Medizin als Heilsversprechen

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Abkürzungsverzeichnis

Alle verwendeten und hier nicht eigens aufgeführten Abkürzungen entsprechen dem Abkürzungsverzeichnis des LThK Bd. XI, Freiburg/Br. 32001. Textstellen aus der Heiligen Schrift sind der Einheitsübersetzung (31990) entnommen.

1. Allgemeine und fachliche Abkürzungen und Zeichen


AOKAllgemeine Ortskrankenkasse
BRegressionskoeffizient
CICCodex Iuris Canonici (1983)
CIGChrist in der Gegenwart
DifämDeutsches Institut für Ärztliche Mission e. V.
EWUEuropäische Wellnessunion
FBFachbereich
FSUFriedrich-Schiller-Universität (Jena)
GLGotteslob (2013)
GSGaudium et Spes
(J)Jahre
LThKLexikon für Theologie und Kirche
(n)Patientenanzahl
par.in Parallele zu
p-WertSignifikanzwert; Überschreitungswahrscheinlichkeit
R2Bestimmtheitsmaß
UKJUniversitätsklinikum Jena
Vat. II.Vaticanum secundum / Zweites Vatikanisches Konzil
vs.versus
w.wörtlich
WHOWorld Health Organization
ZMEZeitschrift für medizinische Ethik

2. Abkürzungen und Namen biblischer Bücher

Altes Testament


ExDas Buch Exodus
NumDas Buch Numeri
TobDas Buch Tobit
1 KönDas erste Buch der Könige
2 MakkDas zweite Buch der Makkabäer
PsDas Buch der Psalmen
SprDas Buch der Sprichwörter
WeishDas Buch der Weisheit
SirDas Buch Jesus Sirach
JesDas Buch Jesaja
EzDas Buch Ezechiel

Neues Testament


MtDas Evangelium nach Matthäus
MkDas Evangelium nach Markus
LkDas Evangelium nach Lukas
JohDas Evangelium nach Johannes
ApgDie Apostelgeschichte
PhilDer Brief an die Philipper
KolDer Brief an die Kolosser
1 TimDer erste Brief an Timotheus
TitDer Brief an Titus
JakDer Brief des Jakobus
1 PetrDer erste Brief des Petrus
1 JohDer erste Brief des Johannes
3 JohDer dritte Brief des Johannes

1. Kapitel:

Sehnsucht nach Gesundheit

1.1. Die ganz alltägliche Hoffnung auf Gesundheit – ein religiöses Verlangen?

Die Medizin und ihre Möglichkeiten, Gesundheit zu erhalten und zu stabilisieren, sind in der modernen Gesellschaft Gegenstand vieler Erwartungen. Nicht wenige, die im Gesundheitswesen tätig sind, erleben diese Erwartungshaltung aber auch als eine Überforderung, ja als ein Anspruchsdenken1. Gerät die Hoffnung auf die Erfolge medizinischen Handelns in die Nähe zu religiöser Sehnsucht?

Beispiele für diese Überhöhung der Erwartungen an Medizin und Gesundheit überhaupt lassen sich jedenfalls schnell finden. Sie reichen bis zur Verbindung zwischen Wellness und Spiritualität.

Um mit einer nüchternen Feststellung und Beschreibung zu beginnen: Niemand wird bezweifeln, dass sich der Mensch nach Gesundheit sehnt. Diese Sehnsucht kommt in recht unterschiedlichen, aber unübersehbaren Phänomenen innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft zum Ausdruck.

Wohl kaum ein Geburtstag vergeht, an dem nicht nach allen anderen Wünschen immer wieder der Wunsch angefügt wird: „… und vor allem Gesundheit!“. In dem bekannten Kanon, der nicht selten an einem Geburtstag gesungen wird, heißt es:

„Viel Glück und viel Segen auf all’ deinen Wegen;

Gesundheit und Frohsinn sei auch mit dabei!“

Hier werden dem gewünschten Glück und dem erhofften Segen die Gesundheit und der Frohsinn/die Freude beigesellt: Sie sollen das Glück und den Segen gleichermaßen konkretisieren und vervollständigen.

