Die Macher hinter den Kulissen

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Damit erhielten die Liberalen endlich wieder eine Vision: nämlich eine grenzenlose Weltwirtschaft, in der alle Bürger dieser Welt gar nicht mehr in der Lage sind, Kriege zu führen, weil das einem Selbstmord gleichkäme. Wo alle Lebensbereiche so eng miteinander verzahnt sind, dass niemand mehr ohne die wirtschaftliche Tätigkeit der anderen auf dem Globus leben kann. Eine friedliche Welt der Arbeitsteilung. Aber definitiv keine demokratische Welt. Hätte man, so Lippmann, in den USA eine Demokratie getreu nach Buchstaben gehabt, wäre man wohl nie so weit gekommen, wie man jetzt war:

„Wären sie39 wirklich im Sinne ihrer konfusen Kritiker ‚Demokraten‛ gewesen, dann wäre Amerika einem Aufruhr und einer Ohnmacht ausgeliefert gewesen, die aus ihm nicht ein Gelobtes Land, sondern ein riesiges Mazedonien gemacht hätte.“40

Und an anderer Stelle:

„Die Amerikaner waren nie von ganzem Herzen der Überzeugung, dass die Demokratie so ganz ohne Gefahr für die Welt sei.“41

„Die Amerikaner“ – wer immer das auch gewesen sein soll.

Wir fassen noch mal zusammen: der Staat soll nach Lippmann durchaus gestalterisch und sozialpolitisch in die Gesellschaft eingreifen. Ein Nachtwächterstaat des Laissez-faire schwebt Lippmann nicht vor. Aber Staat und Eliten sollen ihre Bürger so umbauen, dass sie sich den Anforderungen größerer Arbeitsteilung und verfeinerter Komplexität anpassen können. Am Ende des Anpassungsweges steht, so kann man Lippmanns Äußerungen entnehmen, die Auflösung der Nationalstaaten in einer großen Weltgesellschaft. Ein bisschen Demokratie ist dort vorgesehen, aber bitte nicht zu viel.

Und wie alle wirklich einflussreichen Texte der Weltgeschichte lässt auch Lippmanns Good Society viele Fragen unbeantwortet, was den unterschiedlichsten Fraktionen Platz lässt, ihn für sich zu reklamieren.

Mont Pèlerin Society: Der totale Sieg der Saurier

Lippmanns Good Society löst ein Pfingstwunder aus. Die in alle Welt zerstreuten demoralisierten Wirtschaftsliberalen entwickeln plötzlich ein neues Sendungsbewusstsein.

Schon im August des Jahres 1938 lädt der Philosoph Louis Rougier Walter Lippmann zu einem Kolloquium nach Paris ein. Und 26 Denker aus Amerika und Europa folgen gerne der Einladung. Aus dem amerikanischen Exil kommt der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek. Aus dem türkischen Exil die Deutschen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow. Und der neue Messias des Liberalismus Walter Lippmann hält in Paris persönlich das Impulsreferat. Lippmann prägt für die Systeme der Planwirtschaft den griffigen Terminus „Totalitarismus“, und stellt ihm das zusammen geschweißte Begriffspaar „freier Markt – Demokratie“ entgegen. Lippmann ist eben ein begabter Public-Relations-Fachmann.

Dass das neue Baby nicht auf den kompromittierten Namen „Liberalismus“ getauft werden darf, ist Konsens in Paris. Also, wie nun? „Positiver Liberalismus“, oder „Sozialer Liberalismus“? Alexander Rüstow wirft den Begriff „Neoliberalismus“ in die Runde. Der Neoliberalismus soll sich vom alten Liberalismus durch eine neue soziale Sensibilität unterscheiden. Rüstows Vorschlag wird angenommen.

