... und die Geist lachte

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Wir kommen heim. Ich übergebe meiner Frau in Windeseile meine Tochter.

„Nimm du sie“, rufe ich ihr zu, „Ich weiss jetzt, wie die Predigt weitergehen muss. Ich muss jetzt ganz rasch an die Schreibmaschine, bevor ich es wieder vergesse.“

Meine Frau wundert sich nicht über mein Verhalten. Sie kennt solche Momente.

Mit innerlichem Jauchzen, an dem die Geist Gottes gewiss ihre Freude hat, vielleicht sogar beteiligt ist, mit einem Lächeln übers ganze Gesicht hetze ich die Treppe zu meinem Arbeitszimmer hinauf, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich decke die Schreibmaschine ab, reibe mir die Hände, ein verhaltenes „Juhui!“ ausstossend. Dann haue ich in die Tasten, überwinde mühelos die vorhin noch so unüberwindlich scheinende Klippe, die Stelle, an der ich nicht weiter wusste. Und vollende danach die Predigt innert kürzester Zeit.

Meine Hochstimmung hält danach noch an. Mit Frau und Kind herze und scherze ich an diesem Abend, als ob sie schuld daran wären, dass die Predigt nun steht. Und am Sonntag, angesichts der anerkennenden und dankbaren Rückmeldungen vieler Gemeindeglieder, steigt meine Hochstimmung noch einmal. Es ist ein grosses Lachen und eine grosse Freude in mir.

Jetzt wird vielleicht manch aufgeklärter und informierter Mensch den Drang verspüren, mir auszureden, dass es sich bei diesem wie bei manchem ähnlichen Ereignis in meinem Leben um eine Erwirkung der Heiligen Geist gehandelt habe. Das sei natürlich unzutreffend! Vielmehr verhalte es sich so, dass mir mein Gehirn einfach sozusagen zuvor gekommen sei. Es habe sich nämlich unentwegt weiter mit der Predigt beschäftigt und so unter Umgehung meines Bewusstseins die Lösung gefunden.

Tja, ich weiss nicht. War es nicht vielmehr so, dass mein Hirn im oben geschilderten Falle voll und ganz mit einer ganz anderen seiner Funktionen beschäftigt gewesen ist, der vielleicht wichtigsten? Nämlich mit der Funktion, mich vor Irrsinn zu bewahren?! Im Klartext: Mit der Funktion, alle überflüssigen Reize wegzufiltern, die ich auf meinem Spaziergang mit Töchterchen Judith nicht gebrauchen konnte und die mich nur abgelenkt und verwirrt hätten?! Nichts wäre ja auf jenem Spaziergang so störend und überflüssig gewesen wie Gedanken an meine Predigt. Nichts hat also mein Gehirn so dringend wegfiltern müssen wie solche Gedanken. Zumal mein Töchterchen meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog und ich ihm diese auch widmen wollte, nicht zuletzt, weil diese „Fesselung“ meiner Aufmerksamkeit mir wohl tat und somit hochwillkommen war! Also doch die Heilige Geist auf diesem Spaziergang?

Meine Antwort lautet: Ja.

Das lasse ich mal so stehen.

2 VERTAUSCHTE ROLLEN

Es hat den jungen Pfarrer unglaublich viel Überwindung gekostet, sich aufzuraffen und sich auf den Weg zu dem am äussersten Rande des Dorfes, schon bereits ein Stück weit im Wald gelegenen Haus der alten Frau Trummer zu machen. Er hat sich sozusagen selbst am Hemdskragen nehmen und sich dorthin zerren müssen. Dies nicht etwa des langen Weges wegen (er ist ein passionierter Velofahrer, dem eine Strecke von dieser Länge nicht imponieren kann) und schon gar nicht, weil ihm die alte Frau etwa unsympathisch oder gar zuwider wäre. Im Gegenteil, er besucht sie an sich sehr gern. Er mag sie.

Nein, eine heftige Depression, die ihn seit Monaten bis fast an den Boden niederdrückt, lähmt ihn und verursacht sein Unvermögen, seiner Arbeit so nachzugehen, wie er es gern täte. Er muss für alles, was er zu tun hat, die letzten Willensreserven aufbieten, was ihn unsäglich viel Kraft kostet.

