Der taube Himmel

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5

Jeden Tag brach sie eine Scheibe Brot in Stücke und legte sie auf die Fensterbank. Winzig kleine Bissen. Dann setzte sie sich auf einen Hocker und wartete. Die schwarze Krähe. Die schimmernde, glänzende Elster. Sie kamen. Drehten jäh im Flug ab, wenn sie sie sahen. Verstanden, dass sie Wache hielt. Dass die Bröckchen nicht für sie waren. Es war nicht deren Junges, das sie in die Geröllhalde gelegt hatte.

Oh nein, wirklich nicht. Sie wussten sicher, mit wem sie die Bröckchen teilen wollte.

Sie zog langsam das Gummi von ihrem Pferdeschwanz und schüttelte die Haare aus. Sie lüftete sie, während sie dasaß. Sie wartete wohl auf ein Rotkehlchen. Oder einen Finken. Einen Wintervogel. Einen, der nicht vor dem Winter flüchtete.

Sie aß ihr eigenes Brot und trank Milch. Die Nachmittagssonne zitterte und lebte wie ein offenes Feuer. Rollte das Licht zu ihr hin und machte sie schwindlig. Der Himmel war eine Feuerglut. Die Abende wurden so hell. Waren nichts, um sich darin zu verstecken. Das Glas stand schwankend auf einem Hocker neben ihr. Das Brot hielt sie in der Hand. Es krümelte gleichmäßig auf ihren Pullover. Sie konnte den schwachen Wollgeruch wahrnehmen, der sich mit dem Geschmack von Brot und Käse und Milch mischte.

Zeitweise vergaß sie sich und vergaß, warum sie da saß. Kaute nur. Aber jedes Mal, wenn sie anfing zu frieren, erinnerte sie sich an den Vogel. Wollte er sich nicht bald sein Essen holen? Auch heute nicht?

Sie nahm die Bröckchen um genau zehn Minuten nach vier von der Fensterbank und schloss das Fenster. Gleich darauf hörte sie immer, dass Frau Karlsen die Haustür aufschloss.

Manchmal erinnerte sie sich an Ingrid. Oder an Onkel Simon und Tante Rakel. Frau Karlsen hatte erzählt, dass Ingrid angerufen habe. Dass sie auf einen Brief von Tora warte. Sie hatte das ganz streng gesagt, so wie der Pastor auf der Insel, als sie in den Konfirmandenunterricht ging. Frau Karlsen war zur Stiefmutter in dem Märchen vom Schneewittchen geworden. Sie schwatzte Tora Ermahnungen auf, die ebenso rot und giftig waren wie der Apfel, den Schneewittchen aß, bevor sie umfiel.

Den erhobenen Zeigefinger hin- und herbewegend, sagte Frau Karlsen: »Man darf nie vergessen, seiner Mutter zu schreiben.«

Und Tora blendete das Geräusch ihrer Stimme aus.

Die anderen hatten die Osterprüfungen an den Tagen gehabt, an denen Tora krank zu Hause gelegen hatte. Der Oberlehrer ließ etwas von einem ärztlichen Attest verlauten. Sie hatten ihn in Mathematik. Tora saß mit geradem Rücken und blassen Wangen da. Der Pullover verhüllte ihre Hüften. Schützte sie jetzt noch immer, obwohl sie nichts mehr zu verbergen hatte. Auch das war gefährlich.

Er sah vom Klassenbuch auf und versuchte, dem Blick des Mädchens zu begegnen. Aber Tora hatte bereits Blickkontakt mit der Weltkarte über der Tafel.

Schließlich ergriff Anne die Initiative: »Tora hat eine Entschuldigung abgegeben. Von der Wirtin. Liegt sie nicht im Klassenbuch?«

»Ja, aber sie hat mehr als drei Tage gefehlt«, bemerkte der Oberlehrer ungerührt.

»Das ist doch nie so genau genommen worden. Hauptsache, die Zimmerwirtin oder die Eltern haben unterschrieben. Sie kann doch jetzt nicht mehr vom Doktor ein Attest erbitten. Sie ist schließlich wieder gesund.«

Verhaltenes Kichern. Eine altbekannte Übelkeit stieg in Tora hoch. Sie sah die blauen Adern um die Nasenflügel des Oberlehrers. Die kalten Augen ohne Ausdruck. Angst breitete sich langsam aus. Sie ging in eine Wut über, die Tora nicht mehr beherrschen konnte. Sie spürte, dass die Schenkel unter dem Tisch zitterten. Ein sonderbar sprödes Läuten war in ihrem Kopf. Wie ein Sausen. Ein Zustand wie nach einem Fieberanfall. Warme Wollbüschel flogen vor ihren Augen vorbei. Sie griff nach dem Tisch, um das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Registrierte, dass der Mundwinkel sich ihrer Kontrolle entzogen hatte. Wusste, wie sie jetzt aussah. Das ließ sie noch wütender werden.

