Medizin als Heilsversprechen

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Die Richtungen der Analyse lassen sich in diesem Sinne in folgenden Fragen zum Ausdruck bringen:

 Wie und wo sucht der heutige Mensch diese Erfüllung (Heilung und Heil) für Leib und Seele? – Wie und wo nicht?

 Von wem erhofft er diese Erfüllung (Heilung und Heil) für Leib und Seele? – Von wem nicht?

 Wie und wo findet er diese Erfüllung (Heilung und Heil) für Leib und Seele? – Wie und wo nicht?

 Worin besteht für den Menschen diese Erfüllung (Heilung und Heil) eigentlich? – Worin nicht?

 Gibt es nur eine Erfüllung für Leib und Seele oder kann diese in den Vorstellungen der Befragten durchaus unterschiedlich aussehen?

So kann das Ziel der Untersuchung mit der Frage zusammengefasst werden: Mit welchen unterschiedlichen Erwartungen und an wen wenden sich Menschen in ihrer Sehnsucht nach Heilung und Heil, um Erfüllung für ihr Leben an Leib und Seele zu finden?

Diese Frage ist aus dem Blick theologischer Ethik entscheidend, um sowohl für die suchenden und erwartungsvollen Menschen als auch für die, die bei der Erfüllung von Erwartungen helfen sollen, das Zueinander zwischen Medizin und Glaube heute angemessen reflektieren zu können. Hier liegt das eigentliche Ziel der Untersuchung, auch wenn sie im Sinne einer Grundlagenforschung nur die Analyse der Differenz und Konvergenz von Medizin und Glaube leisten kann, ohne konkrete Konsequenzen für die Gestaltung von medizinischer oder auch kirchlicher Praxis im Einzelnen beleuchten zu können. Aber es ist die Arbeit an der konkreten Erfahrung der Spannung zwischen medizinischer und religiöser Kultur heute, welche aus dem Blickwinkel der Moraltheologie die Voraussetzung für ethisch verantwortbare Praxis in beiden Feldern darstellt.

1.3. Das Verhältnis von Medizin und Glaube – Forschungsbericht

Sowohl die medizinische als auch die theologische Wissenschaft sind sich heute darin einig, dass der Mensch nur als Leib-Seele-Einheit zu begreifen ist, das heißt, es gibt ihn nur als leibhaftige Seele bzw. als beseelten Leib. Aus diesem Wissen, besser aber noch aus dieser Erfahrung leitet sich der Zusammenhang vom körperlichen und seelischen Wohl bzw. Leiden des Menschen ab. Aus diesem Zusammenhang wiederum ergeben sich Erwartungen der Menschen an Medizin und Glaube. Diese Erwartungen bestimmen das Verhältnis von Medizin und Theologie. Mit welchen konkreten Erwartungen sich Menschen heute aber speziell an die Medizin bzw. die kirchliche Seelsorge wenden, ist im deutschsprachigen Raum, so haben Recherchen im Rahmen dieser Arbeit ergeben, derzeit noch nicht hinreichend erforscht. Ansätze, dem körperlichen und seelischen Wohl des Menschen zu dienen, werden einerseits auf medizinischem und andererseits auf theologischem Feld reflektiert. Für das Miteinander von medizinischer Praxis und dem Vollzug religiöser Wirklichkeitsbewältigung im Umgang mit Gesundheit und Krankheit werden in der Literatur Konzepte beschrieben, welche das komplementäre Verhältnis von Medizin und Theologie einzufangen versuchen.

Der Theologe Eugen Biser spricht von einer „therapeutischen Theologie“, die keine theologische Spezialform neben anderen ist, „sondern die Form, in welcher die theologische Sache heute allein verhandelt werden kann“16. Für Biser entwickelte sich eine Entzweiung von Theologie und Medizin bereits in den Evangelien, in denen die Heilungsgeschichten anfänglich noch durchweg Glaubensgeschichten sind, mehr und mehr aber zum Argument für Jesu göttliche Vollmacht werden. Darin sieht Biser den Beginn der argumentativen und spekulativen Verarbeitung der Botschaft Jesu, aus der die wissenschaftliche Theologie hervorging, in deren weiterem Verlauf sich der therapeutische Bereich abspaltete: für Biser der Preis für die Ausgestaltung des Wissenschaftscharakters der Theologie.17 Je abstrakter die so entstandene Systemtheologie wurde, umso mehr verlor sie nach Biser die Sprachfähigkeit, die sie zur Heilszusage befähigte.18