Aber nun ist er da und Frau Trummer sitzt ihm in ihrem etwas altväterlich möblierten, etwas überstellten Wohnzimmer gegenüber. Sie ist eine schlanke, fast hagere, etwas herbe Altersschönheit, eine kühl und emotionslos wirkende, nüchtern denkende Person, die der Pfarrer aber sehr schätzt, weil sie gerade heraus ist ohne zu verletzen – und weil sie unverstellt die ist, die sie ist.

Vor etwas mehr als anderthalb Jahren sind sie an diesem Tisch, in diesem Raum noch zu Dritt gesessen. Der nicht immer ganz einfach zu nehmende Herr Trummer ist noch dabei gewesen, ein Original, der sich dem Pfarrer bei dessen erstem Besuch, einem Routinebesuch, um Trummers kennen zu lernen, als „Agnostiker, wenn nicht gar Atheist und auf alle Fälle Kirchenkritiker“ vorgestellt, dann aber, als der Pfarrer sich nach dem Besuch mit einem „Adjö“ hatte verabschieden wollen, heftig insistiert und einen „geistlichen Schluss“ verlangt hatte – mit Gebet und Lesung eines „hoffentlich gut gewählten Bibelspruches“. Dies mit der Begründung, wenn denn der Pfarrer schon einen Besuch machen komme, solle er seine Arbeit auch „anständig“ und „so, wie es sich gehört“ machen, denn das dürfe man doch wohl von ihm erwarten und verlangen, auch wenn man Atheist sei, dafür bezahle man „Pfärrer“ schliesslich – und wenn dies nicht mehr gewährleistet sei, dann wisse er vollends nicht mehr, warum er noch nicht zur Kirche ausgetreten sei. Nach dieser ersten Begegnung hatte sich dann nach und nach eine von gegenseitigem Respekt getragene Beziehung zwischen den beiden so verschiedenen Männern entwickelt, dem Pfarrer und dem Glaubensfernen, der sich immer auf den Besuch des Pfarrers und die sich dabei ergebenden interessanten Gespräche und Auseinandersetzungen trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen gefreut, und bezüglich der Schlussgestaltung der Besuche stets darauf bestanden hatte, dass der Pfarrer seine Arbeit „anständig und wie es sich gehört“ mache.

Vor diesen etwas mehr als anderthalb Jahren ist Herr Trummer noch einer gewesen, von dem es in Bayern, wo man kräftig gebaute, wuchtig wirkende Menschen ein „Trumm“ nennt, geheissen hätte, er mache seinem Namen alle Ehre. Kein Mensch hätte ahnen können, dass eine kurze Zeit später (und zu spät) erkanntes Krebsleiden diesen Baum innerhalb eines halben Jahres würde fällen können.

Heute ist sein erster Todestag. Darum ist der Pfarrer zu seiner Witwe gekommen. Frau Trummer sagt dem Pfarrer, der sie nun schon seit einem halben Jahr nicht mehr aufgesucht hat, auf dessen Anfrage hin in ihrer emotionslosen Art, dass sie ihren Mann vermisse, obschon ja dieser, wie der Pfarrer ja wisse, nicht immer ganz einfach gewesen sei. Aber sie sei es ja auch nicht. Und viel gefühlsmässige Liebe habe ihr Mann ja von ihr auch nicht gerade bekommen. Der Pfarrer wisse ja auch das, dass sie ihre Gefühle nicht gut zeigen könne, auch nicht gern darüber rede. Aber sie habe ihn eben doch gemocht, ihren „Lexu“ (Koseform von Alexander). Dessen schnelles Sterben, das gehe ihr doch immer noch sehr nahe; das habe er auch nicht verdient gehabt, so schnell gehen zu müssen auf Nimmerwiedersehen. Man habe es eigentlich – „nehmt alles nur in allem“ –. noch recht gut gehabt miteinander. Man habe zueinander geschaut. Man habe einander ergänzt. Man habe sich aneinander gerieben, sei aber dabei immer miteinander auf dem Weg geblieben. Man habe sich miteinander auseinander gesetzt und immer wieder zueinander gefunden. Man sei recht gegensätzlich gewesen, aber dennoch unzertrennlich. Das alles fehle ihr jetzt. Obschon sie im Übrigen ganz gut zurecht komme ohne den Mann. Und, nein, einsam fühle sie sich nicht, sie habe ja liebe Kinder, treue Freundinnen, die alle recht gut zu ihr schauen, auch singe sie, wie der Pfarrer ja wisse, im Frauenchor mit, sei in die Gemeinschaft dieser „Sing-Kameradinnen“ eingebunden. Aber irgendwie sei sie gleichwohl „nur noch halb“, wenn er wisse, was sie damit sagen wolle. Und dieser Tag heute, der erste Todestag, der sei schon noch irgendwie belastend; sie empfinde so eine eigenartige Leere, obschon sie doch sonst, wie gesagt, ihre Tage zu füllen und ihr Leben zu leben wisse.

