Rachemokka

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kapitel 2

Dienstag, 29. Juni, abends

Leopolds Lebensgefährtin Erika Haller konnte zufrieden sein. Ihr neues Buch- und Papiergeschäft, das sie vor kurzer Zeit von Herrn Lederer übernommen hatte, lief besser, als sie es erwartet hatte. Thomas Korber hatte sie zu dem Wechsel überredet, und seine Einschätzung der Lage hatte sich als richtig erwiesen. Sie profitierte von der Nähe des Gymnasiums, des Bahnhofs und dem großen Einzugsgebiet, und wenn sie die Ärmel aufkrempelte, konnte sie hier noch viel erreichen.

Natürlich gab es gerade am Anfang viel Stress und Überstunden, aber die Gewissheit, dass sie auf dem richtigen Weg war, beflügelte Erika. Ständig kamen ihr neue Ideen, wie sie das Geschäftslokal attraktiv gestalten und einen zufriedenstellenden Umsatz erzielen konnte. Nach getaner Arbeit machte sie dann einen Sprung ins Café Heller, das in unmittelbarer Nähe lag. Anfangs freute sich Leopold noch über ihre Besuche, doch als er merkte, dass sie zur ständigen Einrichtung werden sollten, schwand seine Begeisterung rasch. Das Kaffeehaus war seine Arbeitsstätte, wo er seine Ruhe haben wollte, für das Familienleben gab es die gemeinsame Wohnung im Bezirksteil Jedlesee. Er hatte aber keine Chance. Erika und Frau Heller waren dicke Freundinnen geworden, duzten einander, hatten sich für gewöhnlich eine Menge zu erzählen und ließen sich durch seinen Grant nicht dabei stören.

Auch jetzt kam Erika wieder aufgekratzt zur Tür herein und drückte Leopold mit einem herzlichen »Guten Abend, Schnucki!« einen Kuss auf die Wange.

»Bist du heute wieder gut drauf«, bemerkte er irritiert.

»Sogar außergewöhnlich gut«, teilte sie ihm mit. »Die Geschäfte gehen hervorragend, Schnucki! Die Leute werden auf mich aufmerksam. Es gibt richtig viel zu tun. Ich denke, ich werde das mit einem Glas Prosecco feiern. Trinkst du auch eines, Sidonie?«

»Aber selbstverständlich«, antwortete Frau Heller gut gelaunt. »Es freut mich, dass dein neuer Laden so wunderbar anläuft.« Leopold füllte zwei Gläser mit der prickelnden Flüssigkeit. Indessen wandte sich die Chefin vertraulich an Erika Haller: »Wer weiß, vielleicht wird alles bald noch besser, wenn es mit dem Eichendorff-Projekt ernst wird.«

»Ich habe mir dazu schon einiges überlegt«, erwähnte Erika. »Mit der Hilfe von Thomas werde ich mein Sortiment in Richtung Eichendorff und die literarische Romantik erweitern. Aber das ist nur der Anfang. Mit einiger Fantasie lässt sich mit dem Begriff Romantik noch einiges machen. Ich denke zum Beispiel an eine Romantik-Ecke mit Liebesromanen für jugendliche Leserinnen und Leser, an romantische Postkarten, Aufkleber, Briefpapier und so weiter!«

»Oh la la«, schnalzte Frau Heller mit der Zunge. »Das klingt verdammt gut! Dann lass uns auf die vielversprechenden Entwicklungen in unserem Bezirk anstoßen. Prost, Erika!«

»Prost, Sidonie!« Sie ließen die Gläser klingen. »Magst du auch einen Schluck, Schnucki?«, fragte Erika, nachdem sie getrunken hatte.

»Bedaure, bin im Dienst«, lehnte Leopold dankend ab. »Außerdem weiß ich nicht, was es da zu feiern gibt.«

»Freust du dich denn gar nicht mit mir?«, wollte Erika wissen, und es klang enttäuscht.

»Ich kann mich nicht freuen, wenn alles nur mehr darauf aufgebaut ist, möglichst viele Fremde in unseren Bezirk zu karren, die unsere letzten Grünoasen verwüsten«, setzte Leopold ihr auseinander. »Leider ist das so, auch wenn du davon profitierst.«

»Wir werden alle davon profitieren«, schwärmte Frau Heller. »Das ist ja der Sinn der Sache! Darum werden wir als Floridsdorfer Geschäftsleute uns gewissenhaft auf die Zukunft vorbereiten. Du bist doch übermorgen auch dabei, Erika?«

»Wobei?«, erkundigte sich Erika gut gelaunt. Der Alkohol hatte sie rasch in Stimmung gebracht.