»Da könnt ich nicht dran denken. Mir war schlecht. Außerdem hatte ich kein Geld von zu Haus … Ich glaub nicht, dass der Doktor in Breiland was umsonst macht.«

Alle Gesichter wandten sich in erstauntem Respekt Tora zu. So eine lange Rede hatten sie bisher kaum je von ihr vernommen. Das Mädchen sah ganz wild aus. Ihr Gesicht war beinahe entstellt. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Mund. Sicher eine Art Lähmung.

Der Oberlehrer sah verlegen ins Klassenbuch. Das hatte er nicht erwartet. Wollte nur den starken Mann markieren. Er hatte ein solches Bedürfnis nach Ordnung, gerade an diesem Tag. Und da endete es damit, dass er echte Verzweiflung sah. Er war beleidigt deswegen und prüfte nicht einmal mehr die Anwesenheitsliste. Merkte nicht, dass Gunlaug nicht auf ihrem Platz saß, weil sie mit ihren Aufgaben nicht fertig geworden war.

Aber als er ins Lehrerzimmer kam, ließ er ein paar Bemerkungen fallen, dass ihm die Klasse etwas ungeregelt vorkomme. Es gebe da einige aufsässige Elemente. Die anderen Lehrer sahen kaum auf. Antworteten nicht. Die Kaffeetassen waren halb leer, der Kaffee nur noch lauwarm. Es war schon lange her, dass die Tassen Freude gemacht hatten.

Der Klassenlehrer war nicht anwesend. Niemand fühlte sich verpflichtet, dem Oberlehrer zu antworten. Der konzentrierte Geruch nach Achselschweiß und Pfeifentabak mischte sich mit dem von Staub, Tinte und kaltem Kaffee. Jeder hatte mit sich zu tun. Undiszipliniertheit war ein Teil ihrer Lebensaufgabe, für jeden von ihnen. Der eigentliche Lebensprozess. Es war beinahe Blasphemie, das Wort auszusprechen. Es hatte so etwas wie eine heilige Schwäche in sich.

Tora wurde nicht mehr nach einem Attest gefragt. Aber sie bekam Hausaufgaben, damit man hieb- und stichfeste Noten für das Osterzeugnis machen konnte. Das war nicht schlimm. Sie nahm die Aufgaben mit in ihr Zimmer und ließ sich Zeit.

Alle Aufgaben, die ein normales Wissen verlangten, waren einfach. Sie hatte viel Platz in ihrem Kopf. Als ob Hausputz und großes Aufräumen gewesen wäre. Was sie aus den Büchern lernen konnte, saß beinahe schon, ehe sie den Text fertig durchgelesen hatte. Aber bei allem, wo sie eigene Gedanken entwickeln musste und was nicht in den Büchern stand, war es hoffnungslos, etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Sie hatte das eigene Denken verloren. Konnte nur mechanisch lernen. Von hier bis da. Wie ein Roboter. Mathematikaufgaben nach bestimmten Regeln lösen. Verben konjugieren. Historische Fragen voller Namen und Zahlen beantworten. Zahlen! Sie waren magisch und gut.

Aber das nützte ihr nichts, wenn sie einen Aufsatz schreiben musste. Viele Seiten voller Gedanken, die nur aus ihr selbst kommen sollten. Vielleicht schrieb sie etwas, was zu Fragen nach dem Attest führte.

Die Wörter waren so gefährlich.

Sie bekam schreckliche Kopfschmerzen, wenn sie die Wörter durchsiebte. Misstrauisch setzte sie sie in Reih und Glied auf eine Linie. Wusste, dass sie hinter ihr her waren. Es kostete sie viele Stunden, einen Aufsatz über ihre Begegnung mit der Realschule in Breiland zu schreiben. Ihre Gedanken waren voller Brüche, wie die Gletscher im Frühling. Bodenlos, wie die Moore rund um das Jugendheim auf der Insel.

Sie brachte den Aufsatz einigermaßen zuwege. Drei Seiten. Nicht mehr und nicht weniger. Sie versuchte nicht einmal, das Ganze durch Abschnitte und Zwischenräume in die Länge zu ziehen. Ließ es sein. Am letzten Schultag vor Ostern bekam sie ihn zurück. Mit der Note »ausreichend«. Sie starrte fast ungläubig auf die Note. Der Kommentar des Norwegischlehrers war gehässig. Aber er äußerte kein Misstrauen, was ihr Fehlen während der Osterprüfungen betraf. Tora verbesserte in der Pause die Rechtschreibfehler und lieferte den Aufsatz wieder ab.