Selbst der 3. Johannesbrief im Neuen Testament beginnt mit den Worten:

„Der Älteste an den geliebten Gaius, den ich in Wahrheit liebe. Lieber Bruder, ich wünsche dir in jeder Hinsicht Wohlergehen und Gesundheit, so wie es deiner Seele wohlergeht.“ (3 Joh 1f)

Es ist in diesem Sinne wohl sicherlich angemessen, von einer Alltäglichkeit der Sehnsucht nach Gesundheit und Heil zu sprechen. Gesundheit wird heute allgemein als das Wichtigste im menschlichen Leben verstanden, nicht selten ist dabei sogar vom „höchsten Gut, das wir überhaupt besitzen“, die Rede.2

1.1.1. Gesundheit als aktive Aufgabe

Gesundheit wird aufgrund seiner allgemein hohen Wertschätzung zugleich zu einem Gegenstand moralischer Anstrengung. In den Dimensionen von Ernährung, Erhaltung der Fitness, ja in der Struktur des Gesundheitswesens und der in ihm üblichen Sprache kommt dieser ethische Verpflichtungscharakter ins Spiel. Das Erleben von Krankheit in seiner mittelbaren und unmittelbaren Nähe lässt auch und gerade den gesunden Menschen fragen, wie er seine Gesundheit durch eigenes Tun (oder Unterlassen) erhalten kann. Gemäß dem geläufigen Wort „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts!“ versuchen viele, gesund zu bleiben bzw. zu werden.

Durch bewusst gesunde Ernährung, die sich z. B. in der immer größeren Nachfrage nach Bio-Produkten niederschlägt, kommt dieser inhärent ethische Charakter der Gesundheitssehnsucht gegenwärtig vielleicht am pointiertesten zum Ausdruck. Davon zeugt auch das breit gefächerte Angebot im Supermarkt, in dem diese Produkte unübersehbar allen Kunden ins Auge fallen (sollen). Auch die jährliche „Grüne Woche“ in Deutschland ist ganz in diesem Sinne bestimmt von Öko- und Bio-Produkten, die u. a. eine gesündere Ernährung versprechen.

Aber darüber hinaus gilt umfassend im Blick auf die Verwendung des Begriffs Gesundheit: Sehnsucht, persönliche Anstrengung, ja öffentliches Bewusstsein verbinden sich miteinander. Krankenkassen nennen sich bewusst Gesundheitskasse (AOK), und aus Krankenpflegern sind inzwischen Gesundheitspfleger geworden.

Auf der Suche, Sehnsucht und Verlangen nach Gesundheit und Wohlbefinden zu verwirklichen, werden heute – führt man diese Beobachtungen weiter – die unterschiedlichsten Angebote gemacht, die Gesundheit und Wohlbefinden versprechen: Fitness-Studios, deren Nutzung heute für viele fest zum wöchentlichen Terminplan gehört – und dies nicht selten sogar mehrmals in der Woche –, werben dafür, durch körperliche Betätigung etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Sieben Tage in der Woche wird – gelegentlich hinter überdimensional großen „Schau-Fenstern“ – der Blick von Passanten auf die Nutzer der FitnessGeräte gelenkt, um bei möglichst vielen Menschen Interesse an deren Nutzung für das eigene Wohlbefinden zu wecken.

Wellness wird in diesem Kontext folgerichtig als optimales Wohlbefinden beschrieben. 1990 wurde in der Logik dieser Tendenzen in Deutschland die Europäische Wellnessunion (EWU) gegründet. So verwundert es nicht, dass in den vergangenen Jahren Wellnessanlagen (mit nicht nur verheißungsvollen Namen, sondern gleichermaßen) mit verheißungsvollen Angeboten wie Pilze aus dem Boden schossen.

Der Sinn dieser Anstrengungen ist dabei offensichtlich: Der vom Alltagsstress geplagte Mensch ist eingeladen, durch Wellness, gesundheitsfördernde Kuren, durch Bäder, Massagen, Licht-, Stein-, Geruchstherapien u. v. m. die Einheit von Körper, Geist und Seele wiederherzustellen.3

Die Besucherzahlen in den Thüringer Thermen – um Beispiele aus dem konkreten Umfeld des Autors dieser Studie zu nennen – bestätigen dieses Verlangen, wobei die Einrichtungen in ihren stets neuen Angeboten nicht einfallslos sind.

In der Kristall-Therme in Bad Klosterlausnitz findet sich ein „Sinnespfad“ (2012), auf dem man durch das Beschreiten mittels einer „natürlichen Fußreflexzonenmassage“ sein Bewusstsein erweitern soll. Dort heißt es zum Beispiel:

 

„Der Kristall-Sinnespfad mit den Stationen Granitsteine, Rindenmulch, Kalk-Kieselsteine und Tannenzapfen:

Der Sinnespfad mit unseren verschiedenen Stationen ist eine natürliche Fußreflexzonenmassage. Alle Organe und Körperteile haben auf der Fußsohle feste Punkte, mit deren Anregung durch ‚Massage‘ diese positiv angeregt sowie günstig beeinflusst werden. Es wird der gesamte Körper mit all seinen Organen und Sinnen durch gesetzte Reize stimuliert und die Selbstheilungskräfte Ihres Körpers aktiviert.