»Bei unserer Versammlung«, erklärte Frau Heller. »Wir besprechen, wie wir als Unternehmer das Maximum aus der sich anbahnenden Entwicklung herausholen können. Ich habe dazu eingeladen. Das Ganze findet am Donnerstagabend in aller Ruhe statt. Wir sind sozusagen unter uns.«

Leopold spitzte seine Ohren. »Was, hier im Kaffeehaus?«, rutschte es ihm heraus.

»Natürlich«, beeilte Frau Heller sich zu sagen. »Wo denn, glauben Sie? Auf der Straße? Die überlassen wir den Demonstranten. Es soll ja auch Menschen geben, die gegen das Projekt sind. Die sollen dort von mir aus einen Wirbel machen. Wir hingegen werden uns hier gemütlich zusammensetzen und konstruktiv Ideen sammeln, wie wir diese einmalige Chance nutzen können. Ich denke, dass dieses Treffen auf reges Interesse stoßen wird.«

»Hoffentlich geht sich das aus«, gab Leopold zu bedenken. »Es gibt für übermorgen bereits eine Reservierung für zehn Personen bei den Kartentischen. Die möchten auch ungestört sein.«

»In meinem eigenen Haus werde ich hoffentlich noch tun und lassen können, was ich will, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen«, reagierte Frau Heller unwirsch. »Wenn es jemandem nicht passt, soll er woanders hingehen. Wer hat denn reserviert?«

»Unser Thomas Korber«, informierte Leopold seine Chefin.

»Korber? Komisch! Der kommt doch sonst immer allein«, grummelte Frau Heller.

»Den Thomas dürfen wir nicht vergrämen«, meldete sich Erika Haller zu Wort. »Er steht mir jetzt ständig mit seinen guten Ratschlägen zur Seite.«

»Das wird überhaupt kein Problem«, lenkte Frau Heller beschwichtigend ein. »Es ist genug Platz da, um uns ein wenig auseinander zu setzen. Herr Korber kommt mit seiner Gruppe in die Ecke hinter den Billardtischen, wir nehmen schräg gegenüber Platz. So hat jeder ein bisschen Luft, und auf den Tischen dazwischen kann man sogar noch Karten spielen. Den vorderen Teil überlassen wir den anderen Gästen. Mein Heinrich wird Sie mit vollen Kräften unterstützen, und alles ist in bester Ordnung!«

Leopold glaubte nicht so recht daran. Er sah schwere Zeiten auf sich zukommen. Zwei Gesellschaften, und als Hilfe nur der Chef höchstpersönlich, der die Anstrengung mied wie der Teufel das Weihwasser. Zudem saßen auf der einen Seite Erika und Frau Heller, auf der anderen sein Freund Thomas, von dem er noch dazu gar nicht wusste, mit welcher Gruppe er plötzlich angetanzt kommen würde. Bei seiner derzeitigen Stimmungslage war alles möglich. Also beschloss Leopold, nicht viel nachzudenken und diesen Abend einfach auf sich zukommen zu lassen.

*

Nach ihrem Glas Prosecco hatte Erika noch ein zweites getrunken und war dann in blendender Stimmung nach Hause gegangen. Draußen regnete es mittlerweile intensiv und anhaltend. Das Heller leerte sich rasch, was eine zeitige Sperrstunde vermuten ließ. Es war nicht anzunehmen, dass jetzt noch jemand bei der Tür hereinschneien würde. Leopold begann mit dem Abkassieren. Aber wie so oft, wenn man nicht damit rechnete, kam noch ein später Gast daher.

»Othmar! Welche Überraschung«, rief Leopold aus.

Ein großer, durchtrainierter Mann mit Dreitagesbart, Regenjacke und Filzhut stellte sich an die Theke. »Es ist zum Heulen! Nichts lässt sich anfangen bei dem Sauwetter«, klagte er. »Aber irgendwo muss der Mensch ja hin! Hast du für mich noch ein Bier auf die Schnelle?«

Leopold nickte. Mit einem Besucher wie Othmar Demmer blieb er gern noch ein wenig stehen, um über dieses oder jenes zu plaudern. Wobei man mit Othmar nur über ein Thema reden konnte: die erotisierende Wirkung der Natur auf Mann und Frau. Wollte man ihm glauben, so funktionierten seine Verführungskünste im Freien am besten. Böse Zungen behaupteten, dass er in einem geschlossenen Raum nichts zusammenbrachte. Er brauchte den Himmel über sich und einen angenehmen lauen Wind, der seine Lenden streichelte. Dann konnte ihn keiner bremsen. Bei einer solch regnerischen Witterung aber waren seine Libido und damit auch seine Laune beim Teufel.