Nun macht Frau Trummer eine abwehrende Handbewegung, als wolle sie jene trüben Gedanken wegwischen, um zu verhindern, dass diese sie am Ende doch noch zu Gefühlsausbrüchen bewegen. Was ihr peinlich wäre.

Sie bietet dem Pfarrer Kaffee und „Güetzi“ (Kekse) an. Den Kaffee nimmt dieser gern, die „Güetzi“ nicht, denn Essen ist ihm zuwider; wie alles, im Moment; die Depression raubt ihm neben der Lebenslust auch den Appetit.

„Genug von mir geredet, Herr Pfarrer!“, befindet Frau Trummer.

„Wie geht es eigentlich Ihnen?“

„Och, eigentlich ja gut, wenn nur die liebe Seele nicht manchmal so spinnen würde“, versucht der Pfarrer zu scherzen. Und merkt im gleichen Moment, wie lahm dieser Scherz ist und wie kraft- und witzlos. Aber er ist schliesslich als Seelsorger gekommen und will nicht Frau Trummer mit seinen Problemen belasten. Er kann doch nicht sich selbst und seine gegenwärtige Situation zum Thema machen. Das wäre ja unprofessionell und hiesse ja, Frau Trummer geradezu zu missbrauchen.

Aber er kann nicht verhindern, dass Frau Trummer ihn behutsam in ein Gespräch hineinzieht, in dem zunehmend sie die Seelsorgerin ist und ihn bewegt, seine Probleme auszusprechen.

Zunächst bemerkt er gar nicht, was da abläuft, so getrübt ist sein Blick und so zuvorderst sind ihm seine Gedanken zu seinem Gemütszustand. Als er es aber dann doch bemerkt, blockt er ab. Er entschuldigt sich bei Frau Trummer. Das sei jetzt nicht recht, sie auch noch mit seinen Problemen zu belasten, schliesslich habe sie selber deren genug, erklärt er tieftraurig. Er fühlt sich als fertiger Versager.

„Das ist schon in Ordnung“, sagt Frau Trummer nach kurzem Überlegen, er müsse sich nicht entschuldigen, „schliesslich habe ja ich verursacht, dass unser Gespräch in diese Richtung gelaufen ist!“

„Ja, aber ich bin doch der Seelsorger“, sagt der Pfarrer matt.

Ohne zu zögern, geistesgegenwärtig, erwidert Frau Trummer: „Ja. Und? Jetzt haben wir halt für einmal die Rollen getauscht. Wo ist das Problem? Sind wir nicht Brüder und Schwestern, die sich umeinander kümmern sollen? So heisst es doch immer, oder? So fromme Sprüche gehen mir zwar nur schwer über die Lippen. Aber wenn wir das mit dem Christsein auch nur ein bisschen ernst nehmen, dann müssen wir doch so handeln. Muss denn immer nur der Pfarrer der Gemeinde etwas geben? Wäre das christlich? Darf es nicht auch umgekehrt sein? Jetzt bin halt einmal ich Ihre Seelsorgerin gewesen. Beim nächsten Besuch sind dann vielleicht wieder Sie so gut „z’wäg“ (zu Wege = gut drauf), dass wieder Sie mein Seelsorger sein können. Oder dass wir einfach sonst miteinander reden. Auf Augenhöhe. Partnerschaftlich. Gefällt mir übrigens besser als das fromme ‚als Bruder und Schwester’.“

 

Leidenschaftslos und sachlich tönt das. Typisch Frau Trummer. Und ist doch nicht ohne Wärme gesagt.

