Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

5 Gründer der Roten Armee und Heerführer



Die nach dem nunmehr verlustreichen Friedensschluss folgende Periode war die des Bürgerkrieges und der ausländischen Interventionen. Es entstand die objektive Notwendigkeit, für die junge und in Bedrängnis geratene Sowjetmacht eine Armee zu schaffen. Ungeachtet der Affäre von Brest-Litowsk vertraute Lenin im Einverständnis mit der gesamten Führung Trotzki diese Aufgabe an. Er wurde zum Volkskommissar für Militärangelegenheiten und zum Vorsitzenden des Obersten Kriegsrates berufen. Der Aufbau einer Armee angesichts des vorherigen Zerfalls der zaristischen Armee, der Kriegsmüdigkeit des ganzen Landes, der Probleme bei der Versorgung neuer Armeeeinheiten mit Waffen und Munition, mit Bekleidung und Verpflegung sowie des Mangels an der Sowjetmacht ergebenen Offizieren stieß auf fast unvorstellbare Schwierigkeiten. Dabei gab es auch innerhalb der sowjetischen Führungsgremien viel Unsicherheit und auch Widerspruch, z.B. in der Frage der Rekrutierung ehemaliger zaristischer Offiziere, bei der Disziplinierung von Armeeangehörigen oder bei der Einführung des Systems roter Kommissare an der Seite jeden Kommandeurs.



Hier ist nicht der Raum, um im Einzelnen diese komplizierte und widerspruchsvolle Entwicklung nachzuzeich­nen. Es sei verwiesen auf die Trotzki-Biographie von Pierre Broué, der Gründung und Aufbau der Roten Armee außerordentlich anschaulich und überzeugend darstellt, sich dabei auf umfangreiches Quellenmaterial stützt und auch die dabei aufgetretenen Widersprüchlichkeiten dialektisch auslotet.



Bürgerkrieg und ausländische Interventionen waren in vollem Gange. Unter den weißgardistischen Generälen Kornilow, Koltschak und Denikin, verstärkt durch eine tschechoslowakische Legion, rückten die konterrevolutionären Armeen in Richtung Moskau und Petersburg vor. Die noch in Formierung befindliche und keineswegs gefestigte Rote Armee hatte größte Mühe, den Angriffen standzuhalten. Da nicht die Geschichte des Bürgerkrieges und der Interventionen hier Gegenstand ist, sondern Leo Trotzki, soll ein für den letztlichen Sieg der Roten Armee wesentliches Detail dargestellt werden.



Als Volkskommissar für militärische Angelegenheiten und Vorsitzender des Obersten Kriegsrates war Trotzki Oberbefehlshaber der Roten Armee. Um die zersplitterten Fronten ständig im Blick zu haben, den jeweiligen Abschnittskommandeuren konkret Rat und Hilfestellung geben zu können und um jungen Armeeeinheiten durch persönlichen Einfluss und Einsatz den Rücken zu stärken, wandte er eine in der Kriegsgeschichte einmalige Methode an. In der Nacht vom 7. zum 8. August 1918 ließ Trotzki auf der Basis des Salonwagens und einiger Spezialwaggons des früheren zaristischen Eisenbahnministers einen besonderen Zug zusammenstellen. Dieser Zug war wie folgt zusammengesetzt: ein zentraler Waggon des Volkskommissars als Arbeitsraum und Kommandozentrale, je ein Wagen für die Sekretäre und Mitarbeiter, eine Druckerei, ein Erholungsraum, ein Speiseraum, ein Wagen mit Lebensmitteln und Ausrüstungsreserven, ein Rundfunksender mit Telegrafenstelle und ein Sanitätswagen. An der Spitze und am Ende des Zuges waren je ein gepanzerter Wagen mit einer speziellen Maschinengewehrabteilung platziert. Außerdem gab es dazwischen noch einen Güterwaggon mit einer großen Ladefläche, in dem einige kleine Autos und ein Panzerwagen Platz hatten, um vom jeweiligen Standort des Zuges rasch zu den vorderen Frontabschnitten zu gelangen. Wegen der Schwere des Zuges und der nötigen Geschwindigkeiten wurde er von zwei Lokomotiven gezogen. Am Morgen des 8. August 1918 fuhr dieser Zug unter dem Kommando Trotzkis aus Moskau ab und war während der gesamten zweieinhalbjährigen Kriegszeit unterwegs an vielen Fronten. Er hat in etwa 36 Fahrten über 200.000 Kilometer absolviert. Wo er auftauchte, brachte er zurückweichende Fronten zum Stehen, fügte auseinanderlaufende Truppen zusammen und übte wesentlichen Einfluss auf die Kampfmoral der Truppen aus. Eine ausführliche Schilderung der Kampfesweise des Panzerzuges und der dabei praktizierten Armeeführung Trotzkis findet sich in der Trotzki-Biographie von Bertrand M. Patenaude (Ullstein Buchverlag Berlin 2010), auf den Seiten 32 bis 35.