Demmer steckte seine Lippen beim ersten Schluck andächtig in den Bierschaum. »Der Sommer beginnt schlecht«, sinnierte er. »Kühl und feucht. Wie soll ich da in Form kommen?«

»Vielleicht beschränkst du dich vorläufig auf das herkömmliche Umfeld: ein Bett in einem Zimmer«, schlug Leopold vor.

»Unmöglich«, wehrte Demmer gleich ab und umarmte dabei sein Bierglas wie einen zarten Frauenkörper. »Wo bleibt da die Sinnlichkeit? Freie Liebe, freie Natur. Glaube mir, ich könnte mir überall eine Frau aufreißen, sogar in eurem Kaffeehaus, und sie dann in meine Wohnung abschleppen. Aber ein wirklicher Hochgenuss ist es nur, in weinseliger Stimmung bei einem Heurigen in der Stammersdorfer Kellergasse eine Frau kennenzulernen, mit ihr ein Glas Wein zu trinken und sie dann bei einem abendlichen Spaziergang am Bisamberg zu verführen. Gerade hat man noch den Sonnenuntergang bewundert, jetzt geht man fest aneinandergedrückt durch die einbrechende Dunkelheit auf den Wald zu. Du spürst die Unsicherheit deiner charmanten Begleiterin, wohin sie ihre Schritte setzen soll, und gleichzeitig ihr Bedürfnis nach Zweisamkeit. Du tust so, als ob alles Schicksal oder Zufall wäre, während du genau auf den Platz zusteuerst, den du für den prickelnden Abschluss des Abends auserkoren hast. Und rein zufällig hast du in einer umweltfreundlichen Tasche über der Schulter eine Decke mit, die du sonst immer unterlegst, wenn du des Nachts von einem Bankerl zur Donau hinunterschaust – sagst du ihr zumindest …«

Leopold hatte amüsiert zugehört. »Und dass in der Nacht alle Katzen grau sind, stört dich dabei gar nicht?«, wollte er wissen.

»Was bist du nur für ein fantasieloser Mensch«, rügte Othmar Demmer ihn. »Wichtig sind nicht die Details der weiblichen Rundungen, obwohl die natürlich auch sehr schön sind. Aber an so etwas sieht man sich heutzutage im Internet satt. Wichtig ist der ehrfürchtige Schauer, der einen inmitten der Natur ergreift und die urtümlichen Triebe in dir auslöst. Du fühlst dich frei und bereit zu genießen, was früher nur der Fortpflanzung diente.«

 

»Redest du aber heute geschwollenes Zeug daher, Othmar«, befand Leopold.

»Es hat mit Inspiration zu tun, und der Bisamberg inspiriert mich eben«, erklärte Demmer. »Der Bisamberg und natürlich auch sein bekanntester Bewohner, Florian Berndl: Pionier der Naturheilkunde und Naturbursch, Begründer des berühmten Gänsehäufels und schon um die Wende zum 20. Jahrhundert entschiedener Befürworter des gemeinsamen Badens von Mann und Frau. Später spärlich bekleideter Sonderling, der einsam am Bisamberg hauste, und dessen Anblick wohl manches keusche Mädchenauge erschreckte. Sein Geist schwebt immer noch über diesen Höhen.«

»Er ist aber schon eine ganze Weile tot«, erinnerte Leopold seinen späten Gast.

»1934 gestorben. Tot, aber nicht vergessen«, beeilte Demmer sich zu erwähnen. »Immerhin gibt es ein schönes nach ihm benanntes Bad am Fuß des Berges.«

»Ein anderer, der noch länger tot ist, macht ihm derzeit gehörig Konkurrenz«, machte Leopold ihn aufmerksam. »Joseph von Eichendorff. Der ist am Bisamberg nur ein paarmal auf und ab gewandert. Nichtsdestotrotz hat man ihm vor etlichen Jahren ein Denkmal gesetzt und möchte es jetzt zum Zentrum eines Tourismusprojektes machen.«

»Eichendorff war ein großer Dichter, der wohl ähnlich wie ich empfand«, geriet Demmer ins Schwelgen. »Kennst du sein Gedicht Mondnacht?

Es war, als hätt’ der Himmel

die Erde still geküsst,

dass sie im Blütenschimmer

von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,

die Ähren wogten sacht,

es rauschten leis’ die Wälder,

so sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte

weit ihre Flügel aus,

flog durch die stillen Lande,

als flöge sie nach Haus.