Aber ig by haut glych zaut derfür.“ (Aber ich werde halt gleichwohl dafür bezahlt), bewegt sein schlechtes Gewissen, sein Gefühl, hier versagt zu haben, den Pfarrer kraftlos zu erwidern, und darum müsse er doch …

Herr Pfarrer, gäuitt, daisch jitz aber nid Öich gsy, wo das gseet het?! (Herr Pfarrer, nicht wahr, das sind aber jetzt nicht Sie gewesen, der das gesagt hat?!)“, tadelt Frau Trummer ihn leise, eine solch materialistische Äusserung sei doch sonst nicht sein Ding; das sei ihr fremd an ihm.

Nun muss der Pfarrer doch auch ein bisschen, wenn auch matt, lächeln, trotz der Betrübnis, die ihn ausfüllt.

„Naja, vielleicht sollte ich mich irgendwie für Ihren Dienst an mir erkenntlich zeigen“, druckst er.

Plötzlich ist ein ganz ungewohntes lausbübisches, verschmitztes Lächeln in Frau Trummers herbschönem Gesicht. Und wie aus der Pistole geschossen kommt ihre Replik: Sie setzt ganz bewusst einen Satz ein, um quasi den Pfarrer zu „entwaffnen“, einen Satz, der ihr gerade spontan in den Sinn gekommen ist, einen Satz, den sie aus des Pfarrers Mund etwa einmal gehört hat, wenn sie ihn gefragt hat, ob sie ihm nicht für seine treue Begleitung während des Krankenlagers ihres Mannes einmal etwas „z’lieb“ (zuliebe) tun könne, den Satz nämlich: „Tun Sie’s in die Kollekte!“

Unwillkürlich entfährt dem Pfarrer ein spontaner, kurzer, verhaltener Lacher. Und als Frau Trummer daraufhin in lautes Lachen ausbricht (so hat sie der Pfarrer noch nie erlebt!), lacht auch er kräftiger, befreiter.

Für den Moment fühlt er sich leicht und geborgen. Nicht mehr von Gott und dessen guter, heiliger Geist verlassen.

Freilich: Dieser Zustand hält nicht an. Schon kurz nach dem Abschied von Frau Trummer, bei seiner Heimkehr, als auch die Heimfahrt mit dem Velo ihre therapeutische Wirkung langsam wieder verliert, beginnt das trübe Gewölk der Depression, zäh und giftfarben, den Pfarrer wieder auszufüllen. Erst Monate später wird er, plötzlich, unversehens, aus seiner Depression auftauchen in die grosse Erleichterung wie in ein heimeliges, wärmendes Licht, und seine Depression wird so unvermittelt gegangen sein, wie sie vor Monaten gekommen war.

Er wird sich immer dessen bewusst bleiben, dass nicht zuletzt der „Rollentausch“ mit Menschen, in denen die Geist Gottes gegenwärtig war, ihm in seinem Pfarrerleben oft geholfen hat: Der „Rollentausch“ mit Menschen wie Frau Trummer.

3 NEIN!

Sie ist eine tüchtige Kraft. Ihre Kollegen schätzen ihren Teamgeist, ihren Humor, ihre Menschlichkeit, ihre Zuverlässigkeit: Was sie zusagt, führt sie aus und hält sie ein; man schätzt auch ihre Hilfsbereitschaft. Niemand denkt daran, dass diese in einer Selbstunsicherheit begründet sein könnte. Dass sie etwa meinen könnte, Anerkennung und Liebe gewinne man nur, wenn man jederzeit als „Chummerz’hiuf“ (Komm-mir-zu-Hilfe) zur Verfügung stehe. Jedermann lobt ihre Hilfsbereitschaft und verlässt sich auf sie – und niemand fragt sich, ob er damit, dass er sich in „schöner Selbstverständlichkeit“ auf sie verlasse, sie nicht in Tat und Wahrheit ausnütze. Und damit dazu beitrage, dass sie sich irgendwann an ihrer Hilfsbereitschaft übernehmen, „überlüpfen“ werde.