Wie Eugen Biser beklagt auch Brigitte Fuchs die verloren gegangene biblische Anthropologie einer Leib-Seele-Einheit und sieht in der gegenseitigen Entflechtung von Medizin und Theologie keine wesensmäßige Ergänzung beider Sektoren. Es sei ein Graben zwischen den Kompetenzbereichen der Kirche – für das Seelenheil – und der Medizin – für die körperliche Heilung – entstanden, in den der leidende Mensch falle, weil er mit der Frage, wie seine Krankheit in seinen Glaubens- und Lebensweg zu integrieren sei, allein gelassen werde. Eine kopflastig gewordene Theologie könne dem leidenden Menschen nicht mehr geben, was ihm eine naturwissenschaftliche Medizin schuldig bleibe. Auf diesem Erfahrungshintergrund entwickelte Brigitte Fuchs auf der Grundlage des christlichen Glaubens ein therapeutisches Meditationsprogramm, das den religiösen Glauben der Patienten für ihren Heilungsprozess fruchtbar machen soll.19

Für den Mediziner Herbert Benson spielen der Glaube und die Erwartungshaltung eine eminent wichtige Rolle für einen jeden Heilungsprozess. Er fordert dazu auf, an das Gute zu glauben oder an etwas, das besser ist als alles, was Menschen sich vorstellen können, und bezeichnet einen solchen Glauben als eine ausgezeichnete Medizin für uns Sterbliche.20 Gesundheit und Wohlbefinden hält Benson für optimierbar im richtigen Zusammenspiel der drei Komponenten Medikamente, Operationen (und andere Eingriffe) und Selbstfürsorge. Diese Komponenten bezeichnet er als den „dreibeinigen Stuhl“ und beklagt zugleich, dass in der heutigen medizinischen Praxis dieser Stuhl nicht im Gleichgewicht ist, weil wir viel zu wenig auf die Selbstfürsorge und viel zu stark auf Medikamente und medizinische Eingriffe setzen.21 Eine unersetzliche Rolle innerhalb der Selbstfürsorge spielt für Herbert Benson das von ihm so genannte „erinnerte Wohlbefinden“, das er in drei Arten unterteilt: Glaube und Erwartungshaltung auf Seiten des Patienten; Glaube und Erwartungshaltung auf Seiten des behandelnden Arztes; Glaube und Erwartungshaltung, die durch die Partnerschaft zwischen Patient und Arzt entstehen.22

Nach den Beziehungen von Medizin und Spiritualität im Blick darauf, was den Menschen heil macht, fragt der Arzt Santiago Ewig und stellt zunächst nüchtern fest: „Spiritualität spielt in unserem ärztlichen Handeln wenn überhaupt nur noch eine hintergründige Rolle in der Praxis des einzelnen Arztes; in der Medizin als Betrieb hat sie ausgedient.“23 Dabei sei Spiritualität nicht der Medizin unterlegen, da sich beide auf sehr unterschiedlichen Ebenen bewegen. Während die Sorge der Medizin dem Körper gehöre, so gelte die der Spiritualität der inneren Gesundung des existenziell Kranken und greife damit weit über die körperliche Verfassung aus auf die absolute Zukunft des Kranken. Wenn auch die Bedingungen für eine gelebte Spiritualität in der Medizin heute ohne Frage ausgesprochen ungünstig seien, sieht Ewig gerade in der Spiritualität eine Angelegenheit der Graswurzelrevolution, die im Kleinen stattfinde und sich außerhalb des Gemachten, der Technik, ereignen müsse. Die Kirchen seien sich gar nicht bewusst, was für ein Potential der Verkündigung offenstehe und wie richtungweisend eine Auffassung von Medizin, die Spiritualität zulässt und sich von ihr umgreifen lasse, in unserer Gesellschaft wirken könne.24