Kaum jemals wurden die Gefühle eines Menschen beim nächtlichen Stelldichein unter freiem Himmel treffender beschrieben. Wer den Autor dieser romantischen Zeilen allerdings für die Umgestaltung des Bisambergs zu einem Vergnügungspark missbrauchen will, ist eine traurige Gestalt, die ihre vier Wände noch nie für ein Liebesabenteuer verlassen hat.«

»Ich fürchte, du wirst umdenken müssen. Deine Platzerl sind dadurch doch in höchster Gefahr, oder?«, reizte Leopold ihn.

»Man weiß noch nichts Genaues«, relativierte Demmer. »Aber wenn es dort auf einmal Kiosks, beschriebene Wege, allerlei Attraktionen und jede Menge Leute gibt, ist es mit der Romantik vorbei. Dann wird ein natürlicher Paarungsraum vernichtet. Das muss auf jeden Fall verhindert werden. Aber wie?« Seine Hände verkrampften sich bei dieser Frage um das Bierglas.

»Ich sag dir jetzt was, aber das hast du nicht von mir«, wurde Leopold vertraulich. »Übermorgen am Abend treffen sich bei uns einige Geschäftsleute und besprechen, wie sie den neuen Hotspot für sich ausnutzen können. Da erfährt man vielleicht, wie die Sache steht.«

»Interessant«, nickte Demmer. »Andererseits muss ich natürlich meinen Gefühlen freien Lauf lassen, solange es noch geht. Wenn das ein lauschiger Frühsommerabend wird …« Er schaute fragend hinaus in die Dunkelheit.

»Immerhin geht es um deine Liebesnester«, gab Leopold zu bedenken.

Demmer kniff vertraulich ein Auge zu. »Kannst du nicht ein bisserl für mich aufpassen, was da geredet wird?«, drang er in Leopold.

»Ich muss arbeiten«, wehrte Leopold ab. »Wenn es dir wichtig ist, solltest du selber da sein. Ich könnte dir einen Platz freihalten, wo du mithören kannst. Deine Gefühle hast du nach der Unterredung auch noch.«

»Na gut, ich überleg’s mir«, zwinkerte Demmer ihm zu. Nachdem er gegangen war, erinnerte sich Leopold daran, dass seine Erika auch an der Versammlung teilnahm. Sie brauchte das Projekt für ihr neues Geschäft. Ihre Beziehung stand also wieder einmal vor einer großen Herausforderung.

Kapitel 3

Mittwoch, 24. Juni

Thomas Korber erwachte mit einem heftigen Brummen im Schädel. Mit halb geöffneten Augen riskierte er einen Blick auf die Uhr. Es war bereits nach 7 Uhr. Er musste den Wecker überhört haben. Jetzt hieß es flott auf die Beine kommen, damit er es bis 8 Uhr in die Schule schaffte.

Gott sei Dank hatte er in der ersten Stunde nur eine zweite Klasse, wo ihn der Unterricht nicht so anstrengen würde. Aber pünktlich sein musste er, um keine Abmahnung durch Direktor Marksteiner zu riskieren. Zu Unterrichtsbeginn wieselte dessen Sekretärin, Frau Pohanka, immer am Gang vor der Eingangstür auf und ab, um zu spät kommende Lehrer und Schüler zu ertappen.

Korber tastete sich ins Bad, hoffend, dass der kalte Strahl der Dusche seine Geister wiederbeleben würde. So ganz klappte es nicht, aber er fühlte sich allmählich frischer. Was war gestern bloß noch gewesen? Er war am Nachmittag aus dem Heller nach Hause gegangen, hatte dort seine Tasche mit den Schulsachen abgestellt und war wieder los, erst zum Heurigenlokal Fuhrmann gleich ums Eck, und dann …

Er war in die Innenstadt gefahren, in sein Lieblingslokal Botafogo, wo eine Mischung aus räumlicher Enge, Livemusik und Alkohol bei ihm meist zu jener unseligen Stimmung führte, in welcher er sich zu unkontrollierten Handlungen hinreißen ließ, an die er sich nachher kaum erinnern konnte. Häufig war dabei eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts im Spiel, deren Gestalt und Gesicht im Dämmerlicht appetitlicher wirkten, als sie es tatsächlich waren.