Durch das Begehen des Sinnespfades werden die sensorischen Fähigkeiten trainiert und die Durchblutung in den Füßen angeregt. Erweitern Sie Ihr Bewusstsein bei einem Rundgang durch unseren Sinnespfad.

Wir wünschen Ihnen viel Freude dabei!

Bleiben Sie gesund!

Ihr Kristall-Team!

Kristall-Therme

Genuss pur“4

Die Toskana-Therme in Bad Sulza5 wirbt an ihrem Eingang (2012) mit dem unübersehbaren Slogan:

„Verschenken Sie Glück und Gesundheit“.

In ihrem Flyer bezeichnet die Kette der Toskana Thermen in Bad Sulza (Thüringen), Bad Orb (Hessen) und Bad Schandau (Sachsen) einen Thermenbesuch mit einer individuellen Behandlung sogar als eine „nachhaltige Investition in Gesundheit und Wohlergehen“. Durch eine empfohlene „Indian Head Massage“ wird eine „Balance zwischen Körper und Geist“ versprochen, die ein „Gefühl von Harmonie und Wohlbefinden“ erzeugt. Eine „Klangmassage“ verheißt eine einmalige Wirkung, indem durch das direkte Auflegen und Anschlagen von verschiedenen Klangschalen auf dem Körper Klangwellen den Körper durchströmen, der dadurch eine sanfte Zellmassage erfährt; die einzelnen Körperbereiche werden mit ihnen entsprechenden Klängen bedacht, wodurch der Körper zu seiner ursprünglichen harmonischen Frequenz zurückfinden soll. Eine Reiki-Behandlung verspricht, die heilende, universelle Energie durch Handauflegen in den Körper einfließen zu lassen. Sie wird als sehr alte Heilkunst beschrieben, die „universale Lebenskraft“ bedeutet. Durch Auflegen der Hände werde hier heilende Kraft weitergeleitet; Reiki wirke auf allen Ebenen „reinigend und heilend“, und Körper, Geist und Seele kommen ins Gleichgewicht.6

1.1.2. An der Schwelle zum religiösen Heilsverlangen? Die qualitative Vertiefung der Erwartung an Heilung und Heil

Es ergeben sich interessanterweise – und das ist hier wichtig – aus dieser irgendwie „ganzheitlichen“ Ausweitung der alltäglichen Sehnsucht nach Gesundheit Dimensionen gewissermaßen „transzendenter“ Qualität, welche das moderne Verständnis von Heilung in diesen Entwicklungen begleiten kann. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Gesundheit und ganzheitliche Lebensqualität, körperliche und emotionale Bedürfnisse, somatische und spirituelle Seiten menschlichen Heilseins rücken zusammen. Stichworte wie „Glück und Gesundheit“, „Balance zwischen Körper und Geist“, „Gefühl von Harmonie und Wohlbefinden“, „ursprüngliche harmonische Frequenz“, „heilende universelle Energie“, „universelle Lebenskraft“, „heilende Kräfte“, „reinigende und heilende Wirkung“, „Gleichgewicht von Geist und Seele“ wirken attraktiv und vielversprechend für die meisten Menschen, zumal sie in ihrer so überaus ideenreichen Verwendung nicht nur körperliche Gesundheit, sondern Heil versprechen.

So scheint heute Gesundheit dem Menschen als letztes und endgültiges Ziel vor Augen zu stehen. Es ist folgerichtig, dass viele meinen, für die Gesundheit alles tun zu müssen. Manfred Lütz weist im Sinne dieser Dynamik mit der Behauptung „Gesund ist, wer nicht ausreichend untersucht wurde“ auf eine Überlegung von Rudolf Gross hin, demzufolge

„[d]ie Praxis zeige, dass die Zahl der krankhaften Werte mit der Zahl der Untersuchungen zusammenhänge. Macht man bei jedem Menschen 5 Untersuchungen, sind vielleicht noch mehr als 95 % gesund. Bei 20 Untersuchungen sind es nur noch 36 % und bei 100 Untersuchungen ist mutmaßlich jeder Mensch krank. Da jeder krankhafte Wert weitere Kontrolluntersuchungen nach sich zieht, gibt es ab einem bestimmten Punkt kein Halten mehr. Daraus folgt: Gesund ist, wer nicht ausreichend untersucht wurde.“7

Das heißt, der sich vertiefende, sich in seinen ganzheitlichen Aspekten differenzierende Blick auf Gesundheit und Heilsein führt auch zu einer „mikrokosmischen“ Sensibilität in diesem Bereich – zu einer qualitativen Vertiefung der Erwartung an Überwindung der Beeinträchtigung durch Krankheit, fehlender Balance und Belastungen. Die Sehnsucht des Menschen, gesund zu sein und gerne wissen zu wollen, wie er dies erreichen kann, erklärt vielleicht so manchen Arzttermin, der unter Umständen gar nicht nötig wäre.