Manchmal ärgert sie sich über die eigene Kollegialität und Hilfsbereitschaft. Warum immer ich? Warum fragen alle immer nur mich um Hilfe? Manchmal fühlt sie sich eingeengt, gefangen in all den ihr auf diese Weise zugewachsenen Aufgaben, die sie ja eigentlich gar nicht übernehmen müsste. Manchmal sehnt sie sich nach mehr weitem Raum um sich her, nach Luft zum Atmen. Aber dann lässt sie sich doch wieder auf Hilfsbegehren ein, lässt sich belasten. Es „geht“ ja dann doch auch immer wieder.

Es muss ja gehen. Also geht es.

Der Chef schätzt ihre Kompetenz, ihren Einsatz, ihre Teamfähigkeit. Immer „liegt sie im Strick“ (setzt sich voll ein). Immer ist sie bereit, Zusatzaufgaben zu übernehmen, auch Ehren- und Nebenämter im Betrieb. Wenn niemand es machen will, sie macht es. Nicht immer begeistert, gewiss, meist traut sie sich’s ja auch nicht zu, aber einer müsse es ja schliesslich machen, pflegt sie sich zu sagen. Also macht sie es. Das anerkennt der Chef. Sehr! Manchmal ist er aber auch besorgt deswegen. Betreibt sie nicht Raubbau mit ihrer körperlichen und seelischen Kraft? Müsste sie sich nicht mehr Ruhe und Entspannung gönnen? Aber ein wenig denkt er dabei auch an sich und seinen Betrieb! Denn: Wird nicht auf Dauer ihre Leistung abnehmen, werden nicht auf Dauer ihre Arbeitsergebnisse schlechter werden, wenn sie sich immer so verausgabt? Aber das sagt er ihr nicht. Es ist für ihn bequemer, wenn er es nicht sagt. Wenn sich seine Befürchtungen erfüllen würden, wenn ihre Leistung abnähme, ihre Arbeitsergebnisse schlechter würden, dann würde er es ihr wohl sagen. Aber vorerst nicht. Er profitiert ja von ihrem Einsatz. Ihr gegenüber nennt er ihn „unermüdlich“. Oft nennt er sie „unermüdlich“. Manchmal freilich – was er ihr nicht gesagt, was man ihr aber überbracht hat – argwöhnt er hingegen auch, dass sie möglicherweise doch weniger kompetent sein könnte als es den Anschein hat, dass sie vielleicht mit Hilfe ihres Einsatzes über Kompetenzdefizite hinwegtäusche.

Unermüdlich, manchmal gesteht sie es sich ein, ist falsch! Sie ist nicht unermüdlich. Sie fühlt sich oft müde und ausgebrannt. Aber sie beisst sich durch. Es muss ja gehen. Also geht es.

Daheim schaut sie zu ihrer Mutter. Diese nennt sie „eine gute Tochter“. Manchmal betont sie sogar, dass sie „besser herausgekommen“ (besser geraten) sei als die anderen Kinder, die leider oft egoistisch seien und leider auch vergessen hätten, was sie, die Mutter, für sie geleistet habe. Diese Tochter sei eben vom Geist der Eltern, genauer: von Jesu Christi Geist, dem Geist der Liebe und der Opferbereitschaft, erfasst. Sie sei eine liebe Tochter, wie Gott sie haben wolle. Eine von der Sorte, die Gott besonders liebe.

Das hat die Tochter von ihren Eltern oft zu hören bekommen: Gott liebt die lieben Kinder; die Bösen aber straft er. Mindestens mit Nichtbeachtung. Also Liebesentzug.

Die Tochter hat im Elternhaus auch Demut gelernt. Nur ja nicht hochmütig werden! Nur ja nicht zu früh mit sich zufrieden sein! Sich immer bewusst sein, dass es gewiss andere gibt, die besser sind als man selbst, deren Können und Leistungen besser sind als die eigene. Sich immer bewusst sein, dass auch man selber, wenn man sich nur genügend Mühe gibt, immer besser werden kann. Und muss! Sich nur ja nicht über eine schöne eigene Leistung freuen. Denn das macht hochmütig. Das macht bequem. Und träge. Und – eben! – nur ja nicht vor lauter Freude vergessen, dass es keine Leistung gibt, die so gut ist, dass man sie nicht noch verbessern, übertreffen könnte.