Vielleicht fand sich in seiner Jacke etwas, das als Hinweis dienen konnte. Korber kramte in den Taschen, wobei ihm immer noch scharfer Schweißgeruch entgegenschlug, den das Kleidungsstück als Gedächtnisstütze aufbewahrt hatte. Tatsächlich fand er einen zerknitterten Zettel, auf dem mit Lippenstift »Auf bald, Schmusekönig« geschrieben stand. Mehr wollte er gar nicht wissen. Wahrscheinlich hatte ihn sein ramponierter Zustand davor gerettet, neben dem Faltengesicht einer überholten Lady aufzuwachen, die sich so in ihn verliebt hatte, dass er sie nur unter großen Anstrengungen wieder loswerden würde. Es hatte den Anschein, als sei er mit einer überhöhten Taxirechnung davongekommen.

Ein weiterer Blick auf die Uhr zeigte Korber, dass er keine Gedanken mehr an die feuchtfröhliche Nacht verschwenden durfte. In Windeseile trank er eine Tasse schwarzen Kaffee und würgte dazu ein halbes Butterbrot hinunter. Dann eilte er aus der Wohnung. Zum Glück erwischte er sofort eine Straßenbahn und war sogar um 7.55 Uhr an seinem Arbeitsplatz. Deshalb wunderte es ihn, dass Frau Pohanka vor dem Lehrerzimmer ungeduldig auf ihn wartete und ihn mit einem nervösen »Da sind Sie endlich« empfing.

»Rechtzeitig zum Unterricht, wie ich hoffe«, verteidigte sich Korber. Dabei drehte sich ihm vom Hinaufgehen in den ersten Stock leicht der Kopf.

»Haben Sie vergessen, dass Sie für heute um 7.45 Uhr zu Direktor Marksteiner bestellt waren?«, klang ihm Frau Pohankas Stimme unbarmherzig im Ohr.

Langsam dämmerte es Korber. Gäste waren da, die er betreuen sollte. Gäste aus Deutschland. Er räusperte sich. »Nein, aber der Verkehr …«, war aber das Einzige, was ihm als Entschuldigung einfiel.

»Sie sehen ein wenig schlampig aus«, unterbrach ihn Frau Pohanka. »Frisieren Sie sich und spülen Sie bitte hiermit Ihren Mund aus«, raunte sie ihm zu, sodass es niemand hörte, und steckte ihm ein kleines Fläschchen zu. »Frau Aberle und Herr Bader von unserer Partnerschule in Heidelberg warten bereits ungeduldig auf Sie. Ich gehe schon einmal vor und kündige Sie an.«

»Danke«, murmelte Korber verschämt. Im Spiegel der Toilette sah er dann, dass sich die Exzesse der vorigen Nacht tief in sein Gesicht gekerbt hatten. Er erfrischte sich, so gut es ging, und betrat das Sekretariat, wo die Tür zur Direktion bereits offen stand.

Direktor Marksteiner wirkte angespannt, bemühte sich jedoch um Souveränität. »Ah, Korber. Sie hatten Probleme mit dem Verkehr, wie ich höre. Nun sind Sie ja, Gott sei Dank, da. Darf ich Ihnen unsere Kollegen vom Eichendorff-Gymnasium in Heidelberg vorstellen, die uns diese Woche besuchen? Das ist der dortige Administrator, Professor Erwin Bader, mit dem ich Möglichkeiten der Kooperation in der Schulorganisation erwägen werde, und hier ist Ihre Kollegin in Deutsch, Frau Professor Monika Aberle, mit der Sie Ideen für ein gemeinsames kulturelles Projekt im Herbst austauschen werden.«

»Guada Morga«, tönte es Korber aus beiden Kehlen im schwäbischen Akzent entgegen.

»Einen schönen guten Morgen«, grüßte er zurück und musterte die beiden Gäste, während er ihnen die Hand schüttelte. Bader wirkte wie der typische in Ehren ergraute Lehrer, dem es für einen Schulleiter am nötigen Ehrgeiz gemangelt haben mochte, dem aber die nüchterne Arbeit mit Zahlen und Systemen Freude bereitete. Vorderhand reserviert, vielleicht zugänglicher in den nächsten Tagen. Hohe Stirn, dünne Lippen, das eine oder andere Kilogramm um die Hüften zu viel. Keine Besonderheiten.

Monika Aberle sah fröhlicher aus, war aber ebenfalls nicht mehr die Jüngste. Blond gelocktes Haar, bereits die eine oder andere Falte im freundlichen Gesicht, sportlich, Kumpeltyp. Sympathisch, aber nicht die Frau, die Korber über die derzeitige Misere in seinem Liebesleben hinweghelfen konnte. Zumindest war das sein erster Eindruck.