Mit dem Rückgang existenzieller körperlicher, seelischer und sozialer Bedrohungen geraten heute – auch das ist eine weitere, ergänzende Beobachtung – zunehmend milde Erkrankungen, Befindlichkeitsstörungen und Symptome in das Zentrum der Aufmerksamkeit von Betroffenen und des gesundheitsindustriellen Komplexes. In dieser Entwicklung liegt vielleicht auch der Grund, warum Naturheiler und Heilpraktiker zunehmend eine Rolle auf dem Feld der Erwartungen bezüglich der Gesundheit und des Wohlbefindens des Einzelnen spielen.

Die alternative Medizin befindet sich in einem solchen Ausmaß auf dem Vormarsch, dass in Europa bei steigender Tendenz jährlich etwa ein Drittel der Bevölkerung auf irgendeine Art und Weise diese Medizin in Anspruch nimmt;8 damit verbunden ist auch ein vermehrter Konsum von sogenannten Nahrungsergänzungsmitteln.

Kann man so – auch heute noch oder wieder – mit Platon formulieren: „Die ständige Sorge um die Gesundheit ist auch eine Krankheit“9?

1.1.3. Eine tatsächlich religiöse Tiefe der Sehnsucht?

Aus theologischer Perspektive drängt sich jedenfalls – und damit wird der Fokus der hier vorgelegten Untersuchung berührt – angesichts dieser Phänomene gegenwärtiger Erwartungen an Gesundheit, Medizin, Wellness und Heilpraxis die Frage auf, ob darin nicht eine nicht zu verdrängende „religiöse“ Tiefe menschlicher Sehnsucht zum Ausdruck kommt – und zwar mitten in der modernen Gesellschaft, die sich als säkularisiert und von gläubigen Interpretationen weitgehend befreit versteht. In den Spitzen der ganzheitlichen, quantitativen und qualitativen Vertiefung von Sehnsucht und Erwartung an Gesundheit und Medizin könnte sich die genuin religiöse Hoffnung auf eine transzendente Geborgenheit in Krankheit und Bedrohung zum Ausdruck bringen. Ohne diese Beschreibung schon zu sehr theologisch anspruchsvoll füllen zu wollen, lässt es sich vielleicht im Sinne eines ersten Vorverständnisses dieser Untersuchung so formulieren: Sehnt sich der kranke Mensch zunächst nach Gesundheit, so gibt sich offensichtlich sogar der gesunde Mensch mit seinem Wohlbefinden nicht zufrieden. Wer kann schon von sich selbst sagen, er fühle sich vollkommen wohl? Und selbst der, der darum zu beneiden ist, wird eine Sehnsucht nach mehr verspüren, ganz gleich wie unterschiedlich er dieses „Mehr“ beschreibt oder auch gerade nicht beschreiben kann.

Man könnte in diesem Sinne noch einmal eine Beobachtung aus der gegenwärtigen Alltagswelt herausstreichen: „Heilfasten“ wird von immer mehr Menschen praktiziert, die als Voraussetzung für dieses (oft gemeinsame) Unternehmen gesund sein müssen. Drückt sich schon in dieser Voraussetzung eine Sehnsucht nach mehr als nur Gesundheit aus? Über unterschiedlich lange Zeitabschnitte begibt man sich ja gemeinsam auf einen Weg, der – wie der Name sagt – nicht nur Gesundheit, sondern Heil verspricht. Und auch hier steht noch einmal diese Beobachtung der Konvergenz zwischen körperlichen und spirituellen Anliegen in Frage: Anziehend und verheißungsvoll klingen in jedem Fall für die meisten Menschen Worte wie „ganzheitlich“ oder „Selbstheilungskräfte“. Körperliches und seelisches Wohlergehen sollen zusammengeführt werden. Fasten in Verbindung mit Meditation und Reflexion versprechen ganz offensichtlich mehr als nur (körperliche) Gesundheit.