Elisabeth Hofstätter verweist darauf, dass Religion als Privatangelegenheit im naturwissenschaftlich orientierten Krankenhausalltag marginalisiert worden sei und man durch ein Pro-forma-Angebot eines Seelsorgers meine, die spirituellen Bedürfnisse der Patienten berücksichtigt zu haben. Ob in einem naturwissenschaftlich orientierten Krankenhaus die Patienten ihre spirituellen Bedürfnisse überhaupt zu äußern wagten, sei die eine Frage; eine andere die nach den spirituellen Bedürfnissen konfessionsloser Patienten. Eine Zusammenarbeit von Therapeuten und Seelsorgern in städtischen Krankenhäusern sieht Hofstätter wenig reflektiert und organisiert und eher in einem Konkurrenzverhältnis zueinander als in einem förderlichen Miteinander, das dem Wohl und der Heilung des Patienten dienen würde.25

Für den Mediziner und Theologen Roland W. Moser ist es unstrittig, dass die heutige moderne, technisierte Medizin auf den „engen interdisziplinären Dialog mit den Geisteswissenschaften, der philosophischen Wissenschaft, der Theologie und der Ethik angewiesen“26 ist. So wie die Theologie heute neuere Einsichten über den Menschen von der Medizin und Biologie aufnehme und sie theologisch integriere, so müsse umgekehrt heute auch die Medizin dazu bereit sein, neuere Einsichten über den Menschen von den Geisteswissenschaften, der Theologie, der Philosophie, der Ethik, der Soziologie und der Politik aufnehmen und diese medizinisch integrieren. Obwohl der Begriff „Interdisziplinarität“ zu einem Schlagwort geworden sei, spricht Moser vom Eindruck, dass bei der Suche nach interdisziplinärer Zusammenarbeit unnötige Widerstände aufgebaut werden gegen das, was weiterhelfen könnte, und er fragt, ob sich hinter diesen Widerständen Angst oder Vor-Urteile verbergen, die dieses notwendige interdisziplinäre Denken so schwierig machen.27

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bereits im Jahr 2000 in den USA die Frage auftauchte, ob Ärzte religiöse Begleitungen für Todkranke verschreiben sollten. Die Frage wurde dort mit einem wachsenden Interesse der Öffentlichkeit und der Ärzte an Religion im medizinischen Bereich begründet. In Deutschland schlägt sich dies in einem neuen Fachgebiet nieder. Seit 2011 gibt es an der Ludwig-Maximilians-Universität München einen eigenen Lehrstuhl für „spiritual care“, also für spirituelle Anteilnahme, Fürsorge, Pflege. Die beiden Lehrstuhlinhaber (Eckhard Frick, kath.; Traugott Roser, ev.) schulen Mediziner und Angehörige anderer Gesundheitsberufe.28

 

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Gesundheit, Heil und Heilung in ihrer Bezogenheit aufeinander interpretiert werden und somit Medizin und Glaube in direkte Beziehung kommen.

Die Analyse der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube soll aber helfen, die Ansätze seitens medizinischer und theologischer Wissenschaft aufgrund einer empirischen Untersuchung in weitere fruchtbare Beziehung zu bringen.

1 „Die wissenschaftliche Entwicklung in der Medizin hat ein Anspruchsdenken gefördert, das regelmäßig nicht erfüllt werden kann.“ B. Ballhausen, Das arztrechtliche System als Grenze der arbeitsteiligen Medizin. Zugleich ein Beitrag zur privatrechtsdogmatischen Integration des Arztrechts (Göttinger Schriften zum Medizinrecht 14), Göttingen 2013, 10.

2 Zit. nach http://www.alternative-gesundheit.de/gesundheit-ist-das-hoechste-gut-des-menschen.html (abgerufen am 31.10.2015).

3 Vgl. F. Unger, Paradigma der Medizin im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, 41.

4 Kristall Sauna-Wellnesspark mit Soletherme, Köstritzer Straße 16, 07639 Bad Klosterlausnitz.

5 Toskana-Therme, Wunderwaldstraße 2a, 99518 Bad Sulza.

6 Vgl. Toskanaworld GmbH (Hg.), Flyer „toskanaworld.net, glück und gesundheit.“, Bad Sulza 2011.

7 M. Lütz, Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den FitnessKult, München 2002, 18.

8 Vgl. M. Schweiger, Medizin. Glaube, Spekulation oder Naturwissenschaft? Gibt es zur Schulmedizin eine Alternative?, München 22005, 148.