Lippmann in seinem Referat: wir brauchen einen langen Atem. Die Durchsetzung der neuen Heilslehre ist ein „langwieriges Werk“. Sein Zuhörer von Hayek inhaliert Lippmanns Botschaft tief. Einige Jahre später denkt Hayek laut darüber nach, wie der Neoliberalismus in einem generationenübergreifenden Projekt die Oberhoheit oder Hegemonie über die Gesellschaft gewinnen kann. Er beobachtet, wie „sozialistische“ Denker zunächst ein Netzwerk von Intellektuellen gebildet hätten und dann die neue Lehre immer mehr in die Gesellschaft eingesickert sei:

„Die Erfahrung legt nahe, dass, wenn einmal diese Phase erreicht ist, es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis jene Ansichten, die jetzt von Intellektuellen vertreten werden, die vorherrschende Strömung in der Politik darstellen. … Was für den zeitgenössischen Beobachter wie ein Kampf miteinander ringender Interessen erscheint, ist in Wirklichkeit schon lange entschieden als ein Kampf der Ideen in kleinen Zirkeln.“42

Ein grundlegender Mentalitätswandel ist unerlässlich. Hayek stellt fest:

„… dass die wichtigste Veränderung, die weitreichende Regierungskontrolle produziert, eine psychologische Änderung, eine Wandlung im Charakter des Volkes darstellt. Das ist notwendigerweise ein langsamer Prozess, ein Vorgang, der sich nicht über ein paar Jahre erstreckt, sondern möglicherweise über eine oder zwei Generationen. … In dieser langen Sicht müssen wir unsere Aufgabe betrachten. Wir müssen uns mit den Meinungen befassen, die sich verbreiten müssen, wenn eine freie Gesellschaft erhalten oder wiederhergestellt werden soll, nicht mit dem, was im Augenblick durchführbar scheint.“43

Man weiß nun, was zu tun ist. Jedoch kommt der Zweite Weltkrieg dazwischen, und die Neoliberalen können sich einstweilen nicht treffen. Nachdem die Waffen verstummt sind, nimmt Friedrich August von Hayek den Faden wieder auf. Hayek ist ein prominenter Wirtschaftswissenschaftler der so genannten Österreichischen Schule. Diese Fraktion mag staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ganz und gar nicht. Mittelpunkt der Österreichischen Schule war Ludwig Edler von Mises. Der hatte in seinem Grundlagenwerk Die Gemeinwirtschaft im Jahre 1922 bereits die Planwirtschaft als nicht praktikabel verurteilt. In der Planwirtschaft werde die Möglichkeit vereitelt, durch freie Preisbildung zu erfahren, wie begehrt und marktfähig eine Ware eigentlich ist. Aufgrund dieser mangelnden Information produziere staatliche Intervention in das Marktgeschehen immer neue Engpässe, auf die der Staat mit erneuten Interventionen reagieren müsse. Staatliche Intervention produziere nur immer mehr Armut – ein Effekt der so genannten Interventionsspirale.

Die Österreichische oder auch Wiener Schule um von Mises war extrem einflussreich, weil zu Füßen des Edlen nicht nur Ökonomen, sondern auch Soziologen und Philosophen saßen: Wittgenstein, Popper, Frege oder auch Albert Einstein.

Hayek war bereits 1931 zur London School of Economics gewechselt und profilierte sich als Gegenspieler von John Maynard Keynes. Im Krieg hatte sich Hayek auf die Linie von Lippmann eingestimmt und in dem Buch The Road to Serfdom – zu Deutsch: Der Weg zur Knechtschaft – dargelegt, dass Faschismus und Nationalsozialismus konsequente Weiterentwicklungen des Sozialismus darstellten.

1947 findet Hayek einen schweizerischen Unternehmer, der ihm das Geld locker macht, um in dem Örtchen Mont Pèlerin in der Nähe des westschweizerischen Ortes Vevey eine Neuauflage des Pariser Treffens von 1938 zu veranstalten. Inspirator Walter Lippmann ist dieses Mal nicht anwesend. Aber Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow sind wieder dabei. Und viele neue Gesichter, zum Beispiel ein kleines Männchen mit Hornbrille – Milton Friedman. Oder ein gewisser Ludwig Erhard, damals noch schlank. Und neben diesem Alfred Müller-Armack. Und ein Weißhaariger mit stechendem Blick durch die Nickelbrille: Walter Eucken. Ein buntes Häuflein also.

Was verbindet diese Leute? Ganz einfach: die Abneigung gegen die Planwirtschaft. Die Planwirtschaft Hitlers und Görings war niedergerungen, ebenso der italienische Faschismus. Dafür breitete sich der Plankommunismus der Sowjetunion weltweit aus, und auch die europäischen Nationen kapitalistischer Prägung unterlagen in der Not der Nachkriegsjahre einer Art von Planwirtschaft, erzwungen durch die Mangelsituation. Das Häuflein Ökonomen auf dem Mont Pèlerin schaute herab auf eine Götterdämmerung des freien Marktes. Das schweißt zunächst einmal zusammen.

