alles für ihn tun.“

Ihre jüngere Schwester schüttelte sie leicht und warnte: „Willst du noch ein Kind ohne Vater haben? Maria, besinne dich. Du kennst ihn doch kaum. Von Julias Vater hast du auch geschwärmt und dann war er auch nicht besser als die anderen.“

„Oh nein, das ist bei Wolfram ganz anders. Ich habe ihn sogar gefragt, ob er wolle, dass ich über Nacht bei ihm bleibe. Er hat NEIN gesagt! Wenn du ihn kennen würdest, dann würdest du anders von ihm reden.“