9 Hier zitiert nach M. Schlackl, Was ist Wellness?, in: „geist.voll“ 4/2006, 4–8: 5.

10 Zum Begriff vgl. z. B. Gabriel, K., Gesundheit als Ersatzreligion. Empirische Beobachtungen und theoretische Reflexionen, in: Hoff, G.-M. / Klein, C. / Volkenandt, M. (Hg.), Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen. Umdeutungen von Gesundheit und Krankheit (Grenzfragen 33), Freiburg/Br. 2010, 25–43.

11 Vgl. L. Honnefelder, Gesundheit – unser höchstes Gut? Anthropologische und ethische Überlegungen, in: Hoff, G.-M. / Klein, C. / Volkenandt, M. (Hg.), Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen, Freiburg/Br. 2010, 111–127: 111f.

12 Vgl. L. Honnefelder, Gesundheit — unser höchstes Gut?, 112.

13 Ebd., 112f.

14 Vgl. ebd., 113.

15 L. Honnefelder, Gesundheit – unser höchstes Gut?, 113f.

16 Vgl. E. Biser, Kann Glaube heilen? Zur Frage nach Sinn und Wesen einer therapeutischen Theologie, in: Fuchs, B. / Kobler-Fumasoli, N. (Hg.), Hilft der Glaube? Heilung auf dem Schnittpunkt zwischen Theologie und Medizin, Münster 2002, 35–56: 45.

17 Vgl. ebd., 35f.

18 Vgl. ebd., 37.

19 Vgl. B. Fuchs, Therapeutische Meditationen, in: Fuchs, B. / Kobler-Fumasoli, N. (Hg.), Hilft der Glaube? Heilung auf dem Schnittpunkt zwischen Theologie und Medizin, Münster 2002, 98–111.

20 Vgl. H. Benson, Heilung durch Glauben. Selbstheilung in der neuen Medizin, München 1997, 363.

21 Vgl. ebd., 27.

22 Vgl. ebd., 37.

23 S. Ewig, Medizin und Spiritualität – was macht uns heil?, in: ZME 58 (2012), 341–349: 341.

24 Vgl. ebd., 347–349.

25 Vgl. E. Hofstätter, Religion und Krankenhaus – Partner beim Heilen? Einige Überlegungen zu einer wechselvollen Geschichte, in: Futterknecht, V. / Noseck-Licul, M. / Kremser, M. (Hg.), Heilung in den Religionen. Religiöse, spirituelle und leibliche Dimensionen (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Religionswissenschaft 5), Wien 2013, 371–391: 373f.

26 R. W. Moser, Jesus Christus, der Arzt. Krankheit und Heilung in der Bibel, Freiburg/ Schweiz 2012, 179.

27 Vgl. ebd., 179f.

28 Vgl. N. Jachertz, Die Hilfen beim Sterben, in: CIG 22 (2013), 257–258: 258.

2. Kapitel:

Gesundheit, Heil und Heilung – Zugänge

Ausgangspunkt der hier vorgelegten Untersuchung ist die Deutung von Gesundheit, Heil und Heilung im gegenwärtigen Kontext. Im Rückgriff auf die alltägliche Sprachwelt und standardisierte Begriffsbestimmungen soll – über die im ersten Kapitel der Arbeit eher zufällig gesammelten Belege hinaus – deutlich werden, inwiefern im gegenwärtigen Bewusstsein Medizin und religiöser Glaube unterschieden werden und in welchem Sinne sie möglicherweise auch konvergieren. Es soll fassbar werden, welches Vorverständnis diese Dimensionen des menschlichen Lebens gegenwärtig prägen und begleiten, gerade in ihrer Differenz und Konvergenz. Denn es ist dieser Kontext, welcher dann die nähere Untersuchung der Erwartungen an Medizin und Glaube, die im empirischen Teil der Arbeit erhoben werden, in ihrer Besonderheit und Qualität des Ausdrucks verständlich machen soll. Kurz gesagt: Die Skizzierung einer ersten Basis der Interpretation von Gesundheit, Heil und Heilung im Kontext des gegenseitigen Verständnisses von Medizin und religiösem Glauben hebt den Kontrast und die Zuordnung der beiden Bereiche des modernen Lebens in ihrer Ausrichtung und Bedeutung heraus, bevor und damit die konkreten Erwartungen von Menschen an sie in ihrer Signifikanz gedeutet werden können.