Diese Art der Kriegsführung, bei der der Oberbefehlshaber der Armee nicht von einem Hauptquartier aus die Kämpfe leitet, sondern einen Panzerzug zum Hauptquartier macht und mit ihm an den verschiedensten Fronten selbst auftaucht – und zumeist dort, wo die Lage am meisten gefährdet war –, war ungewöhnlich und hat national wie international großes Aufsehen hervorgerufen. Trotzki hat sich mit seinem Panzerzug in die Kriegsgeschichte eingeschrieben.



Allerdings verliefen die Kriegsereignisse nicht so glatt und gradlinig, wie das hier erscheinen mag. Wie ernst der Bestand der Sowjetmacht gefährdet war, zeigen solche Vorgänge wie der Fall von Kasan oder die durch Denikin erfolgte Einnahme von Odessa und Kiew, von Kursk, Woronesch und Orel. Aber außer den vom Gegner verursachten Gefahren gab es auch innerhalb des Stabes und der Kommandos verschiedener Frontabschnitte Zwistigkeiten. Trotzki stand auch in dieser Hinsicht vor schwierigen Problemen. In einem Fall – es ging um die Strategie an der gefährdeten Südfront – konnte Trotzki seine militärstrategische Planung gegen Widerstände auch im Politbüro nur durchsetzen, in dem er seinen Rücktritt einreichte. Daraufhin erfolgte am 5. Juli 1919 die von Lenin und Stalin unterzeichnete Ablehnung dieses Rücktritts mit dem Zusatz: »Das Organisationsbüro und das Politische Büro lassen dem Genossen Trotzki völlige Freiheit, um mit allen Mitteln das zu erreichen, was er für eine Verbesserung der Generallinie in der Militärfrage hält…«

 Der weitere Kriegsverlauf zeigte, dass Trotzkis Strategie die richtige war.



Interessant dabei ist, wie von hohen Militärs der Gegenseite der Kampf der Roten Armee und Trotzkis Führungsrolle eingeschätzt wurde. Der deutsche Generalmajor Max Hoffmann, Chef des deutschen Generalstabs an der Ostfront, stellte überrascht fest: »Sogar aus einem rein militärischen Standpunkt heraus ist es erstaunlich, dass die gerade erst ausgehobenen Roten Truppen die damals noch starken Kräfte der weißen Generäle zerschlagen und sie dann völlig vernichten konnten.«

 Und Max Bauer, Angehöriger des deutschen Generalstabs, konstatierte: »Trotzki ist ein geborener Militärorganisator und Führer. Wie er aus dem Nichts und inmitten heftigster Schlachten eine Armee aus der Taufe hob und diese Armee dann organisierte und trainierte ist absolut napoleonisch.«



An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass in der bekanntlich von Stalin redigierten »Geschichte der KPdSU (Kurzer Lehrgang)« in Kapitel IX über die ausländische Intervention und den Bürgerkrieg zwar die Rede ist von der »Roten Armee, eben erst geschaffen, zahlenmäßig noch klein war und keine Kampferfahrung besaß« – aber nicht ein einziges mal der Name Trotzki genannt wird, obwohl 14 Helden des Bürgerkrieges und Truppenführer sowie 6 erfahrene Parteifunktionäre an der Ostfront namentlich aufgeführt werden.