Ja, das hat diese Tochter begriffen. Darum ist sie eine gute Tochter. Eine von Gott und der Mutter geliebte Tochter. Sie hat den rechten Geist. Man kann stolz sein auf sie.

Die Tochter wäre oft gern allein, am Abend, wenn sie todmüde heimkommt. Nach Überstunden. Von Sitzungen, an denen sie ehrenamtlich teilgenommen hat. Manchmal sehnt sie sich schon danach, zusammen mit Freundinnen in den Ausgang zu gehen. Aber sie hat keine Freundinnen. Sie hat nur Arbeitskolleginnen. Die sie sehr schätzen! Was man sich erhalten muss! Da muss man sich anstrengen! Sie hätte gern einen Freund. Sie war schon oft verliebt. Aber gestanden hat sie es keinem. Sie läge gern abends in den Armen eines Mannes. Sie würde sich gern liebkosen lassen, sich gern liebe Worte sagen lassen. Sie sehnt sich sehr nach Sex. Nach ihren anerzogenen Massstäben geradezu unanständig! Sie ist mit Masturbation nicht zufrieden; sie ist mit sich selbst nicht zufrieden, wenn sie es tut; sie findet sich dann unbeherrscht und unsauber. „Es“ wäre von ihr aus gesehen besser mit einem Mann, einem Ehemann natürlich. Aber da ist die Mutter. Um die muss sie sich kümmern. Es wäre nicht recht vor Gott und würde diesen traurig oder gar zornig machen, wenn sie es nicht täte. Es muss ja nun einmal sein, dass sie das macht. Wer denn sonst täte es? Die Geschwister haben Kinder und schliesslich auch viel zu tun, leben weit entfernt. Also macht sie es. Die Mutter, die Geschwister, sie lieben sie dafür. Es geht schon.

Es muss ja gehen. Also geht es.

Ihre Leistungen schätzt sie nicht sehr hoch ein. Mit diesen Leistungen genügt sie nicht, dessen ist sie sicher. Sie ist auch nie sicher, ob sie die Leistung, die man von ihr erwartet, wird erbringen können. Versagensängste sind zwar nicht ihr tägliches, aber doch ein ihr wohlbekanntes „Brot“. Und hat sie eine Leistung erbracht, für die der Chef sie lobt, die Kolleginnen und Kollegen sie bewundern („Mein Gott, wie peinlich mir das ist!“, ist dann meist ihr Gedanke), so kann sie sich nicht daran freuen. Denn wenn man sich zu sehr daran freut, dann hebt man ab und bringt beim nächsten Mal die Leistung nicht! Oder dann wird man hochmütig und dafür von Gott mit Scheitern bestraft. Und vielleicht geht ohnehin beim nächsten Mal alles schief, was bis jetzt unerwarteter und wundersamer Weise gut gegangen ist. Und wenn man die Leistung nicht erbringt, dann verliert man die Anerkennung. Die des Chefs. Die der Kolleginnen und Kollegen. Und wohl auch die Gottes. Und wenn man nicht jederzeit einsatz- und hilfsbereit ist, dann muss man mit Liebesentzug rechnen. Liebesentzug des Chefs, der Kolleginnen, der Kollegen – und sicher auch Gottes. Davor fürchtet sie sich. Trotz dieser Furcht, jenu: Es geht schon.

Es muss ja gehen. Also geht es.

An diesem Tag lässt der Chef sie nicht zu sich bestellen, sondern sucht sie an ihrem Arbeitsplatz auf. Es gebe da eine relativ heikle Sache zu erledigen. Er erklärt diese kurz. Da müsse ein Mitarbeiter hin. Unbedingt. Und ihm komme wieder einmal niemand sonst in den Sinn als sie.