Auf der Ebene anthropologischer Grundannahmen formuliert könnte dies heißen: Diese Sehnsucht nach mehr (als nur Gesundheit) scheint den Menschen auszuzeichnen, wobei er sicher den Inhalt seiner Sehnsucht nicht immer in Worte fassen kann. Heilfasten scheint ein Weg zu sein, dieser nur schwer fassbaren Sehnsucht auf die Spur zu kommen.

Hier aber kommt die einzigartige Beziehung zwischen den Begrifflichkeiten „Gesundheit“ und „Heil“ – sie wird die vorliegende Untersuchung signifikant beschäftigen! – in einer ersten Wahrnehmung in den Blick. Der Ausspruch: „Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen!“ wird meist nur auf den kranken Menschen bezogen, der sich (als einzigem Wunsch) nach Gesundheit sehnt. So verständlich das (vielleicht) ist, so zielt dieser Ausspruch doch auch auf die vielen Wünsche und Sehnsüchte, die der gesunde (aber letztlich wohl jeder, auch der kranke) Mensch hat. Was in der Krankheit zum einzigen Ziel wird, die „Gesundheit“, das scheint in der Gesundheit zum Inbegriff einer irgendwie ebenso unbedingt erhofften Integrität zu werden, welche diese zugleich unbestimmt überschreitet – zum „Heil“.

Auf diesem Hintergrund lässt sich vielleicht vorläufig festhalten: „Heil“ ist sicher eine Umschreibung dessen, was weit über den Zustand der Gesundheit hinausgeht und wonach sich sowohl der kranke als auch der gesunde Mensch sehnen kann. Gewiss scheint dabei zu sein, dass „Heil“ nicht mit „Gesundheit“ gleichgesetzt werden darf, was möglicherweise, aber eben missverständlicherweise der Begriff „Heilung“ als der Weg von der Krankheit zur Gesundheit nahelegen könnte.

Oder in einer Art unmittelbaren, negativen Heuristik ausgedrückt: Würde man Heil mit Gesundheit identifizieren, dann hätte der vermeintlich gesunde Mensch keine Sehnsucht mehr nach Heil und bliebe zudem vor jeder „Unheilserfahrung“ bewahrt; nur der kranke Mensch „wüsste“ dann noch, was Sehnsucht nach Heil bedeutet.

Auch hier kann, wenn man so will, noch einmal die Analyse der Alltagssprache behilflich sein, um ein erstes Problembewusstsein, ja Vorverständnis abzusichern: Wenn die Sprache den Menschen verrät, dann gilt: „Heilfroh“ kann sowohl ein gesunder als auch ein kranker Mensch sein, genauso wie der Mensch in beiden gesundheitlichen Situationen „Heilserlebnisse“ und „Heilserfahrungen“, aber auch „Unheilserlebnisse“ und „Unheilserfahrungen“ haben kann.

Die Sehnsucht des Menschen nach Heil als etwas, das weit mehr als Gesundheit ist, kommt in diesem Sinne offensichtlich in unzähligen und vielfältigen Werken in Literatur, Musik, Theater, Malerei etc. zum Ausdruck. Etwas pointiert gesagt: Der Traum von einer „heilen Welt“ scheint „in dieser Welt“ nie ausgeträumt werden zu können.

1.1.4. Die gegenwärtige (theologisch-)ethische Bewertung: Die These von der Gesundheit als Ersatzreligion

Die Fülle der Aspekte, die mit dieser Beziehung zwischen Gesundheit und Sehnsucht nach Heil verbunden sind, lässt sich hier im einleitenden Blick auf das alltägliche Lebensgefühl nur andeuten. In Bezug auf die moraltheologischen Fragestellungen aber bleibt ein letzter Hinweis: Auch wenn die Unterscheidung zwischen Heilung und Heil im allgemeinen Bewusstsein der Gegenwart in diesem Sinne präsent ist, wertet eine (theologisch-)ethische Analyse die gegenwärtigen Tendenzen schließlich sogar als eine Entwicklung, in der die Wünsche an die Gesundheit die Rolle einer „Ersatzreligion“10 einnehmen würden.