Die Norwegischnote war »befriedigend«. Sonst sah das Zeugnis gut aus. Sie war glimpflich davongekommen. Sie wurde nicht zusammengestaucht, und es wurde auch keine Unterschrift von zu Hause verlangt.

Da musste sie auch nicht nach Hause fahren. Sie hatte sich bereits entschlossen. In der Nacht vor Schulschluss. Während sie im Bett lag und sich ausstreckte und spürte, dass der Schlaf sich immer mehr zurückzog, und das Tageslicht sich immer deutlicher an den Vorhängen abzeichnete und die Konturen der Möbel und Dinge im Zimmer sichtbarer werden ließ.

Sie fühlte sich beinahe glücklich. So leicht war es also. Sich zu entschließen. Für eine lange Zeit nicht mehr auf die Insel. Vielleicht nie mehr. Ihn nie mehr sehen! Nie mehr die steilen Treppen zu den Räumen im Tausendheim hinaufgehen. Nie mehr den merkwürdigen Geruch im Treppenhaus wahrnehmen. Nie mehr gezwungen sein, mit ihm an einem Tisch zu sitzen.

Sie würde Ingrid schreiben. Sagen, dass sie Ostern woandershin wollte. Auf eine Hütte. Zusammen mit Freunden. Freundinnen. Sonst würde es ihr wohl nicht erlaubt werden. Die Idee war ihr in der Schule gekommen. Viele wollten auf eine Hütte. Und sie wollten alle zu Hause sagen, dass sie mit Freundinnen hinwollten. Machten aus, sich gegenseitig zu decken, falls gefragt wurde. Kicherten nervös und fühlten sich sehr erwachsen.

Der Brief wurde kurz. Ohne Schnickschnack. Bat nicht um Geld. Sie brachte ihn sofort zur Post.

Die Erleichterung machte sie schwindlig. Sie saß lange auf einem Stahlrohrstuhl in der Post, nachdem sie den Brief abgeliefert hatte. Der Postbeamte sah sie ganz seltsam an, und sie bekam Angst, dass er fragen würde, ob sie krank sei. Diese Frage ertrug sie nicht.

Dann ging sie in die Bibliothek. Lieh sich ein Netz voll Bücher aus. Sie kaufte Brot, Kaffee, Ziegenkäse und vier Eier. Trug alles zusammen hinauf in ihr Zimmer und setzte sich vor das offene Fenster, um den Vogel zu füttern. Sie hatte keinem Menschen erzählt, dass sie Ostern in Breiland bleiben werde. Alle hielten es für selbstverständlich, dass sie nach Hause fuhr.

 

In Sicherheit! Viele Stunden konnte sie hier mutterseelenallein sitzen, ohne dass jemand zu wissen brauchte, wo sie war.

Zehn Minuten nach vier schloss sie das Fenster, weil Frau Karlsen zu erwarten war. Die Vogelmutter kam nicht. Tora reckte sich nach allen Seiten, bevor sie das Fenster heranzog und die Haken einhängte. Die Bröckchen hatte sie hinaus in den Schnee gefegt. Sie waren gelbe Flecken da unten in all dem Weiß. Jeden Morgen waren sie fort. Sie hörte das Geschrei und Gekrächze der Krähen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Frau Karlsen entdecken würde, warum sich so gierige Vögel in der Nähe ihres Hauses aufhielten.

Tora schob den Gedanken von sich. Sie musste Kontakt zu der kleinen Vogelmutter bekommen. Erzählen, wohin sie das Junge gelegt hatte.

6

Rakel entschloss sich, nach Breiland zu fahren. Das komme so plötzlich, meinte Simon. Sie erklärte, dass sie Menschen sehen müsste, sonst würde sie ersticken. Alles sei so klein auf der Insel …

Ob das seine Schuld sei? Nein, versicherte sie ihm. Aber so leicht war er nicht zu überzeugen.

Schließlich musste sie mit der Sprache herausrücken, dass nämlich Ingrid ganz verzweifelt war, weil sie einen kurzen, kalten Brief von Tora bekommen hatte, in dem sie ihr mitteilte, dass sie Ostern nicht kommen werde, weil sie mit Freundinnen auf eine Hütte wolle.