6 Die Entstehung des Trotzkismus



Während der ganzen Revolutionsperiode einschließlich von Bürger- und Interventionskrieg stand Trotzki fest an der Seite Lenins. Aber nun begannen sich Gegensätze zwischen Trotzki und Stalin herauszubilden. Mit der Krankheit Lenins und der zunehmenden Einschränkung seiner Arbeitsfähigkeit entwickelten sich diese Gegensätze zum Machtkampf um die Nachfolge Lenins. Dieser Kampf, der die Grundlage für die Entstehung des Trotzkismus war, entfaltete sich in zwei Etappen. Die erste Etappe vollzog sich noch zu Lebzeiten Lenins. Die zweite Etappe begann unmittelbar nach dem Tode Lenins.






6.1 Erste Etappe: 1918 – 1924



Dieser Prozess begann bereits im Herbst 1918 während des Bürgerkrieges. Die äußerst wichtige Südfront war ins Wanken geraten und drohte zusammenzubrechen. Sie wurde von Woroschilow kommandiert, der von Stalin protegiert wurde. Zur Stabilisierung der Front nahm Trotzki als Oberkommandierender eine Reorganisation der Front in Angriff, die im Gegensatz zu Woroschilows und Stalins Strategie stand. Dies stieß auf solchen Widerspruch Stalins, dass dieser sich in Moskau über Trotzki offiziell beschwerte. Stalin forderte militärische Vollmachten, obwohl er nicht als Militär nach Zarizyn entsandt worden war, sondern als Verwaltungsbeamter zur Sicherung der notwendigen Getreidetransporte nach Moskau. Lenin, der diese Zwistigkeiten aufmerksam verfolgte, gab zunächst Stalin nach und erteilte ihm die gewünschten Vollmachten. Als aber Stalin auf einen der Befehle des Oberkommandierenden Trotzki an Abschnittskommandeure die Randbemerkung schrieb: »Nicht beachten«, kam das Fass zum Überlaufen und Trotzki telegrafierte nach Moskau: »Ich bestehe kategorisch auf der Abberufung Stalins: Die Dinge entwickeln sich auf der Zarizyn-Front trotz überreichlicher Militärkräfte schlecht. Woroschilow ist befähigt, ein Regiment zu kommandieren, aber keine Armee von 50.000 Menschen.« Lenin gab Trotzki recht und zwei Tage danach wurde Stalin nach Moskau zurückbeordert.



Am Rande sei bemerkt, dass Woroschilow auch später stets auf Seiten Stalins zu finden war und dafür mit der Mitgliedschaft im Politbüro und dem Posten des Verteidigungsministers belohnt wurde. Und dies, obwohl er weder im Bürgerkrieg mit Männern wie Tuchatschewski oder Budjonny vergleichbar war und auch im II. Weltkrieg neben Heerführern wie Tschuikow oder Shukow keine Rolle spielte.