Ludger Honnefelder setzt etwa in diesem Sinne beim Sprachgebrauch des Wortes Gesundheit an und geht sodann der Frage nach, als welches Gut denn eigentlich Gesundheit zu verstehen ist. Dabei verweist er zunächst auf Nietzsche, der die Gesundheit für undefinierbar hält, aber auch auf Aristoteles, bei dem das Wort „gesund“ ein Paradebeispiel für ein Wort mit vielfacher Bedeutung ist, das auf einen ursprünglichen Sinn verweist. Und er rekurriert auf Platon, bei dem „Gesundheit“ als „Harmonie“ von Leib und Seele verstanden wird, weswegen jener auch die sittliche Tugend als „Gesundheit der Seele“ bestimmen kann.11

Gesundheit in diesem Sinne als Vollständigkeit und Harmonie zu verstehen, scheint nach Honnefelder der Definition der WHO Recht zu geben, die Gesundheit als „Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur der Abwesenheit von Krankheit und Schwäche“ definiert. Eine solche umfassende Bestimmung aber geht nach Honnefelder viel zu weit und lässt ihn deshalb noch einmal zurückfragen, ob nicht doch die von der WHO abgelehnte Alternative richtig sei, dass Gesundheit nur die Abwesenheit von Krankheit und Schwäche darstellt. Aber hier ist es wieder die schlichte Eindimensionalität, welche im Blick auf eine solche Vereinfachung zögern lässt.12

 

Und so findet Honnefelder schließlich einen Schlüssel zum rechten Verständnis von Gesundheit noch einmal bei Aristoteles,

„wenn er zwischen ‚Leben‘ (ζην) und ‚Gutleben‘ (ευ-ζην) unterscheidet. Mit dem bloßen Leben, so will Aristoteles mit dieser Unterscheidung sagen, hat der Mensch noch nicht sein ihm eigentliches Ziel erreicht. Dies ist erst das gute, gelungene Leben, das sich in derjenigen Praxis einstellt, in der der Mensch seine Anlagen entfaltet und gemäß dem ihm eigenen Lebensplan zur Verwirklichung bringt. Eudaimonia, Glück, nennt er diese Form tätigen Lebens. Gesundheit ist also ein Gut, das zum gelungenen Leben gehört, aber nicht schon mit ihm identisch ist. Denn gelungenes Leben umfasst den ganzen Menschen und sein tätiges Werk. Es stellt sich ein auf dem Rücken der Praxis, in der wir die uns sinnvoll erscheinenden Ziele verfolgen. Und es ist gar nicht unmittelbar als solches zu erstreben, sondern das in allen Zielen verfolgte Ziel, das inklusive Ziel.“13

Es sei, so Honnefelder weiter, genau diese Vorstellung vom gelungenen Leben, welche Augustinus in das christliche Verständnis integriert habe. Dieser betone allerdings, dass der Mensch das gelungene Leben nicht vollständig und nicht endgültig zu erreichen vermöge, sondern in Endlichkeit, Sterblichkeit und Versagen seine Grenzen erfahre und deshalb das definitiv gelungene Leben nur als Gegenstand seiner Hoffnung, als geschenktes Heil erwarten könne.14

Und: Steht Augustinus nach Honnefelder dabei in der Gefahr, das gelungene Leben so zu spiritualisieren, dass die Gesundheit als dessen integrales Gut verzichtbar zu werden scheint, so zeigt sich für Honnefelder im „Gesundheitskult“ der Gegenwart aber offenkundig das Gegenteil – eine Tendenz, in deren Zusammenhang schließlich die Befürchtung von der Ersatzreligion auftaucht:

„Immer stärker nimmt die Gesundheit die Rolle des Endziels ein und wird in Form eines Kults der Körperlichkeit zum aktuellen Kandidaten für das gelungene Leben. Die Ziele der Medizin drohen sich in Richtung Optimierung, Enhancement, von der Bedarfs- auf die Wunschmedizin zu verschieben. Fitness und Wellness werden zum Selbstzweck. Gesundheit droht die Stelle des Heils einzunehmen und zum Gegenstand einer neuen Religion zu werden.“15

Das heißt: Theologische Ethik sieht in solchen Tendenzen offensichtlich die Gefahr, dass sich das Handeln gegenwärtiger Kultur im Bereich von Gesundheit und Medizin in einer Dynamik verliert, welche den religiösen Glauben ersetzt. Warum mit einer solchen Entwicklung eine Gefahr verbunden ist, bleibt dabei offen: ob die Institutionen des Gesundheitssystems dadurch überfordert werden, ob eine religiöse Aufladung das medizinische Handeln selbst verfälscht und in diesem Sinne ein ethisches Problem darstellt oder ob der Verlust der eigentlich religiösen Erfahrung für ein Leben in Menschlichkeit bedrohlich ist. Ausgedrückt wird lediglich eben die Sorge, dass der Ersatz moralische Folgen hätte, die von Gewicht sind.