Simon meinte, dass es doch prima sei, dass das Mädchen Freundinnen habe. Es sei doch wohl nicht schlimm, wenn sie Ostern nicht nach Hause komme. Rakel seufzte und gab ihm recht, aber sie bestand trotzdem darauf, nach Breiland zu fahren. Da könne sie nach Tora sehen. Ein bisschen allein sein. Ins Kino gehen. Sie habe Bauchweh, fügte sie hinzu. Da zog er den Kopf ein und sagte nichts mehr.

Rakel musste handeln, wenn die Gedanken sie plagten. Immer musste sie etwas tun. Sie war eben so.

Sie dachte darüber nach, was wohl der Grund für Toras Brief sein könnte. Ein Freund, von dem sie der Mutter nichts zu erzählen wagte? Nein, da hätte sie versucht, mit vielen Details, vielen Entschuldigungen eine Erklärung zu finden. Da hätte sie wahrscheinlich einen netten Brief mit überzeugenden Lügen geschrieben.

Simon brachte Rakel in dem kleinen Motorboot über den Fjord. Sie versprach, gleich nach ihrer Ankunft anzurufen. Stand da in ihrem neuen blauen Wollmantel, den sie beim letzten Besuch in Oslo gekauft hatte. Er war ein Schild gegen neugierige Augen, damit die Leute nicht ihren abgemagerten, kranken Körper sehen sollten, wenn sie in Været spazieren ging. Sie sollten nur nicken und sagen: Rakel Bekkejordet war in der Hauptstadt und hat sich einen neuen Mantel angeschafft …

Keiner sollte sehen, dass es eine Entschädigung für Schmerzen war.

Aber Simon wurde ganz weich bei ihrem Anblick. Er fuhr allein über den Fjord zurück und spürte immer noch ihren Duft. Mitten durch die salzige Gischt. Er drehte den Motor voll auf und stellte fest, dass er gut lief.

Der Bus fuhr um Millionen von Kurven und hielt ununterbrochen, so schien es Rakel. Sie hatte sich bereits überlegt, wie sie sich verhalten sollte, wenn sie nach Breiland kam. Sie wollte Frau Karlsen anrufen und nach Tora fragen. Dann wollte sie zu dem Haus gehen. Wenn niemand aufmachte, würde sie sich ein Hotelzimmer nehmen und das Weitere überdenken.

Es war grau in Breiland. Rakel hatte sich ein für alle Mal eine Meinung darüber gebildet. Seit sie erfahren hatte, dass sie zu Tests und Untersuchungen nach Breiland musste. Das war schon lange her. Trotzdem war der Grauton da. Ein für alle Mal. Sie brachte es nicht über sich, diesen Eindruck zu revidieren.

Der Ton im Telefon war auch grau. Es klingelte in einem Raum, den sie nicht sehen konnte. Niemand hob ab. Sie hatte es im Voraus gewusst. Sie knöpfte den Mantel zu, nahm die Reisetasche vom Boden auf und dankte der Verkäuferin dafür, dass sie das Telefon hatte benutzen dürfen.

Ging geradewegs hinaus in den bleigrauen Tag.

Das Haus fand sie leicht. Wusste ungefähr, wo es war. Es brannte Licht im Flur und in der ersten Etage. Ein gelber, ängstlicher Schein, der über alten Schnee floss. Da oben waren die Jalousien heruntergezogen. Ein Schild über der Messingklingel. Herrschaftlich. Trotz aller Kümmernisse konnte Rakel sich ein solches Schild in Bekkejordet vorstellen. An der Haustür: Simon und Rakel Bekkejordet. Nur um zu irritieren und zu verwirren. Und weil es ihr gefiel. Und weil es einfacher so wäre. Dazu dann die Klingel. Sie musste beinahe lachen.

Niemand öffnete. Sie zog einen Handschuh aus und benutzte den nackten Zeigefinger. Als ob das helfen würde. Ein Ritual, um die Menschen herbeizuzaubern. Sie spürte, wie das Geräusch sich von ihrer Fingerkuppe bis in das Haus fortpflanzte. Bis zu dem Zimmer, in dem Tora war. Ein Ruf, eine Ankündigung, dass sie, Rakel, gekommen war. Aber das Haus antwortete mit beleidigter Stille. Verwunschen und verschlossen.

Eine Bewegung da oben? Sie war sich nicht sicher. Sie klopfte laut an die Tür. Tat kund, dass sie sich nicht ohne weiteres zufriedengeben würde. Aber es geschah nichts. Sie überlegte, dass Tora vielleicht eine gewisse Zeit brauchte, um sich vorzubereiten. Nahm einen Bleistift aus der Handtasche und riss eine Seite aus dem Notizbuch heraus. Dann schrieb sie, dass sie da gewesen sei und wiederkommen werde. Schob den Zettel in den Türspalt und wandte sich zum Gehen.