 



Den zweiten größeren Zusammenstoß gab es 1920 im Zusammenhang mit der sogenannten Gewerkschaftsfrage. Trotzki wollte im Interesse eines wirksameren wirtschaftlichen Aufbaus die Arbeit der Gewerkschaften straffen und dabei vom Prinzip der Wählbarkeit ihrer Leitungen zum Prinzip der Ernennungen übergehen. Dabei bestand aber die Gefahr, dass militärische Leitungsmethoden in die Gewerkschaften und in die Betriebe getragen werden. Bei den Auseinandersetzungen hierüber bildeten sich bereits zwei Gruppierungen. Trotzki wurde unterstützt von Preobraschenski, Radek, Serebrjakow und Smirnow. Stalin war gegen Trotzkis Vorschlag und an seiner Seite standen Sinowjew, Molotow, Woroschilow und Ordschonikidse. Lenin hielt sich zunächst zurück, sorgte sich aber dann um die Möglichkeiten der Einflussnahme der Arbeiter und um die Entfaltung von Wirtschaftsdemokratie und trat ebenfalls gegen Trotzkis Vorstellungen auf. Damit war dieser Streit entschieden. Aber ungeachtet dieses Streitpunktes selbst nahm nun der Gegensatz Trotzki–Stalin schon Gruppierungsform an.



Die nächste Kollision hing mit der Einführung der NÖP zusammen. Trotzki stand voll auf der Seite Lenins. Aber es gab in der Führung eine ernsthafte Meinungsverschiedenheit hinsichtlich des wirtschaftspolitisch äußerst wichtigen Außenhandelsmonopols des Staates. Lenin und mit ihm Trotzki bestand auf der Beibehaltung des Außenhandelsmonopols, um die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen des Landes unter Kontrolle zu halten. Stalin und einige andere Parteiführer (z.B. Bucharin, Sokolnikow u.a.) plädierten für seine Abschaffung oder wenigstens Einschränkung. In krankheitsbedingter Abwesenheit Lenins wurden auf der Plenartagung des ZK am 6. Oktober 1922 Maßnahmen beschlossen, die eine »Durchbrechung des Außenhandelsmonopols« (Lenin) bedeuteten. Als Lenin davon Kenntnis erhielt, hat er sofort in einem Brief vom 13. Oktober 1922 ausführlich begründet, weshalb dieser Beschluss ein Fehler war.

 Einen Tag vorher hatte Lenin ein Gespräch mit Stalin, um diesen zu überzeugen.

 Daraufhin argumentierte Lenin nochmals in einem Brief »Über das Außenhandelsmonopol – An Genossen Stalin für die Plenartagung des ZK«

 Auf diesen Brief hat Stalin eigenhändig wie folgt reagiert: »Der Brief des Genossen Lenin hat meine Ansicht über die Richtigkeit der Entscheidung …, den Außenhandel betreffend, nicht geändert.« Daraufhin wurde die Sache dem ZK-Plenum vom 18. Dezember 1922 vorgetragen, an dem aber Lenin wiederum nicht teilnehmen konnte. Und jetzt kommt das für diese Thematik Wesentliche: Lenin schrieb am 15. Dezember 1922 an Trotzki: »Genosse Trotzki, ich glaube, wir sind zu einem vollen Einverständnis gelangt, und ich bitte sie, auf der Plenarsitzung unsere solidarische Haltung zu bekunden.« Und in einem Brief an die Mitglieder des ZK schrieb Lenin: »Ich bin zu einem Einvernehmen mit Trotzki in der Vertretung meiner Ansichten über das Außenhandelsmonopol gekommen… Ich bin überzeugt, dass Trotzki meinen Standpunkt genauso gut wie ich selbst verteidigen wird« – was auch geschah. Am 18. Dezember widerrief das ZK seine Entscheidung vom Oktober und folgte Lenins und Trotzkis Argumenten. Was dieser Vorgang für das Verhältnis Stalin–Trotzki bedeutete muss man nicht ausführen.