»Nehmen Sie Frau Aberle bitte gleich in Ihren Unterricht mit, damit sie sich ein Bild machen kann, wie es bei uns so zugeht«, hörte Korber Marksteiner in seine Richtung sagen.

»Natürlich«, bekräftigte Korber und wagte ein Zwinkern in Richtung Monika Aberle. Zu seiner Erleichterung zwinkerte sie zurück.

Auf dem Weg in die Klasse machte er ihr ein Geständnis. »Ich hatte heute große Mühe, aus dem Bett zu kommen, weil wir gestern eine Feier hatten«, beichtete er. »Ich kann Sie nur bitten, mein spätes Kommen zu entschuldigen.«

»Deesch nedd schlemm«, beruhigte ihn Monika Aberle. »’s isch bloß bleed, dass ma am näggschdn Daag so frieh ähfanga muass. Ach, verzeihen Sie! Ich plappere Sie da auf Schwäbisch an! Ich meinte, das sei gar nicht schlimm. Es ist halt dumm, dass man am nächsten Tag gleich wieder zeitig mit der Arbeit beginnen muss. Kenne ich von mir selbst.«

»Scho rächd«, lächelte Korber sie an. »Ich habe ein Jahr in Heidelberg studiert. Ein bisschen was bekomme ich von der Sprache schon noch mit.«

»Vielleicht reden wir zur Sicherheit doch lieber in unserem Lehrerhochdeutsch miteinander, damit es keine Verständigungsschwierigkeiten gibt«, schlug Monika vor. »Und jetzt freue ich mich schon auf Ihren Unterricht!«

Nett ist sie auf jeden Fall, die Besucherin aus Heidelberg, dachte Korber. Ausgesprochen nett!

*

»Hier trinkst du also immer deinen Kaffee?«, wollte Monika Aberle wissen, als Korber mittags mit ihr auf einen Imbiss im Café Heller saß.

Korber nickte. »Das ist stark untertrieben. Ich gehe hier sozusagen ein und aus. Die Nähe zum Gymnasium ist dabei recht praktisch.« Beide duzten sich bereits und ließen sich einen Salat mit Hühnerstreifen schmecken. Korber hätte das Essen am liebsten mit einem Glas Bier hinuntergespült, begnügte sich aber mit Apfelsaft, um bei Monika, die am Mineralwasser nippte, keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen.

»Ein schönes Kaffeehaus! Genial schlampig und unkompliziert. Wie ist es denn hier so am Abend?«, fragte seine Begleiterin.

»Wir können uns das gerne zusammen ansehen«, stellte Korber in den Raum.

»Oh fein«, war Monika hocherfreut. »Erwin, mein Kollege, ist leider etwas langweilig. Ich hatte schon Angst, dass ich mir niemanden zum Ausgehen finde. Und zu besprechen hätten wir wegen unseres gemeinsamen Projekts ja eine ganze Menge. Wie schaut’s morgen aus? Heute werde ich wohl ein wenig müde sein, denke ich.«

»Morgen passt ausgezeichnet«, freute Korber sich über Monikas Angebot. »Da wirst du auch meinen besten Freund, den Oberkellner Leopold, näher kennenlernen, der im Augenblick so geschäftig herumläuft.«

Leopold, der die letzten Worte gehört hatte, eilte herbei, um abzuservieren. »Darf ich dir meine Kollegin Aberle aus Heidelberg vorstellen? Ich habe ihr gerade von dir erzählt«, teilte Korber ihm mit. »Vergiss morgen Abend bitte deine Vorbehalte gegen alles, was Deutsch spricht und nicht aus Österreich kommt. Da möchte ich mit ihr hier nämlich ein paar unbeschwerte Stunden verbringen.

»Und was ist mit den anderen acht?«, fragte Leopold erstaunt.

»Was meinst du?«

»Du hast morgen um 19.30 Uhr für zehn Leute reserviert«, erinnerte Leopold seinen Freund.

Einmal mehr verfluchte Korber seine gestrigen Exzesse. Wie hatte er bloß vergessen können, dass ihn Marion um diese Gefälligkeit gebeten hatte? »Dann nimmst du eben zwei Plätze dazu«, trug er Leopold auf.

 

»Also insgesamt zwölf.«

»Nein! Einmal zehn und einmal zwei!«

Jetzt schaute Leopold Korber ganz verständnislos an.