Heute sind in der Mont Pelerin Society 500 Wirtschaftsexperten versammelt. Im diskreten Kampf um die Vorherrschaft des Neoliberalismus durchdringen diese Ökonomen unzählige einflussreiche Institutionen weltweit. Aus den zaghaften Abwehrkämpfern gegen die Planwirtschaft ist heute eine angriffslustige Truppe geworden, die die Früchte ihrer zähen generationenübergreifenden Wühlarbeit genießen kann. Und sie hat im Vollzug von Walter Lippmanns Agenda „nichts Geringeres vor als die Umstellung der Menschheit auf eine neue Lebensweise.“

Beobachter des Neoliberalismus stellen fest, dass unter dieser Heilslehre sehr unterschiedliche Positionen versammelt sind. Ist das nun eine Schwäche oder ein Stärke des Neoliberalismus? Die einen sagen, der Neoliberalismus wird an seiner Inkonsistenz zu Grunde gehen. Die anderen sagen, alle Neoliberalen folgen ein und derselben Agenda und haben sich nur aus taktischen Gründen verschieden aufgestellt, nach dem Motto: getrennt marschieren, vereint schlagen.44

Es gab von Anfang an in der Geheimloge des Neoliberalismus, der Mont-Pèlerin-Gesellschaft, neben der gemeinsamen Abneigung gegen jede Form der Planwirtschaft doch auch ganz schwerwiegende Differenzen. Schauen wir uns mal die in letzter Zeit wieder öfter beschworenen Geister des deutschen „Ordoliberalismus“ an. Mit Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister hatten wir ja gleich von Anfang der Bundesrepublik an einen waschechten Neoliberalen ganz an der Spitze – und wir haben das über Jahrzehnte gar nicht bemerkt! Unter Erhard ging es den Arbeitern immer besser – viel mehr Lohn und am Samstag nicht mehr arbeiten. Die Renten und die Krankenversicherung baute „der Dicke mit der Zigarre“ aus. Und schwache Betriebe wurden mit Subventionen künstlich am Leben gehalten, um Arbeitsplätze zu retten. Und Mont-Pèlerin-Mitglied Alfred Müller-Armack hat Erhard als dessen Staatssekretär dabei tatkräftig unterstützt.

Die deutschen Mitglieder der ersten Generation in der Mont Pelerin Society unterschieden sich deutlich von ihren österreichischen und amerikanischen „Logenbrüdern“.

 

Da ist zum Beispiel Wilhelm Röpke. Röpke lehrte unter anderem in Marburg an der Lahn. Als die Nazis kamen, nahm der streitbare Röpke kein Blatt vor den Mund und besetzte dann lieber einen Lehrstuhl an der Universität Istanbul. Dort fühlte er sich allerdings nicht wohl, so dass er 1937 an das Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien überwechselte. Nach dem Krieg lehrte er dann wieder in Deutschland.

Röpkes Lehre ist in sich widersprüchlich. Er propagiert einen Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, einen „ökonomischen Humanismus“. Ganz im Sinne heutiger Globalisierungskritiker fordert Röpke eine dezentrale regionale Wirtschaftsform und hat in diesem Sinne auch gegen die europäische Einigung Stellung bezogen, die nach seiner Meinung von oben aufgepfropft würde, anstatt langsam von unten nach oben zusammen zu wachsen. Der weltmännische Liebhaber italienischer Sportwagen und ausgedehnter Fernreisen pries die idyllische Welt der Landwirtschaft, predigte christliche Nächstenliebe, während er gleichzeitig gegen Sozialhilfe stänkerte.

Röpke war 1960 als Nachfolger von Hayek zum Präsidenten der Mont-Pèlerin-Gesellschaft gewählt worden. Allerdings hatten die Intrigen durch die Marktradikalen um Friedman und Hayek gegen die soften Deutschen ein solches Maß angenommen, dass Röpke schon 1961 wütend den Vorsitz niederlegte und aus der neoliberalen Loge austrat. Damit überließ er den Marktradikalen kampflos das Feld.