2.1. Die Verborgenheit der Gesundheit

Nicht erst heute, sondern zu allen Zeiten spielte die Gesundheit eine nicht unwesentliche Rolle im Leben des Menschen. Sie bedeutete ihm nicht nur etwas, sondern wahrlich viel, gleichwohl sie zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich umschrieben wurde.

„Gesundheit war – trotz aller Jenseitsbezogenheit – [zum Beispiel] auch für den mittelalterlichen Menschen ein von Gott geschenktes Gut von hohem irdischem Wert. Sie galt ihm – nach Glaube und Hoffnung auf ein seliges Leben nach dem Tode – sicher ebenso viel wie Familie, städtische und ländliche Gemeinschaft mit kollektivem Frohsinn und kollektiver Trauer, mit Essen und Trinken, mit Kleidung und Arbeit.“29

Die im ersten Kapitel an den Erfahrungen der Lebenswelt entlang anfanghaft skizzierte und angedeutete quantitative und qualitative Ausweitung der Erwartungen an Gesundheit zeigt sich aber noch einmal daran, dass auch auf der Ebene der Begriffsbestimmungen und Deutungen von Gesundheit eine Pluralität zum Vorschein kommt. Dass Gesundheit nicht irgendein, sondern ein herausgehobener Begriff ist, macht schon die Tatsache deutlich, dass es heute eine Fülle von Definitionen und Erklärungen dafür gibt, was Gesundheit bedeutet.

2.1.1. Pluralität der Interpretation

Beate Jakob stellt in einem Aufsatz von 2007 zu Vergleichszwecken verschiedene Gesundheitsdefinitionen vor, die ein je eigenes Menschenbild widerspiegeln und Aussagen zu der Frage beinhalten, welche Werte dabei leitend sind und was der Sinn des Lebens ist.30

Als Definition, die nur auf wenige Dimensionen des Menschen beschränkt bleibt, wird exemplarisch die des „Roche Lexikon Medizin“ angeführt:

„Gesundheit ist das subjektive Fehlen körperlicher und seelischer Störungen bzw. die Nichtnachweisbarkeit entsprechender krankhafter Veränderungen.“31

Die viel zitierte Definition von Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1948 gilt dagegen als eine, die mehrere Dimensionen des Menschseins im Blick hat:

„Gesundheit ist der Zustand eines vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“32

Als Gesundheitsdefinitionen, die Aussagen über Werte und über den Sinn des Lebens beinhalten, werden die folgenden genannt:

„Gesundheit ist Arbeits- und Genussfähigkeit.“ (Sigmund Freud)

„Gesundheit ist die Kraft zum Menschsein.“ (Karl Barth)

„Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben.“ (Christoffer Grundmann)

„Gesundheit ist die Kraft zur Verwirklichung der dem Menschen aufgegebenen Lebensbestimmung.“ (Ulrich Eibach)

„Gesundheit ist die Fähigkeit des Patienten, sein Leiden und Gebrechen in sein Leben sinnvoll hinein zu nehmen, mit Geduld und Toleranz.“ (Wolfgang Furch)33

Und als ein „harmonisches Zusammenspiel, eine Balance von Geist, Körper und Seele“ versteht Felix Unger Gesundheit und meint – allerdings im Gegensatz zur Gesundheitsdefinition der WHO:

„Gesundheit sollte indes eher als subjektives Wohlbefinden ohne Erkrankungen gelten, die eine Integration in die Gesellschaft und die Erwerbstätigkeit verhindern oder erschweren – eine harmonische Balance zwischen Geist – Seele – Körper.“34

Für Eberhard Schockenhoff muss Gesundheit

„als die Fähigkeit verstanden werden, mit Einschränkungen und Verletzungen leben und den eigenen Aufgaben in Familie und Beruf unter Belastungen nachgehen zu können“35.

Nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN ist die Gesundheit sogar ein Grundrecht.36

Hans-Georg Gadamer spricht vielleicht auch aufgrund dieser verwirrenden Pluralität der Interpretationen und Deutungen von der „Verborgenheit der Gesundheit“, in der das „eigentliche Geheimnis“ liegt:

„Sie [die Gesundheit] bietet sich nicht selbst an. Natürlich kann man auch Standardwerte für die Gesundheit festlegen. Wenn man aber etwa einem gesunden Menschen diese Standardwerte aufzwingen wollte, würde man ihn eher krank machen. Es liegt eben im Wesen der Gesundheit, dass sie sich in ihren eigenen Maßen selbst erhält. Die Gesundheit lässt sich Standardwerte, die man auf Grund von Durchschnittserfahrungen an den Einzelfall heranträgt, als etwas Ungemäßes nicht aufzwingen. […] Wenn man Gesundheit in Wahrheit nicht messen kann, so eben deswegen, weil sie ein Zustand der inneren Angemessenheit und der Übereinstimmung mit sich selbst ist, die man nicht durch eine andere Kontrolle überbieten kann. Deshalb bleibt die Frage an den Patienten sinnvoll, ob er sich krank fühlt.“37

Obwohl sich Gesundheit nach Gadamer verbirgt,

„kommt sie aber in einer Art Wohlgefühl zutage, und mehr noch darin, dass wir vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren – das ist Gesundheit.“38

Obwohl Gadamer die Frage, ob sich ein Patient krank fühlt, für sinnvoll erachtet, wäre es für ihn

„fast lächerlich, wenn einer einen fragte: ‚Fühlen Sie sich gesund?‘ Gesundheit ist eben überhaupt kein Sich-Fühlen, sondern ist Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig oder freudig erfüllt sein.“39

Im anschaulichen Vergleich mit dem Fahren auf einem Zweirad versucht Gadamer Gesundheit schließlich als einen Gleichgewichtszustand

zu denken:

„Gleichgewicht ist wie Gewichtslosigkeit, da sich die Gewichte gegeneinander ausspielen. Störung von Gleichgewicht kann nur durch Gegengewichtung behoben werden. […] So nähern wir uns mehr und mehr dem, was Gesundheit eigentlich ist. Sie ist die Rhythmik des Lebens, ein ständiger Vorgang, in dem sich immer wieder Gleichgewicht stabilisiert.“40

2.1.2. Gesundheit als Ermöglichungsgrund und Richtwert

Vielleicht ganz im Sinne dieser Balance beschreibt Ingo Proft das Gut „Gesundheit“ als Ermöglichungsgrund. Zugleich legt er bei ihrer Beschreibung Wert auf eine begriffliche Einordnung, die ihn zu folgenden „vier Verständnismodi von Gesundheit“ führt:

 Funktionaler Gesundheitsbegriff

 Subjektiver Gesundheitsbegriff

 Rollentheoretischer Gesundheitsbegriff

 Ebene der Gesellschaft.41

Proft verweist dabei in der Erklärung dieser Modi darauf, dass sich gerade Begriffsdefinitionen als nicht unproblematisch erweisen, „ist [doch] das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit in wesenhafter Weise von den gesellschaftlich-kulturellen wie individuellen Anschauungen und Wertvorstellungen geprägt“42.

Ein funktionaler Gesundheitsbegriff, der bestimmt wird von der biologischen Funktions- und Leistungsfähigkeit des menschlichen Organismus, ist an einen objektiven, naturwissenschaftlich erhebbaren Befund gebunden, wobei artspezifischen Durchschnittswerten besondere Bedeutung zukommt. Ein solcher funktionaler Gesundheitsbegriff bleibt nach Proft jedoch deshalb unvollständig, da er die Perspektive des beteiligten Subjektes nicht berücksichtigt.43

 

Ein subjektiver Gesundheitsbegriff berücksichtigt die individuell unterschiedlichen Differenzen in der Selbstinterpretation von Funktionsstörungen des eigenen Körpers und konstituiert den Gesundheitszustand bzw. die Krankheit erst aus der Verbindung von eigenem Urteil, empirischem Befund und persönlichem Umgang.44

Ein rollentheoretischer Gesundheitsbegriff bringt das soziologische Verständnis von Gesundheit zur Sprache und lässt denjenigen als gesund erscheinen, der seine soziale(n) Rolle(n) innerhalb der Gesellschaft auszuüben in der Lage ist.45

Bei all diesen Deutungsweisen gilt aber letztlich:

„Der Gesellschaft kommt eine dual komplementäre Aufgabe zu, wird sie einerseits selbst von der Beziehungsgestaltung Leistungsempfänger und Leistungsanbieter als individuell involvierte Größe beeinflusst, wirkt sie andererseits als institutionelles Konstrukt auf diese zurück. Als besonders diffizil ist der Umgang mit der pluralen Gestalt individueller Werthaltungen zu bezeichnen, der auf eine gesamtgesellschaftliche Verobjektivierung drängt.“46

Proft beschreibt Gesundheit somit als „ein fundamentales Gut, ohne das die autonome Führung eines gelingenden Lebens und die gesellschaftliche Partizipation deutlich erschwert wird“47.