Als sie ein letztes Mal hinaufsah, bemerkte sie einen Schatten am Fenster. Die Jalousie schnellte hoch. Sie glaubte, den scharfen Knall zu hören.

Tora stand wie ein gekreuzigter Schatten da. Die Sprossen im Fenster waren echt genug. Ein Kreuz. Rakel hob die Hand. Versuchte zu lächeln. Das Fenster wurde langsam nach außen aufgestoßen. Toras rotes Haar erschien in der Fensteröffnung. Rakel wusste nicht, was sie erwartet hatte.

Vielleicht ein Lächeln? Eine Entschuldigung? Ein kleines Hallo?

Aber nichts von alledem. Es war, als ob Tora sie nie gesehen hätte. Als ob sie einen zufälligen Hausierer betrachtete und wünschte, dass er seinen Spruch aufsagte und dann wieder ging.

»Hallo! Ich hab schon geglaubt, dass niemand zu Haus ist. Kann ich raufkommen?«

Es war immer noch kein Laut aus dem offenen Fenster zu vernehmen.

Der Kopf verschwand, das Fenster wurde geschlossen. Einen Augenblick stand Rakel mit einer verwirrenden Lawine von Gedanken da. Einer davon war, dass Tora ihr wohl nicht öffnen würde. Aber kurz darauf hörte sie von drinnen Schritte, und der Schlüssel wurde umgedreht.

Der Mensch in der Tür war Tora. Und war nicht Tora. Rakel blieb auf der Treppe stehen. Ihre Augen fuhren blitzartig über das junge Mädchen. Dann blickte sie verlegen zur Seite. Hatte das Gefühl, durch ein Schlüsselloch geschaut zu haben.

Das dichte Haar hing in Strähnen über die Schultern. Das Gesicht wirkte verlebt und war entsetzlich bleich. Die Augen sahen sie an, ohne zu sehen. Derselbe graue Pullover, den sie schon Weihnachten angehabt hatte. Aber der Babyspeck, die runden Formen, die Frische – die waren verschwunden. Sie konnte diesen Menschen nur mit abgrundtiefem Unglück in Verbindung bringen.

Aber natürlich. Dieser Mensch hatte den Brief an Ingrid geschrieben.

Rakel wartete nicht länger, dass Tora etwas sagen würde, sie folgte ihr einfach die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Blieb an der Tür stehen. Schweigend. Betrachtete eingehend die triste, schwere Tapete, das schmale, altmodische Bett, die dunklen Vorhänge, das Licht der Straßenlaternen, das frech durch die hohen, kahlen Fenster hereinbrach. Den Fleck auf der Wand, wo einmal ein Bild gehangen hatte, die Wachstuchdecke mit den grellen Blumen. Die großen, alten Sessel und die Plüschdecke auf dem runden Tisch. Alles hatte bessere Tage gesehen, lange vor Toras Geburt.

Rakel hängte ihren Mantel in den Gang, schlüpfte aus den Stiefeln, rieb sich die Hände, während sie zum Ofen ging.

»Es ist schön warm hier«, sagte sie und verschwand fast in einem der Sessel. Tora setzte sich auf die äußerste Kante des Schreibtischstuhls.

Auf dem Schreibtisch lagen Bücher. Tora hatte sicher gerade für die Schule gearbeitet. Auf dem Bett lagen verstreut zehn, zwölf Bücher mit Bibliothekseinband. Sonst war alles blitzsauber. Aufgeräumt bis ins kleinste Detail.

»Du lernst und lernst«, sagte Rakel lächelnd und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um sie ein wenig in Ordnung zu bringen.

Tora nickte.

»Biste allein hier?«, fragte Rakel vorsichtig.

»Ja. Frau Karlsen ist über Ostern bei Verwandten.«

Endlich konnte man ihre Stimme hören. Ganz konkret.

»Und du? Du willst nich nach Haus, hab ich gehört?«

»Hat die Mama dich geschickt?«

»Nein, keineswegs! Ich hab in Breiland was zu erledigen. Ich hab mich selbst geschickt. Aber ich musste auch nach dir sehn.«

Plötzlich fasste Rakel einen Entschluss. Ehrlich sein. Wenn sie durch diese Schale durchdringen wollte.

»Aber ich hab den Brief gesehn, den du nach Haus geschrieben hast. Du gehst also nicht auf irgendeine Tour – eine Hüttentour, nicht wahr?«

Tora starrte Rakel an. Das Gesicht, der Körper, aber vor allem die Augen spiegelten genau den Ausdruck wider, den Rakel bei Tieren gesehen hatte, wenn sie geschlachtet werden sollten. Sie schluckte.