Das war sicher nicht schön für seinen Mitstreiter Alexander Rüstow. Denn auch Rüstow unterschied sich in seinen Grundüberzeugungen wesentlich von seinen amerikanischen Mitstreitern. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er im Reichswirtschaftsministerium als Aufseher der Kartelle. Rüstow war schwer frustriert, weil er in seinem Kampf gegen die Kartelle so wenig Unterstützung durch die SPD erhielt. Trotzdem gilt er als der „Vater der Kartellverordnung“ von 1923. Und er lernte Lobbyisten hassen wie die Pest.

Angesichts der Sisyphusarbeit in der Behörde verdiente Rüstow von 1924 an sein Brot lieber als Geschäftsführer in einem Verband für Maschinenbau. 1932 wurde es brenzlig. Um Hitler und seine potenten Geldgeber aus der Wirtschaft von der Macht fernzuhalten, hatte General Kurt von Schleicher eine linke Koalition für eine alternative Regierung zusammengestellt. In der Kabinettsliste war Rüstow, der Kartellknacker, als Wirtschaftsminister vorgesehen. Von Schleicher wurde von den Nazis erschossen. Rüstow zog es vor, nach Istanbul an die dortige Universität zu wechseln. Mit seinem Leidensgenossen Röpke konnte er im türkischen Exil unter den Dämpfen der Wasserpfeifen über einen humanen Kapitalismus für die Zeit nach der Naziherrschaft diskutieren.

Die deutschen Neoliberalen der ersten Stunde waren definitiv aus einem anderen Holz geschnitzt als ihre amerikanischen Mitstreiter. Mit diesen hatten sie lediglich die richtige Erkenntnis gemeinsam, dass man wirtschaftliche Aktivitäten nicht durch Planwirtschaft auf dem Verordnungswege regulieren kann. Nichts jedoch lag Rüstow, Röpke, Erhard oder Müller-Armack ferner, als die deutsche Dreiteilung der Wirtschaft in privatwirtschaftliche, genossenschaftliche und öffentlich-rechtliche Säulen mutwillig zu zertrümmern.

Alexander Rüstow hat immer bedauert, kein Copyright für seine Namensschöpfung „Neoliberalismus“ angemeldet zu haben. Damit gehen jetzt Leute hausieren, die etwas völlig anderes im Sinn haben als der Namensgeber. Von Hayek hielt Rüstow nun gar nichts. So schrieb er an Röpke: Hayek und „sein Meister Mises gehören in Spiritus gesetzt ins Museum als eines der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe heraufbeschworen haben.“45 Und Röpke bekräftigte, Hayek und seine Mitstreiter seien „Paleo-Liberale“. „Paleos“ ist altgriechisch und bedeutet so viel wie: „urtümlich, extrem alt“. Also sozusagen: Saurier-Liberalismus. Nun haben aber die Saurier den Neoliberalismus an sich gerissen. Die Saurier haben den totalen Sieg davon getragen.

Von den guten alten Ordoliberalen deutscher Schule ist nichts übrig geblieben. Über den heutigen Zustand der Ordoliberalen oder der Freiburger Schule, wie man diese Fraktion auch nennt, urteilt ein angesehenes Wirtschaftslexikon: „Die Lehren der Freiburger Schule sehen sich heute weniger mit offenen Anfeindungen als vielmehr einer schleichenden Verdrängung oder vereinnahmenden Verharmlosung konfrontiert, die sie wissenschaftlich in den Bereich der Dogmengeschichte und politisch in den Bereich unverbindlicher Sonntagsreden zu verweisen droht.“46

Sturmtruppen für den Nackt-Kapitalismus: Friedman und Co.

Die deutschen Ordoliberalen waren integre Einzelkämpfer und keine taktisch aufeinander abgestimmte Mannschaft, die koordiniert angreift. Sie hatten keine konsistente Philosophie. Jeder Ordoliberale hatte sein ganz persönliches Flickwerk an Theorien ohne Anschlussfähigkeit zu anderen Ordoliberalen. Hinter ihnen stand keine starke Gemeinschaft von Geldgebern und Seilschaften.