Um in diesem Sinne Gesundheit als „Ermöglichungsgrund“ zu verstehen, setzt seine Interpretation schließlich bei Wolfgang Kersting an, dessen poetische Darstellung „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts“48 nach diesem Verständnis weiterhilft und den Begriff „Ermöglichungsgrund“ in wesentlicher Weise für die Gesundheit mitprägt, weil sie diese weiter als ein „transzendentales oder ein konditionales Gut“ charakterisiert.49 Das heißt:

„Hierhinter verbirgt sich ein Gesundheitsverständnis, wonach dieses die Bedingung der Möglichkeit der wesenhaften Realisierung einer Vielzahl von Lebensvollzügen und Lebensqualitäten umfasst.“50

Demgegenüber tritt Gesundheit dem Menschen als

„Richtwert im Umfeld persönlicher Verantwortung entgegen, zu deren Erhaltung und Förderung, etwa in der Vermeidung unüberlegter Risiken und Gefährdungen, der Mensch von Anfang an aufgerufen ist“51.

Damit ist gesagt:

„Richtwerte stellen Toleranzgrenzen und angestrebte Werte auf. Gesundheit als Richtwert formiert daher in kultur- und nationalspezifischer Ausprägung kommunikable Spezifikationen und Vergleichsgrößen.“52

2.1.3. Christlich-theologische Deutungen

Interessant für die hier vorliegende Untersuchung ist, dass auch für die Theologie die Gesundheit seit jeher ein bedeutender Gegenstand ihrer Betrachtungen ist, die zu einer Pluralität von Definitionen geführt haben. So beschreibt das Lexikon für Theologie und Kirche (LThK) in seiner zweiten Auflage den Begriff Gesundheit in einer sensiblen Weise:

„G. [Gesundheit] ist nicht bloß ein physiologisch fehlerfreies Funktionieren des Leibes, sondern ein objektives seelisch-leibliches Wohlbefinden.“53

Unübersehbar weist diese Beschreibung von Gesundheit sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede im Vergleich zur Gesundheitsdefinition der WHO auf: Auch hier ist die Rede von einem Wohlbefinden, sogar in gleicher Weise von einem seelisch-leiblichen (WHO: körperlichseelischen), jedoch spricht die christliche Deutung von Gesundheit nicht von einem „vollkommenen“, sondern von einem „objektiven“ Wohlbefinden. In einer solchen sprachlichen Differenzierung drückt sich vielleicht aus, worauf im Rahmen dieses Artikels in der dritten Auflage des LThK Dietrich v. Engelhardt verweist: Dass die WHO in ihrer Definition von Gesundheit mit Recht soziale und geistige Bereiche berücksichtige, zugleich aber von einem utopischen Ideal ausgehe. Gesundheit könne demgegenüber aber auch als Fähigkeit verstanden werden, mit Behinderungen und Schädigungen leben zu können. Gesundheit habe einen positiven Gehalt, sei mehr als bloß das Fehlen von Krankheit und sei zugleich wesenhaft auf den Tod bezogen.54

So wird deutlich, dass im Kontext theologischer Horizonte Dimensionen benannt werden, welche die existenziellen Erfahrungen von Leid, Vergänglichkeit und Tod nicht ausklammern.