1.2. Empirische Untersuchung: Mit welchen Erwartungen und an wen wenden sich Menschen in ihrer Sehnsucht nach Heilung?

Im Sinne dieser ersten, an der gegenwärtigen Lebenswelt erhobenen Beschreibung der vorsichtig charakterisierten quantitativen und qualitativen Konvergenz zwischen Erwartungen an Medizin und religiösem Glauben wird das Forschungsprojekt der vorliegenden Untersuchung in seiner Zielrichtung klar. Das Ziel dieser Studie ist es, auf dem Hintergrund der konkreten Strukturen heutiger Erwartungen an Medizin und Glaube die Unterscheidung zwischen Heil und Heilung theologischethisch zu reflektieren. Es geht dabei – das ist im Sinne einer deutlichen Abgrenzung der Möglichkeiten und der limitierten Zielrichtung der Untersuchung zu verstehen! – nicht um Qualitätsmanagement für das medizinische Handeln, für das moderne Gesundheitswesen, für das heutige Arzt- oder Patientenethos oder gar für medizinische Produkte, und geht es geht auch nicht um Rechtgläubigkeit im Sinne theologischer Unterscheidung und lehramtlicher Autorität innerhalb postmoderner pluraler und oft subjektivistischer Sinnsuche. Die Reflexion auf die Unterscheidung zwischen Heil und Heilung, religiöser Erwartung und medizinischer Option, die in der Analyse dieser Arbeit versucht wird, dient einem allerersten Ansatz, um auch im modernen Kontext Glaube und Medizin ethisch verantworten zu können. Die wissenschaftlich vorgenommene Differenzierung in den gegenwärtigen Tendenzen der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube soll helfen, Sachgerechtigkeit und Komplexität als Basis von Ethik zu sichern.

Dabei bewegt sich die Studie in einem vierfachen Schritt, um ihre Ergebnisse begründen zu können.

Im ersten Teil werden die vielfältigen intuitiven und normierten Definitionen von Gesundheit und Heil im Sinne der gesellschaftlichen Vorstellungen und der wissenschaftlichen, also medizinischen bzw. theologischen Standards der Gegenwart zum Ausgangspunkt genommen. Dabei zeigt sich in den Definitionen die osmotische Offenheit dieser Begriffe füreinander im Sinne der schon angedeuteten Kaskade der Sehnsucht: der Wunsch nach alltäglichem Leben in Gesundheit und Freude und die darin irgendwie präsente Hoffnung auf eine noch größere, umfassende Integrität.

Genau diese sich steigernde Erwartung wird im Sinne der religionssoziologischen Definition religiöser Erfahrung in ihrer Funktion als Kontingenzbewältigung (Niklas Luhmann) mithilfe von „kleinen“ und „großen Transzendenzen“ (Thomas Luckmann) zu deuten versucht: Lässt sich der These folgen, dass der Einsatz für ein Leben in Gesundheit heute gegenüber der „großen Transzendenz“, der Hoffnung auf Gottes Heil, konkret und erfahrbar in den Vordergrund gerückt ist, die „kleine Transzendenz“ der Gesundheitswünsche also der großen gewissermaßen den Rang abgelaufen hat? Als Ausdruck der Diesseitsreligion, der Verlagerung der Sehnsucht nach Geborgenheit des Lebens in das Hier und Jetzt? In solchen Fragen geht es um die Überprüfung der von der Moraltheologie formulierten Sorge übersteigerter Ansprüche an die Gesundheit als „Ersatzreligion“.

Im zweiten Teil wird zur Klärung einer solchen Bewertung das Ergebnis einer empirischen Untersuchung zu Erwartungen von Patienten an Medizin und religiösem Glauben vorgestellt. Anhand von Fragestellungen soll dabei das Zueinander zwischen kleinen und großen Transzendenzen im Kontext der Erwartungen an Gesundheit und Heilung/ Heil ergründet werden, und zwar im Spiegel der an das medizinische oder kirchliche Personal herangetragenen Wünsche nach gesundheitlicher Heilung, medizinischer Linderung, aber auch nach Rat, Unterstützung, Orientierung, Führung, ja Hoffnung, innerem Frieden und Trost.

In einem dritten Teil werden die erfragten Erwartungen in ihrer theologischen Qualität mithilfe einer Analyse neutestamentlicher Heilungserzählungen abgesichert. Die biblischen Heilungsgeschichten zeigen eine Dynamik, welche von konkreten Erwartungen der Hilfesuchenden an Jesus und seine Jünger zur „tieferen“ Ebene gläubiger Hoffnung führt. Diese Dynamik lässt sich – im Sprachgewand heutiger Religionssoziologie – als Erfahrung großer Transzendenz durch die Vermittlung kleiner Transzendenz verstehen: Neben der Hoffnung auf ganz konkrete physische Gesundung steht damit – ja auch noch einmal neben der Frage nach zunächst psychischer Integrität (Unterstützung, Führung, Rat, Orientierung) – eine Ebene ganzheitlicher Erfüllung, Befriedigung, Geborgenheit und Integrität infrage (Trost, Hoffnung, innerer Friede), die über die konkrete diesseitige Erfahrung irgendwie hinausführt und deshalb in die Dimensionen „großer Transzendenz“ verweist.