»Was ist eigentlich los, Tora?«

»Nichts! Ich kann nur nicht. Es ist teuer und … Möchtste Kaffee?«

Das Mädchen schien aus einer Art Trance zu erwachen. Sie erhob sich jäh und ging ein paarmal ziellos im Zimmer umher. Ein nervöser, geschäftiger Tanz. Auf der Suche nach dem kleinen Kaffeekessel, der auf dem Tisch mit den Schulbüchern stand. Rakel deutete schließlich darauf. Zwei rote Flecken erschienen auf Toras Wangen. Rakel sah, wie der Schweiß auf Stirn und Oberlippe ausbrach. Sie hielt sich zurück, damit Tora sich beruhigte. Erinnerte sich plötzlich an die Episode mit Ingrid, als sie ihr geradeheraus gesagt hatte, dass sie Henrik verlassen solle. Man sollte den Menschen nicht so viel sagen. Es wurde schnell zu viel für jemanden, der den Gedanken schon gedacht und ihn dann verworfen hatte.

In mancherlei Hinsicht ähnelte Tora ihr selbst. Aber sie war trotzdem Ingrids Tochter, Ingrids Schande. Rakel war nie eines Menschen Schande gewesen.

Tora war bereits auf dem Weg nach draußen, um Kaffeewasser zu holen. Rakel merkte, dass sie sich in ein gefährliches Gebiet hineingeschwatzt hatte. Das konnte alles so undurchdringlich machen, dass sie keinen Zugang zu dem Mädchen bekam.

»Wirste dich Ostern hier amüsieren, wo du ja nicht nach Haus fahren willst?«

»Nein … Ja, das heißt …«

Tora stand mit dem Rücken zu ihr und brauchte lange, um die elektrische Kochplatte anzudrehen. Bald darauf zischte es unter dem Kessel. Sie stand gebeugt über der Platte und konnte nicht von dem Deckel mit dem roten Bakelitknopf loskommen.

»Wisch den Kessel ab, Tora! Ich werd ganz nervös, wenn das Wasser dauernd auf der heißen Platte zischt.«

Tora streckte mit einem Ruck den Nacken und nahm einen Lappen.

»Ja«, sagte sie. Lange nachdem sie den kleinen Handgriff getan hatte.

Es war schlimmer, als Rakel gedacht hatte.

»Haste Liebeskummer, Tora?« Sie versuchte, ihrer Stimme einen warmen und behutsamen Klang zu geben, aber sie merkte selbst, wie hohl sie sich anhörte.

»Nein.«

»Erzähl mir, warum du nicht nach Haus willst. Es bleibt unter uns.«

»Nein, alles ist in Ordnung.«

»Etwas muss es doch sein. Das merken wir beide, deine Mutter und ich. Sogar der Henrik hat’s gemerkt.«

Das Zittern begann gleichsam am Rocksaum. Pflanzte sich durch den kleinen Körper fort. Die Halsadern zeichneten sich plötzlich blau unter der Haut ab. Der Mund öffnete sich, und der eine Mundwinkel fiel herunter, als ob er sich ausgehakt hätte. Das Mädchen stand kerzengerade mit hängenden Armen da und zitterte.

Rakel erhob sich und nahm sie in den Arm. Der Pullover war feucht. Schweiß strömte über das Gesicht, und sie wischte ihn zaghaft fort, wie Tränen. Die Haare kräuselten sich am Haaransatz und sahen wie frisch gewaschen aus.

»Ich wart auf jemanden – verstehste …«

»Auf wen wartest du denn?«

»Auf eine, die was zu essen bekommen muss. Eine, die ihr Junges verloren hat.«

»Eine, die … was?«

Sie starrten einander in die Augen. Rakel wich aus.

»Es ist eine Vogelmutter. Sie kann jederzeit kommen.«

»Tora!«

Der Raum schwankte um sie beide. Ganz langsam. Decke und Wände. Der Fußboden. Sie waren Spielbälle im leeren Raum des Herrn. Rakel streckte die Hand aus, aber niemand ergriff sie. Tora streckte die Faust aus, aber niemand ergriff sie. So war das nun einmal.

 

Rakel schluckte und holte tief Luft, dann sagte sie sehr energisch: »Erzähl mir davon! Alles!«

»Nein. Geh jetzt bitte.«

Mit bittender Stimme. Wie Hasenpfötchen auf verharschtem Schnee.