Da spielen die amerikanisch-österreichischen Marktradikalen um Hayek und Friedman in einer ganz anderen Liga. Mit der London School of Economics in London und den zehn großen Privatuniversitäten in den USA fanden die Marktradikalen ein gut ausgebautes Netzwerk vor, auf dem sie sich mühelos ausbreiten konnten. Die Mannschaft der Marktradikalen mit ihren Flügelstürmern Hayek und Friedman wurde mit Sponsorengeldern nur so überschüttet. Allein der Unternehmer Richard Mellon Scaife hat für das konservative Rollback der Saurier und ihrer evangelikalen Bündnispartner 600 Millionen Dollar aus seiner Portokasse beigesteuert.47

Doch zunächst gab es einen empfindlichen Rückschlag für die Marktradikalen. Denn in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts besannen sich die Industriestaaten für eine gewisse Zeit auf den Keynesianismus. Nach zwölf Jahren innenpolitischer Abstinenz unter den Präsidenten Truman und Eisenhower geht der für den ermordeten Kennedy ins Amt gelangte Präsident Johnson daran, die Dinge fertig zu stellen, die von Roosevelts New Deal noch liegen geblieben waren: die Sanierung der Slums in den Großstädten; die Gleichberechtigung von Afroamerikanern und Juden – kurzum, die Integration der noch draußen Gebliebenen in die „Great Society“. Dafür wirft der Staat viel Geld in den Wirtschaftskreislauf. Die Neoliberalen um Milton Friedman scharen sich um Johnsons Herausforderer bei der Präsidentschaftswahl 1964, den rechtsradikalen Barry Goldwater. Und wie schon Roosevelt, so gewinnt auch Johnson in einem Erdrutschsieg. Was beweist, dass US-Präsidenten die besten Wahlergebnisse erzielen, wenn sie eine Politik für die Mehrheit der Bevölkerung machen.

In Deutschland muss der neoliberale Bundeskanzler Ludwig Erhard seinen Platz 1966 räumen, unter anderem weil zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Rezession eintritt, in deren Folge 600 000 Menschen arbeitslos werden, was damals – das mache man sich mal klar – zu großer Beunruhigung führte. Der neue Wirtschaftsminister Karl Schiller kurbelt die Konjunktur mit staatlichen Geldspritzen an, die der Finanzminister und CSU-Rechtsaußen Franz Josef Strauß mit großer Überzeugung bewilligt.

Während dessen wühlen und netzwerken die Marktradikalen unerschrocken weiter. Sie wissen ja, dass sie ihr Ziel vielleicht erst in ein oder zwei Generationen erreichen werden.

Ausgangspunkt ist, wir lernten es schon, die Universität. Denn wieder einmal ist Rockefellers Privatuni in Chicago Ausgangspunkt einer mächtigen Umwälzung. 1946 heuert Milton Friedman an der Rockefeller-Universität an. Friedman ist von Hause aus Monetarist. Er führt die meisten Krisen des Kapitalismus auf eine unsachgemäße Steuerung der Geldmengen durch die Zentralbanken zurück. Ansonsten predigt Friedman: die Wirtschaft funktioniert auch keinen Deut anders als die Natur. Die Natur reguliert sich selber und findet nach jeder Turbulenz von selber wieder ihr Gleichgewicht. Also: am besten gar nicht in das Gleichgewicht der Wirtschaft eingreifen. Dann regelt sich alles wieder von selbst. Und das bedeutet als Empfehlung an die Politik: nichts anderes machen, als das freie Spiel der Kräfte in der Wirtschaft unterstützen; das Eigentum und die Vertragssicherheit garantieren. Der Staat muss sich von allen Staatsbetrieben trennen. Der Staat darf die Wirtschaft nicht mit Finanzspritzen ankurbeln in Zeiten der Rezession. Der Staat darf extreme Einkommensungleichheiten in der Gesellschaft nicht abmildern. Denn all diese und andere staatliche Eingriffe machen das Leiden noch schlimmer.

Glaubt man den enthusiastischen Erzählungen seiner Mitstreiter und Jünger von der Chicago-Uni, so muss der kleine Mann eine elektrisierende Wirkung ausgeübt haben. Als er einmal eine E-Mail von Friedman erhalten habe – so erzählt einer seiner Jünger – habe er sich gefühlt wie Moses auf dem Berg, als Gott ihm über die Schulter gestrichen habe. Friedman versteht es, seine simplen Weisheiten in populären Büchern und Fernsehsendungen den Menschen draußen im Lande schmackhaft zu machen.