Lässt sich in der empirischen Untersuchung der Erwartungen von Menschen an Medizin und religiösem Glauben zeigen, dass diese theologische Zuordnung zwischen dem Verlangen nach Heilung körperlicher und psychischer Gebrochenheit und der Sehnsucht nach einer letzten Geborgenheit und Vollkommenheit bei Gott (dem Heil) als innerem Verweiszusammenhang verloren gegangen ist? Anders gefragt: Ist die große Transzendenz der Hoffnung auf Gott durch das bloße Heilungsbegehren ohne tieferen Blick auf eine letzte Geborgenheit des Lebens verdrängt worden?

Es wird sich im vierten und fünften Teil dieser Untersuchung zeigen, dass jede vereinfachende und undifferenzierte Behauptung von Ersatzmechanismen der Komplexität des Verhältnisses zwischen Glaube und Medizin heute nicht gerecht werden kann. Die konkreten Ergebnisse der empirischen Untersuchung gegenwärtiger Erwartungsstruktur werden demgegenüber vielmehr ausführlich im Blick auf verschiedene Bedeutungsfelder hin ausgewertet. So soll am Ende die kritische theologisch-ethische Analyse der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube stehen, wie sie für die Gegenwart von Relevanz ist.

Die vorliegende Untersuchung lässt sich dabei in ihrer theologischen Perspektive von dem beschriebenen Vorverständnis im Sinne der angedeuteten Konturen leiten und versucht sie kritisch zu bewerten. Vereinfacht ausgedrückt: Die unübersehbare Sehnsucht und Suche der Menschen sowohl nach „Heilung und Gesundheit“ als auch nach „Glückseligkeit und Heil“ zeichnen den Menschen als transzendentes Wesen aus, das immer über sich selbst hinaus verweist. Der Mensch will gesund sein und ein heilvolles Leben er-leben. Er sehnt sich zeit seines Lebens immer nach einer umfassenden Absicherung der „Integrität“ seines Lebens. In Zeiten der Krankheit sehnt sich der Mensch nach Heilung und Gesundheit. In Zeiten der Gesundheit sehnt er sich danach, diese zu erhalten und ist auf der Suche, diese Sehnsucht zu stillen. In den noch so glückseligen Momenten seines körperlichen und seelischen Wohlbefindens möchte er diese festhalten und weiß doch, dass dies unmöglich ist, da sein Leben ständigem Wandel unterworfen ist. Und so ist sein Leben selbst in diesen Momenten von einer Sehnsucht gezeichnet, die er immer wieder neu zu erfüllen sucht.

Um die Dynamik, die Umschichtungen und „Bewegungen“ in den Erwartungen von heute an Gesundheit und Glaube im Sinne der Beziehung zwischen „kleiner“ (körperliche Gesundheit) und „großer“ (Sehnsucht nach innerem Frieden und Heil) Transzendenz angemessen in den Blick zu bekommen sowie differenziert beschreiben zu können, muss die dahinterstehende Struktur der Erwartung an Medizin und Glaube im Blick auf die Formen und Orte verstanden werden, in denen Gesundheit und Heil zum Gegenstand der Hoffnung wird. Aber darüber hinaus muss verstanden werden, wer der Adressat dieser Erwartungen und ihrer Intentionen eigentlich ist. Ja, in einem letzten Schritt stellt sich auch die Frage danach, auf welche Weise und in welchen Lebensbezügen die Erfüllung der Suche nach Heilung und Heil im Sinne der ganzheitlichen Dimensionen (somatisch und emotional) erfahren wird. Darüber hinaus ist der „Umgang“ mit der Verweigerung dieser Erfüllung zu erheben. Das heißt, es geht um die Erforschung, inwieweit Menschen selbst diese Erfüllung als Möglichkeit oder Unmöglichkeit erleben, welche Instanzen ihnen diese Erfüllung nach ihrer Erfahrung zu erschließen vermögen und welche nicht, worin dieses Erleben eigentlich besteht und ob es in einer unreduzierbaren Pluralität (sinnlich, emotional, spirituell, je nach Präferenz des Einzelnen) oder signifikanten Einzigartigkeit bestimmter ausgezeichneter „universaler“ Konstanz (anthropologischer „Wesensbestimmung“?) erfahren wird.