»Ich geh nicht! Erzähl mir absolut alles!«

»Du sollst gehn!«

»Nein!!!«

Rakel verlor vollständig die Fassung und schüttelte das Mädchen heftig. Ließ sie plötzlich los und sah beschämt auf ihre Hände. Tora zog die Knie an und rutschte bis hinauf ans Kopfende, schlang die Arme um die Beine und verbarg das Gesicht. Wiegte sich sanft in ihrem eigenen Rhythmus hin und her. Hin und her. Von einer Seite zur anderen. Sie war eine Uhr. Ein Pendel, das die Minuten zwischen ihnen vorantrieb.

»Ich werd den Doktor für dich holen. Tora, du bist ja wie von Sinnen.«

Tora sah auf, mit wilden Augen. »Ich bin nicht wie von Sinnen. Ich werd auch brav sein. Ich werd alles tun, was du willst, wenn du nur nicht …«

Das Kaffeewasser kochte über. Rakel stand auf, um es in Sicherheit zu bringen. Verschüttete mehrere Löffel Kaffee, als sie den Kaffee in den Kessel geben wollte. Hörte sich sagen: »Leg dich hin und ruh dich ein bisschen aus, Tora. Du bist müde. Ich trink derweilen meinen Kaffee hier hinten und schau in deine Bücher.«

Rakel blieb am Fenster stehen und sah hinaus, ziellos. Sie stellte die gesprungene Tasse auf die Fensterbank. Das Nachmittagslicht war bläulich. Eine einsame Lärche bewegte unruhig ihre Zweige gegen etwas Unsichtbares. Irgendjemand musste vor langer Zeit ein Loch in die Erde gegraben und den Baum gepflanzt haben. Ihn behütet, ihn zum Wachsen gebracht haben. Wie zum Trotz gegen die Natur. Allzu nahe am Pol. Vielleicht lag es an der Stärke des Baumes. Vielleicht war es die schwarze, umklammernde Liebe der Erde zu den Wurzeln.

Während sie die Lärche betrachtete, geschah es. Ein spröder Laut gegen die Fensterscheibe. Ein Picken. Einsam und von nirgendwoher, wie die Luft, die sie einatmete. Unglaublich, wie alles, womit wir uns umgeben, auf das Konto »Selbstverständlichkeit« geht!

Eine Goldammer klammerte sich an die schmale Kante des Fensters. Breitete die Flügel aus und streckte den kleinen, krummen Hals vor. Klopfte. Herzschläge gegen eine kalte Fensterscheibe. Poch, poch, poch.

Toras Gesicht glättete sich. Der Körper löste sich und war auf dem Sprung zum Fenster. Endlich hatte sie die Hände an den Fensterhaken. Der Vogel schwang sich einen Augenblick empor, als ob er das Ganze geplant hätte. Ein zitternder Propeller in der Luft. Tora öffnete das Fenster. Schnell. Als ob sie Übung darin hätte. Als ob sie die Haken geschmiert, alle Trägheit aus den morschen, winternassen Fensterrahmen entfernt hätte. Als ob das Leben genau auf diesen Augenblick eingestellt wäre. Sie ging zu der Brottüte, holte ein paar Brocken, kam zurück und legte sie vorsichtig auf das Fensterbrett. Der Vogel saß ruhig in der Lärche und wartete. Wartete? Konnte das möglich sein? Rakel bekam das sonderbare Gefühl, Zeugin einer Opferhandlung zu sein. Eines Rituals, mit ihr selbst als auserwählter Zeugin. Tora stand mit leuchtendem Gesicht da, während der Vogel ein paar Bissen aufpickte, zu seinem Zweig flog, zurückkam und noch ein paar Bissen holte.

Mehrmals wiederholte sich das. Dann blieb er ruhig in der Luft stehen und bewegte nur die Flügel. Eine Art Gruß. Tora hob die Hand. Dann war er fort.

Die Bröckchen lagen wie Brandmale auf dem Fensterbrett.

Rakels Schultern fielen herunter. Tora war wieder im Zimmer.

Sie wandte sich um und sah Rakel an. Nickte stumm. Dann schloss sie sorgfältig das Fenster.

»Er wird’s jetzt allein schaffen! Hast du’s gesehn?«

Rakel versuchte, in Toras Welt hineinzukommen. Sie nickte nur ein wenig mit dem Kopf.

Sie aßen Wurstbrote, die Rakel mitgebracht hatte. Dazu tranken sie Kaffee. Saßen an dem runden Tisch mit der Plüschdecke, die Arme ziemlich hoch, weil die Armlehnen der Sessel so hoch waren.

Rakel wartete. Etwas musste ja geschehen. Sie wusste, dass sie nicht in der Lage war, Tora ohne weiteres zu verstehen. Spürte trotzdem intuitiv, dass sie auf dem richtigen Weg war.