Nun verschärften sich schrittweise auch die Auseinandersetzungen Lenins mit Stalin. Dieser betrieb als Volkskommissar für Nationalitätenfragen die Einverleibung Georgiens in die Russische Förderation von Sowjetrepubliken, und dies zum Teil mit militärischer Gewalt und bei Einschränkung von Georgiens Autonomie. Lenin war strikt gegen einen solchen Weg. Er wurde durch Intrigen, Desinformationen und Unterschlagung von Fakten hingehalten, bis er Schritt um Schritt die Gefährlichkeit der stillschweigend angehäuften Machtfülle Stalins erkannte. Da Lenin aus gesundheitlichen Gründen an der ZK-Sitzung zu diesem Thema nicht teilnehmen konnte, schrieb er am 5. März 1923 folgenden Brief an Trotzki: »Ich möchte Sie sehr bitten, die Verteidigung der georgischen Sache im ZK der Partei zu übernehmen. Die Angelegenheit steht jetzt unter ›Verfolgung‹ von Stalin und Dserschinski, und ich kann mich auf deren Unparteilichkeit nicht verlassen. Sogar im Gegenteil. Wenn Sie bereit wären, die Verteidigung zu übernehmen, könnte ich ruhig sein… Mit bestem kameradschaftlichen Gruß Lenin.« Dieser Brief zeigt erneut einerseits das große Vertrauen Lenins zu Trotzki und das wachsende Misstrauen gegenüber Stalin. Aber dies hat auch einen persönlichen Aspekt. Lenin unterzeichnete offizielle Dokumente, Anweisungen und politische Briefe allgemein nur mit »Lenin«. An Personen gerichtete Briefe meist »Mit kommunistischem Gruß«. An Vertraute wie Maxim Gorki mit »Ihr Lenin«. Es werden kaum Schriftstücke zu finden sein, unter denen steht: »Mit bestem kameradschaftlichen Gruß«.



In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Lenin zu diesem Zeitpunkt damit begann, ernsthaft gegen Verbürokratisierung, Schlamperei und Vetternwirtschaft aufzutreten. In einem Brief an den Parteitag bezog er sich auf die Aufgabe, »unseren Apparat zu überprüfen, zu verbessern und neu zu gestalten. Die Arbeiter- und Bauerninspektion, die diese Funktion zunächst innehatte, erwies sich als außerstande, ihr gerecht zu werden…«

 In einem Brief »An die Kollegiumsmitglieder des Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauerninspektion« vom 21. August 1922 heißt es: »Ich habe immer gehofft, dass der Zustrom neuer Funktionäre in das Kollegium der Arbeiter- und Bauerninspektion die Sache beleben wird, aber aus dem, was Stalin sagte, konnte ich nichts dergleichen ersehen.«

 In seiner bekannten Arbeit »Lieber weniger aber besser« kam Lenin am 2. März 1923 erneut auf die Arbeiter- und Bauerninspektion zurück. Er stellte fest: »Sprechen wir offen. Das Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion genießt gegenwärtig nicht die geringste Autorität. Jedermann weiß, dass es keine schlechter organisierten Institutionen als die unserer Arbeiter- und Bauerninspektion gibt und dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen von diesem Volkskommissariat rein gar nichts zu erwarten ist.«

 Für die Arbeit dieses Volkskommissariats war aber Stalin verantwortlich, weshalb Lenin auch mit diesem das oben angeführte kritische Gespräch führte. Insofern ging die ganze harte Kritik in hohem Maße an Stalins Adresse.



Obwohl Trotzki in dieser Hinsicht nicht explizit in Erscheinung trat, entwickelten sich die Dinge angesichts von Lenins Kampf gegen Verbürokratisierung, Misswirtschaft und Herrschaft der Apparate in eine Richtung, in der Stalin gegenüber seinem Widersacher Trotzki immer mehr ins Hintertreffen geriet. Lenin hat diese Gegnerschaft mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und darin eine Gefahr für die Stabilität der Partei erkannt. In seinem berühmten »Brief an den Parteitag«, der häufig als eine Art Testament angesehen wird, schrieb er am 24. Dezember 1922: »Ich denke, ausschlaggebend sind in der Frage der Stabilität unter diesem Gesichtspunkt solche Mitglieder des ZK wie Stalin und Trotzki. Die Beziehungen zwischen ihnen stellen meines Erachtens die größere Hälfte der Gefahr jener Spaltung dar, die vermieden werden könnte…«