»Du reservierst uns einen schönen Tisch für zwei Personen und setzt uns in einen kleinen Abstand zu den restlichen zehn«, erläuterte Korber ihm seine Absicht. »Ist das denn so schwer?«

»Nein, aber ungewöhnlich. Und schön langsam gehen mir die Plätze bei den Kartentischen aus«, informierte Leopold ihn. »Die Chefin hat dort nämlich selbst eine Besprechung. Sie möchte deshalb, dass es kein Gedränge gibt. Und möglichst ruhig soll es auch zugehen.«

»Glaubst du etwa, dass wir beide randalieren?«, fragte Korber. »Das ist ja lächerlich!«

Leopold ging darauf nicht weiter ein und entfernte sich mit der Gewissheit, dass sein Freund im Augenblick eine schwierige Phase durchmachte, wo man ihn besser in Ruhe ließ.

»Wir können es auch bleiben lassen, wenn es unangenehm für dich ist«, sagte Monika Aberle, die keine Ahnung hatte, worum es ging, höflich lächelnd.

»Auf keinen Fall«, lehnte Korber ihr Angebot entschieden ab. »Die andere Reservierung ist für eine Bekannte aus meiner Studienzeit. Sie kommt zufälligerweise auch aus Heidelberg und ist jetzt in Wien … Das heißt, das weiß ich nicht so genau, sie unterrichtet jedenfalls in Korneuburg, das ist gleich die nächste Stadt an der Donau nach Westen zu. Sie kommt mit einer größeren Gruppe, und der Einfachheit halber habe ich für sie auf meinen Namen reserviert«, setzte er Monika Aberle daraufhin umständlich auseinander.

Die wirkte so, als verstünde sie immer noch Bahnhof. »Ach so«, nickte sie andächtig.

»Es wird dich wahrscheinlich nicht interessieren, aber es geht ihnen darum, einen touristischen Ausbau der Eichendorff-Höhe auf unserem Hausberg, dem Bisamberg, zu verhindern«, fuhr Korber ungeniert fort. Er merkte jedoch gleich, dass er das besser nicht gesagt hätte.

Monika Aberle war sofort ganz Ohr. »Eichendorff? Meinst du etwa den Eichendorff, nach dem unser Gymnasium benannt ist?«, fragte sie.

»Ich meine den Romantiker Eichendorff«, antwortete Korber ausweichend. »Der war wohl in erster Linie Schlesier, hat aber Teile seiner Studienzeit in Heidelberg und Wien verbracht.« Er ließ dabei unerwähnt, dass der Dichter sein Jurastudium in Wien abgeschlossen hatte.

»Des isch doch klasse«, platzte es aus Monika heraus. »Und er war bei euch auf dem Bisamberg?«

»Pssst«, bat Korber sie, etwas leiser zu sein. »Er ging dort während seines Wien-Aufenthaltes öfters spazieren. Deshalb hat man ihm nach dem Zweiten Weltkrieg ein Denkmal gesetzt. Im Augenblick wird allerdings an eine kommerzielle Nutzung des Platzes gedacht, und das ist zum Streitpunkt geworden. Es geht hin und her, verstehst du? Vorderhand soll niemand wissen, dass diesbezüglich morgen hier ein Treffen geplant ist. Darum läuft die Reservierung auch über mich.«

»Alles klar«, versicherte Monika.

»Ich habe mit der Besprechung nichts zu tun«, erklärte Korber. »Wir können uns also entspannt daneben hinsetzen, plaudern und vielleicht sogar ein wenig zuhören.«

»Klingt spannend«, freute Monika sich. »Wir werden uns einfach in Ruhe über unser Projekt unterhalten. Eichendorff ist doch schon einmal ein blendender Ansatz, oder? Sicher fällt uns rasch etwas dazu ein, was die Direktoren beider Schulen glücklich macht. Ich brauche das dann nur entsprechend auszuformulieren. Das kann ich, glaube ich, recht gut. Du brauchst dir also keine Sorgen machen, dass allzu viel Arbeit auf dich zukommt.«

Ausgezeichnet, befand Korber. Seine neue Kollegin wurde ihm immer sympathischer. Sicher würde er mit ihr morgen nicht nur über Eichendorff und die Schule sprechen.

*

Leopold hatte sich angewöhnt, an seinen freien Abenden ein kleines Nachtmahl für Erika und sich zuzubereiten. So stand bereits etwas Köstliches auf dem Tisch, wenn sie müde von der Arbeit nach Hause kam. Dafür war sie ihrem Schnucki dankbar. Beide genossen daraufhin eine entspannte Stunde mit einem guten Glas Wein, kleinen Neckereien und Gesprächen über belanglose Dinge. Diesmal schnitt Erika allerdings ein ernstes Thema an. »Ich möchte, dass wir morgen bei unserer Besprechung wirklich ungestört sind«, stellte sie dezidiert fest.