Das generationenübergreifende Projekt des Marktradikalismus, von dem Hayek schon gesprochen hat, spult sich mit planmäßiger Genauigkeit von der Universität Chicago und der Mont-Pèlerin-Gesellschaft aus ab: Man muss zunächst in einer überschaubaren nationalen Wirtschaft empirisch testen, ob Friedmans Nackt-Kapitalismus wirklich funktioniert, oder ob man noch ein wenig daran feilen muss. Um sodann das marktradikale Modell weltweit durchzusetzen.

Als Versuchskaninchen sind die Bürger des lateinamerikanischen Staates Chile ausgewählt worden. In aller Ruhe werden an der Universität Chicago in den Fünfziger- und Sechzigerjahren chilenische Nachwuchsökonomen ausgebildet. Die Katholische Universität von Santiago de Chile fungiert als Partneruniversität, wo die marktradikalen Kader sich durch weitere Studenten multiplizieren. Der Putsch am 11. September 1973 wird allgemein als geostrategische Eindämmung gegen einen Linksruck Lateinamerikas interpretiert. Das mag richtig sein. Viel wichtiger ist aber, dass die Diktatur unter General Pinochet das Volk der Chilenen stillhält, um ungestört ein marktradikales Laborexperiment durchzuführen. Eine brutale Vergewaltigung und Demütigung.

Es wird in der Pinochet-Ära weit über jede Schmerzgrenze hinaus privatisiert. Die Schutzzölle, mit denen die Chilenen sich unabhängig machen wollten von der Dominanz der nördlichen Industriestaaten, werden auf ein Minimum heruntergefahren. Ein Fall von Zwangs-Globalisierung. Das auf dem deutschen Prinzip der Umlagefinanzierung basierende Rentensystem wird auf Kapitaldeckung umgestellt, um dem internationalen Finanzkapital neues Risikogeld zuzuführen.

Milton Friedman jubelt: eine faschistische Junta lässt Freihandel zu! Und er besucht Pinochet. Auch Hayek besucht den General. Eine Regionaltagung der Mont Pelerin Society findet in Pinochets Chile statt, und Hayek sagt dort:

„Eine freie Gesellschaft benötigt eine bestimmte Moral, die sich letztlich auf die Erhaltung des Lebens beschränkt: nicht auf die Erhaltung allen Lebens, denn es könnte notwendig werden, das eine oder andere Leben zu opfern zugunsten der Rettung einer größeren Anzahl anderen Lebens. Die einzig gültigen moralischen Maßstäbe für die ‚Kalkulation des Lebens‘ können daher nur sein: das Privateigentum und der Vertrag.“48

Nachdem die Marktradikalen ihre Experimente an lebenden wehrlosen Opfern gemacht haben, stellt man fest: die angerichteten Verwüstungen führen nicht automatisch zum vollständigen Exitus der nationalen Wirtschaft. Nun werden die Versuche in Großbritannien durch Maggie Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan durchgezogen – mit den allseits bekannten Ergebnissen.

Nur Deutschland erweist sich nach wie vor als harte Nuss für die Marktradikalen. Zu stark sind in Deutschland die genossenschaftlichen und öffentlich-rechtlichen Strukturen. Wir haben aber schon im vorherigen Kapitel gesehen, wie die Marktradikalen die gewachsenen Strukturen der Solidarität infiltrieren, um durch geplanten Missbrauch diese Einrichtungen in den Ruin zu treiben.

Transatlantische Netzwerke und marktradikale Seilschaften sind nicht hundertprozentig identisch. Die keynesianische Episode in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurde von den transatlantischen Netzwerken durchaus mitgetragen und nach außen hin vertreten. Augenblicklich finden wir aber eine beinahe hundertprozentige Übereinstimmung von Neoliberalen und Transatlantikern vor. Nur der Wirtschaftsnobelpreisträger und Princeton-Ökonom Paul Krugman hält zu Keynes und ist trotzdem in David Rockefellers Lobbyzirkel „Group of Thirty“ vertreten.

 

Nachdem wir nun gesehen haben, wie unterschiedlich angloamerikanische und kontinentaleuropäische Demokratien funktionieren, beleuchten wir im nächsten Kapitel die gleichermaßen elitären wie diskreten Netzwerke angloamerikanischer Governance.

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