»Frau Karlsen ist Witwe geworden«, sagte Tora schließlich und kaute nachdenklich. Ihr Gesicht hatte etwas Farbe bekommen.

»Ja, ich hab’s gehört. Nimmt sie’s schwer?«

»Er war im Altersheim. Ich glaub nicht, dass sie’s versteht. Dass er tot ist, mein ich.«

»Das ist oft so. Als deine Großmutter starb …«

»Ich glaub nicht, dass wir sterben«, unterbrach Tora. Es war deutlich, dass sie nicht zuhörte.

»Das müssen wir alle, Tora.«

»Nein, ich glaub, das ist nur eine Lüge! Ich glaub, dass wir die ganze Zeit da sind, auch wenn wir uns nicht zeigen. Deswegen macht sich auch Elisifs Gott nicht die Mühe, den Henrik sterben zu lassen. Er ist ja doch da. Die ganze Zeit.«

Rakel setzte den einen Fuß, den sie auf den anderen gestellt hatte, auf den Boden, als ob er eine Sache wäre. Er stand einen Augenblick in der Luft. Die Hand, die eigentlich die Kaffeetasse zum Mund führen wollte, sank in den Schoß.

»Warum soll der Henrik nicht sterben?«, fragte sie mit steifen Lippen.

»Nein, er kann nicht sterben. Menschen wie er können nicht sterben … Aber das macht nichts – denn ich komm ja nicht nach Haus!«

»Weil du den Henrik nicht magst?«

»Niemand mag den Henrik.«

»Hör mal zu! Du brauchst den Henrik nicht zu mögen, auch wenn er mit deiner Mutter verheiratet ist. Du kannst deswegen ruhig nach Haus fahren. Du brauchst mit dem Henrik nicht mal zu reden. War er Weihnachten hässlich zu dir?«

»Nein. Ich war gemein.«

»Wie denn?«

»Ich hab die Kaffeetasse so weit weggestellt, dass er nicht drankam, denn er hatte ja den Fuß in Gips. Ich hab ihn nicht gestützt, wenn er Hilfe brauchte, um aufs Klo zu kommen.«

Tora grinste. Die Augen glänzten wie im Fieber.

»Warum, Tora?«

»Jemand muss das machen. Damit er versteht, dass er nicht sterben kann.«

Etwas Unheimliches kroch aus den Wänden, so dass es Rakel nasskalt über den Rücken lief.

»Sag endlich, warum du den Henrik nicht leiden kannst. Was hat er dir getan? Hat er dich geschlagen? Dir gedroht?«

»Alle wissen, dass er schlägt. Ich will nicht dahin. Ich muss den Vogel füttern.«

Tora vergrub ihre Finger in Rakels Windjacke, beugte sich vor und sah ihr in die Augen. Jemand hatte mehrere Kerzen tief drinnen hinter der Netzhaut angezündet. Nun flackerten sie im Wind. Wind woher?

Wie ein Kind. Ein kleines Kind, dachte Rakel. Tora ließ Rakels Jacke los. Lachte. Es hörte sich an, als ob Heftzwecken in einer Tabakbüchse klapperten.

»Alle wissen, was der Henrik tut, außer einer Sache.«

Tora schloss den Mund. Ganz fest. Schürzte die Lippen und wiegte sich hin und her.

»Was für eine Sache?«

»Er weiß nicht, dass er ein Vogeljunges hat. Er weiß nicht, dass die Vogelmutter um Brot an meinem Fenster bettelt. Er weiß nichts von sich selber.«

»Dass er ein Vogeljunges hat …?«

»Du hast doch den Vogel gesehn, nicht wahr? Er kam, obwohl du hier warst! Nicht wahr?«

»Ja, Tora, ich hab den Vogel gesehn. Kannste mir erklären, was der Henrik mit dem Vogel zu tun hat?«

»Er ist der Vater von dem Vogeljungen, verstehste das nich … Er ist zu groß, um der Vater von einem Vogel zu sein …«

Rakel versuchte klar zu sehen. Irgendetwas stimmte nicht mit der Tapete. Über dem Bett waren die Bahnen nicht richtig nebeneinandergeklebt. Das Samtmuster passte nicht aufeinander. Die Augen wanderten von der einen Tapetenbahn zur anderen.

»Halt mich nicht zum Narren, Tora.«

Toras Augen schauten durch Rakel hindurch. Die Stimme wurde eindringlich leise. Als ob sie einen Traum erzählte, der Eindruck auf sie gemacht hatte. Als ob sie von einem Buch berichtete, das sie gelesen hatte.