Im Sinne dieser Ganzheitlichkeit lassen sich freilich Parallelen sowohl von diesen Erklärungen als auch von der Definition der WHO her zu der Beschreibung der Christian Medical Commission (CMC) des Weltrats der Kirchen von 1989 ziehen, die formuliert:

„Gesundheit ist eine dynamische Seinsart des Individuums und der Gesellschaft, ein Zustand des körperlichen, seelischen, geistigen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wohlbefindens, der Harmonie mit den anderen, mit der materiellen Umwelt und mit Gott.“55

Die theologische Qualität einer solchen Hermeneutik kommt damit unmittelbar zum Ausdruck: Hier werden die Dimensionen, unter denen Gesundheit gesehen wird, um ein Vielfaches erweitert und letztlich in Verbindung mit Gott gebracht. Auffallend ist auch hier die fehlende „Vollkommenheit“ in Bezug auf das Wohlbefinden, in welcher Dimension auch immer. Das heißt: Das theologische Wissen um die Unverfügbarkeit der letzten Vollkommenheit in Gott lässt innerweltliche Vorstellungen der Fülle und vollendeten Integrität in ihrer Relativität deutlich werden. Dies scheint zunächst der augenfällig gravierendste Unterschied zwischen christlichen und anderen Gesundheitsdefinitionen zu sein.

Die Bischöfe des deutschen Sprachgebietes formulieren ganz in diesem Sinne in der pastoralen Einführung zur Feier der Krankensalbung:

„Die Gesundheit ist ein hohes Gut, doch ist sie nicht das einzige Gut im menschlichen Leben“56

Das theologische Anliegen lässt sich pointiert vielleicht so fassen: Gesundheit wird christlich als ein bestimmter Zustand beschrieben, jedoch bewusst als kein vollkommener.

„Sie [die Gesundheit] ist immer relativ zum Heil zu betrachten.“57

Damit ist gesagt: So sehr Gesundheit in Relation zum Heil steht, bewirkt sie nicht (automatisch) Heil. Franz Noichl spricht deshalb von einer komplexen theologischen Auffassung in Bezug auf die Relation zwischen Gesundheit und Heil, welche das theologische Urteil immer begleitet und beachten muss: von vielen Überschneidungen bei den Begriffen Norm (Normalität), Gesundheit und Heil auf der einen Seite und von dem Problem auf der anderen, dass scharfe Abgrenzungen kaum möglich sind.58

2.1.4. Fazit

Versucht man den Befund zum Vorverständnis von Gesundheit auf der Basis der Definitionen in der Literatur zusammenzufassen, dann ergibt sich das folgende Bild vielfacher Zugänge: Im Vergleich mit anderen Begriffen gibt es wohl nur wenige, die eine solch große Bandbreite von möglichen Definitionen und Deutungen kennen, wie es in Bezug auf die Gesundheit der Fall ist. Für die kritische Sichtung bedeutet dieses Ergebnis aber: Schon an dieser Stelle zeigt sich die Notwendigkeit einer kritischen Zurückhaltung in Bezug auf das Ziel von Erwartungen – sei es an die Medizin (also dem professionellen Handlungsfeld der Sicherung, Rückgewinnung und Gestaltung von Gesundheit), sei es an den religiösen Glauben (als dem Bezugspunkt der Hoffnung auf Schutz vor Zerstörung, auf Stabilisierung und Unterstützung bei der Bewältigung von Risiken im Lebensumfeld der Gesundheit). Allein die Tatsache der Pluralität der Interpretationen verweist bereits auf eine Uneinigkeit darüber, was Gesundheit letztlich und in ihrer Gänze sein könnte.

Damit ist gesagt: Gesundheitsdefinitionen nähern sich von ganz verschiedenen Blickrichtungen dem Begriff und reichen vom Bemühen, sie allumfassend und in jeglicher Hinsicht definieren zu wollen bzw. zu können bis hin zur Erklärung, dass sie undefinierbar sei.59

Und es ist genau diese Unbestimmbarkeit, welche auch den kritischen Vorbehalt theologischer Deutung verständlich werden lässt. Er erschließt sich – genauer gefasst – als eine Art Kritik im Lichte der eschatologischen Unverfügbarkeit der letzten Erlösung des Menschen. Den spezifisch theologisch-christlichen Definitionen ist übereinstimmend eigen, dass sie die Gesundheit als ein hohes Gut ansehen, niemals aber als das höchste. So sehr Gesundheit auch hier als ein Zustand der Harmonie und des Wohlbefindens beschrieben wird, sie gilt niemals als ein vollkommener Zustand für den Menschen bzw. als seine Glückseligkeit. Grund dafür ist, so zeigt nun die genauere Analyse des zweiten Grundbegriffs dieser Arbeit – des Begriffs vom Heil (Heiligung) – das Wissen um die notwendige Geschenkhaftigkeit einer letzten Integrität von Leben und Dasein von Gott her.

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