 Und Lenin setzt fort: »Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.«

 Über Trotzki schrieb er, dieser zeichnet sich »… nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewusstsein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen hat.«



Aber zwei Wochen später, d.h. am 4. Januar 1923, fügt Lenin dem eine Ergänzung zu. Hier geht er einen deutlichen Schritt weiter und stellt fest: »Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte und jemand anderen an diese Stelle zu setzen…«

 Und Lenin zählt nochmals jene Verhaltensweisen Stalins auf, die unter dem Sammelbegriff Grobheit subsumiert sind und die ein anderer Generalsekretär nicht haben darf: »… dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist.«



Mit welch aus heutiger Sicht wirklich genial zu nennendem Weitblick Lenin dieses Problem erkannt hat, zeigt sich an folgender Bemerkung: »Es könnte so scheinen als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit. Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit, oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung erlangen kann.«

 Heute ist bekannt, welch entscheidende Bedeutung »diese Kleinigkeit« für die KPdSU und für die gesamte internationale Arbeiterbewegung erlangt hat.



Am 21. Januar 1924 starb Lenin.



Damit war die erste Periode der Herausbildung des Trotzkismus beendet. Wieso ist das so zu kennzeichnen, wo doch dieser Begriff in der Zeit von 1918 bis 1924 noch gar nicht auftaucht? Das lässt sich daraus ableiten, dass sich die politischen Gegensätze zwischen Stalin und Trotzki in dieser Zeit an jeweils sehr unterschiedlichen Vorgängen entzündeten. Ihnen lag noch keine konzeptionelle und strategische Gestalt zugrunde. Erst mit der Verhärtung des Verhältnisses von Lenin zu Stalin, mit der Leninschen Empfehlung der Abberufung Stalins, mit der Ankündigung Lenins des Abbruchs aller persönlicher Beziehungen zu Stalin, wenn dieser sich nicht bei Lenins Frau Nadeschda Konstantinovna Krupskaja für erfolgte grobe Beleidigungen entschuldige – erst dann erkannte Stalin die akute Gefahr seines Machtverlustes. Es entstand für ihn die Notwendigkeit, seinem Konflikt mit Trotzki eine theoretische Konzeption unterzulegen. Insofern kann die Zeit bis zu Lenins Tod als erste Periode oder als Vorstufe für die Entstehung des Trotzkismus betrachtet werden.






6.2 Zweite Etappe nach Lenins Tod



Die zweite Etappe der Entstehung des Trotzkismus entfaltete sich auf zwei Ebenen. Erstens auf der praktisch-politischen Ebene und zweitens auf der konzeptionell-theoretischen Ebene. Im praktisch-politischen Bereich begann dies mit einer Intrige Stalins. Als Lenin starb, befand sich Trotzki auf dem Weg zu einer ärztlich verordneten Kur in Suchumi und wollte dies nach der Nachricht von Lenins Tod sofort abbrechen und nach Moskau zurückkehren. Daraufhin ließ Stalin ihm einen sehr frühen Bestattungstermin mitteilen, zudem er ohnehin nicht mehr zurecht käme und er daher seine Kur fortsetzen solle. Dann wurde jedoch ein späterer Termin festgesetzt, den Trotzki hätte erreichen können. Nun trat Stalin als der maßgebende Parteiführer und kompetente Grabredner bei der Bestattungsfeier auf. Partei und Land wunderten sich zunächst, aber jetzt ging es Schlag auf Schlag und der Kampf dieser beiden Parteiführer gegeneinander wurde in die Öffentlichkeit getragen.