„Oh“, sagt sie, „das kann ich doch nicht! Da wäre ich überfordert.“

„Ach“, erwidert der Chef lächelnd, „das sagen Sie jedes Mal. Sie betreiben understatement. Oder trauen sich tatsächlich zu wenig zu. Das müssen Sie nicht. Sie sind eine gute Kraft!“

Da hört sie sich fragen: „Warum fragen Sie eigentlich immer mich?“ Sie erschrickt über ihre eigenen Worte. „Unbotmässigkeit!“, dieses Wort geht ihr geradezu schneidend durch den Kopf. Der Chef lächelt und dann kommt ihm ein Satz über die Lippen, den er eigentlich gar nicht hat sagen wollen: „Man muss halt immer die Dummen fragen, die nicht Nein sagen können.“ Kaum sind die Worte heraus, erschrickt er über sie und bedauert er sie. „Entschuldigung“, schiebt er rasch nach, „das sollte ein Scherz sein. Ein Witz! Es war ein sehr schlechter Witz.“

Sie lächelt und sagt ohne die geringste Hemmung und ohne verlegen zu werden – sein Bekenntnis, es sei ein schlechter Witz gewesen und seine Entschuldigung dafür geben ihr die Kraft dazu – sagt sie: „Das von wegen, man müsse immer die Dummen fragen, habe ich dann jetzt sehr gut gehört, Herr Doktor G. Und darum: Nein!“ Sie fühlt sich merkwürdig erleichtert.

„Liebe Frau …“, versucht der Chef noch einmal.

Aber „Nein“, sagt sie, „es bleibt beim Nein!“

Der Chef lacht kurz laut auf.

„Gut gekontert!“, grinst er dann. Und lacht nochmals laut vor sich hin. Dann sagt er: „Also gut. Muss ich mir halt jemand anderen suchen. Sie haben ja Recht, mein Gott!“ Er berührt leicht ihre Schulter und begibt sich wieder in sein Büro zurück. An der Tür dreht er sich nochmals um, hebt grüssend die Hand, schüttelt lachend den Kopf: „Einen schönen Feierabend wünsche ich Ihnen“, sagt er, lacht nochmals auf und verschwindet in seinem Büro.

Sie ist ungeheuer erleichtert. Dass sie sich eine Zusatzaufgabe hat vom Leibe halten können, das ist eine befreiende Erfahrung und tut ihr gut. Dass sie nicht mit Anerkennungs- und Liebesentzug bestraft wurde, freut sie. Und sie weiss, dass sie richtig geantwortet hat, endlich einmal richtig, so, wie es ihren Empfindungen und Bedürfnissen entspricht. Wenn sie mit Liebesentzug bestraft worden wäre, hätte sie dann jetzt wohl Angst? Sie vermutet eher nicht, sie wäre dennoch erleichtert. Dass sie nicht mit Liebes- und Anerkennungsentzug bestraft wurde, sagt ihr, dass der Chef sie wirklich schätzt. Vielleicht, weil sie beruflich besser ist als sie selbst glaubt? Sie summt eine Melodie vor sich hin, als sie am Abend ihre Wohnung betritt. Und merkt es nicht einmal. Die Mutter spricht sie darauf an. Und sie berichtet der Mutter das Vorgefallene.

 

Die Mutter fällt aus allen Wolken: „Kind, wie konntest du das tun? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“

„Nein“, sagt die Tochter, „ich habe eher das Gefühl, die bösen Geister haben mich verlassen, hoffentlich für immer. Und jetzt erst – erst jetzt! –, Mutter, bin ich wirklich auf der Wellenlänge der Geist Gottes, die Menschen nicht schindet und treibt, sondern die eine Geist der Freiheit ist. Und des Lachens!“

Die Mutter staunt mit offenem Mund.

„Hoffentlich ist das nicht bloss ein kurzes euphorisches Strohfeuer, was ich jetzt erlebe“, denkt die Tochter, „die Welt sieht auf einmal so heiter aus, hoffentlich folgt dem nicht etwas Dunkles, ein Absturz, auf dem Fusse.“

Aber trotzig sagt sie dagegen an: „Stopp!“ Das nennt man Gedankenstopp, ein autosuggestives Gegenmittel gegen negative Gedanken. Das hat sie in einem Buch gelesen. Es ging darin um Biblisch-Therapeutische Seelsorgeausbildung.

„Ich sollte einmal etwas für mich tun“, denkt sie und nimmt sich vor, sich einmal einen Kurs zu gönnen, der ihr gut tun wird, dessen Besuch keinen anderen Zweck haben soll als eben diesen.

Als sie sich wieder ihrer Mutter zuwendet, lacht sie ein, wie ihr scheint, Geistes gegenwärtiges Lachen, das sogar auf die überraschte Mutter ansteckend wirkt.

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