»Warum betonst du das so?«, wollte Leopold wissen. »Und vor allem, warum in meine Richtung?«

»Weil ich genau weiß, wie du zu dem Projekt stehst«, machte sie ihm klar. »Dir stoßen die neuen Entwicklungen gewaltig auf, du gibst es nur nicht zu. Aber denk bitte ausnahmsweise auch einmal an mich. Das ist eine ideale Möglichkeit, meinen Umsatz sprunghaft zu verbessern.«

Obwohl Leopold daran lag, einen Disput vor dem Schlafengehen zu vermeiden, konnte er Erikas Behauptungen nicht gelten lassen. »Inwiefern?«, fragte er vorsichtig.

»Da sieht man, dass du keine Ahnung vom Unternehmertum hast, Schnucki. So eine neue Sehenswürdigkeit schafft Kaufanreize«, belehrte Erika ihn. »Eichendorff am Bisamberg, Eichendorff in Floridsdorf, Eichendorff überall und in aller Munde. Die Leute werden mehr über ihn wissen wollen, sind neugierig, was er geschrieben hat. Wer ›in‹ sein will, muss sein Buch Aus dem Leben eines Taugenichts gelesen haben, in dem die Reise des Helden nach Wien und seine Tätigkeit als Gärtner im Schloss Seebarn beim Bisamberg genau beschrieben wird.«

»Diese Menschen kommen dann in Scharen ausgerechnet zu dir und kaufen dieses kleine Büchlein«, konnte sich Leopold eines gewissen Sarkasmus nicht enthalten.

»Das und noch viel mehr«, ereiferte sich Erika. »Was glaubst du, welche Möglichkeiten sich erst eröffnen, wenn ich den Begriff ›Romantik‹ gezielt einsetze? Mein Geschäft zur Spezialbuchhandlung für Romantik nördlich der Donau wird? Das sind Dinge, die über dein Begriffsvermögen hinausgehen.«

»Und wie willst du das alles anstellen?«

»Durch gezielte Werbung, durch Vernetzung mit anderen Floridsdorfer Geschäftsleuten. Darum ist unsere Besprechung so wichtig, Schnucki! Wir müssen Synergien schaffen. Dann ergibt sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit automatisch. Vielleicht kommt mich auch eines Tages das Fernsehen besuchen und macht ein Interview mit mir …«

»Ich möchte dir deine Illusionen nicht nehmen«, schnitt ihr Leopold das Wort ab, »ich möchte mir auch nicht deinen Kopf über die Realisierung dieser Träume zerbrechen. Sag mir nur eines: Warum nimmst du an, ich hätte vor, euer Treffen zu sabotieren? Noch dazu, wo meine Chefin höchstpersönlich daran teilnimmt?«

»Leider weiß ich nur zu gut, dass du dich gerne einmischst, wenn es darum geht, dem, was du für Gerechtigkeit hältst, zum Sieg zu verhelfen«, setzte Erika ihm auseinander. »Da ist es dir dann auch egal, ob du dir mit deiner Chefin in die Haare gerätst. Also denk bitte nicht einmal im Traum daran, Spione auszuschicken, die uns belauschen, unsere Diskussion durch kleine Bosheiten zu stören oder sonst etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Wir brauchen unsere Ruhe! Es reicht, dass eine zweite Gruppe in unserer Nähe sitzt. Aber die gehört ja Gott sei Dank zu unserem Thomas Korber. Auf den kann man sich verlassen. Stifte ihn mir nur nicht an, Schnucki!«

»Das ist wieder einmal typisch, dass du Thomas mehr vertraust als mir«, schüttelte Leopold beleidigt den Kopf. »Dabei ist er gerade wieder in einer schwierigen Phase.«

»Schwierig, aber harmlos«, ging Erika darüber hinweg. Im Gegensatz zu Leopold wusste sie über Korbers Avancen bei seiner Tochter Sabine und deren wechselnden Erfolg Bescheid.

»Harmlos? Hast du eine Ahnung«, redete Leopold sofort auf sie ein. »Er will sich mit einer großen Partie amüsieren und nebenbei auf einem Zweiertisch seine neue Flamme vernaschen. Keine unbedingte Schönheit, aber das ist ja egal, wenn man wie er nur auf einen bestimmten Punkt fixiert ist, der bei jeder von euch Frauen an derselben Stelle liegt.«