Lenins Bemühen um eine deutliche Verbesserung der Arbeitsweisen des Staatsapparates, um eine Einschränkung der Herrschaft der Parteibürokratie und um eine Beschneidung der »gewaltigen Macht« in den Händen des Generalsekretärs wurde schon während Lenins Krankheit von einer beachtlichen Zahl von Parteifunktionären unterstützt und nach Lenins Tod fortgesetzt. Ihr Wortführer war Leo Trotzki. In einem Brief an das ZK der KPR vom 8. Oktober 1923 wandte sich Trotzki scharf gegen die installierte Herrschaft der Apparate in Partei und Regierung, gegen die Missachtung der Demokratie und gegen die »praktizierte falsche Politik«. Diese Kritik stützte sich auch auf die Kenntnis der wachsenden Unzufriedenheit mit der Wirtschaftslage und der innerparteilichen Entwicklung in der Bevölkerung und in der Parteimitgliedschaft. Dies fand seinen Ausdruck in der am 15. Oktober 1923 dem Politbüro übergebenen »Erklärung der Sechsundvierzig«, in der 46 führende alte Bolschewiki wie Preobraschenski, Serebrjakow, Smirnow, Pjatakow und andere die Wirtschaftspolitik und noch mehr das Parteiregime scharf kritisierten. Das war der Beginn der Formierung einer Linken Opposition, die sich später zu einer Internationalen Linken Opposition (ILO) entwickelte.

 



Inzwischen war ein weiterer Vorgang geschehen. In der Prawda vom 24. März 1923 wurde von Kamenjew erstmals der Begriff Leninismus gebraucht, verbunden mit dem Vorschlag, unter diesem Begriff Lenins Gedankengebäude in der Art eines Katechismus populärer Art zusammenzufassen.

 Pierre Broué schreibt mit vollem Recht, solch eine Sache »wäre mit einem Lenin im vollen Besitz seiner Kräfte undenkbar gewesen. Bald sollte man sehen, dass dieser Begriff im Mund der Führungskräfte nur als Gegensatz zum ›Trotzkismus‹ – einem Fremdkörper in der bolschewistischen Partei – Sinn machte.«



Und in der Tat: nachdem es bei der Behandlung der Erklärung der 46 im Politbüro einiges Hin und Her gab, eröffnete Stalin in der Prawda vom 15. Dezember 1923 die Kampagne gegen Trotzki. Auf der 13. Parteikonferenz vom 16. bis 18. Januar 1924 werden die Auffassungen der Opposition als kleinbürgerliche verurteilt und im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen hieß der Generalnenner: Leninismus oder Trotzkismus. In einer Rede Kamenjews, die in der Prawda vom 26. November 1924 unter eben diesem Titel veröffentlicht wurde, wird der »Leninismus als Lehre von der proletarischen Revolution« gekennzeichnet, demgegenüber »spielte der Trotzkismus keine andere Rolle als die einer Agentur des Menschewismus, einer Verschleierung des Menschewismus, einer Maskierung des Menschewismus.«



In der Prawda vom 30. November 1924 folgte Sinowjews Artikel »Bolschewismus oder Trotzkismus«. In der Leningradskaja Prawda schrieb G. I. Safarow über »Trotzkismus und Leninismus«. Alle diese und andere Schriften dieser Art wurden in einem Sammelband mit dem Titel »Sa Leninism« (Für den Leninismus) zusammengefasst, der im Januar 1925 mit einem Vorwort des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare A. J. Rykow erschien.



Auf dem V. Kongress der Kommunistischen Internationale wird die Kampagne gegen Trotzki in die kommunistische Weltbewegung getragen. Otto W. Kuusinen (Finnland) attackierte Trotzki unter der Überschrift »Eine verlogene Darstellung des deutschen Oktober«. Bela Kun (Ungarn) kam wieder auf das Hauptthema: »Der Trotzkismus und der revolutionäre Marxismus«. Auch Brandler und Thalheimer (Deutschland) stimmten in diesen Chor ein.



Und Trotzki? Völlig unerwartet für alle Oppositionellen: Trotzki schwieg! Selbst für Situationen mit relativ günstigen Bedingungen dafür, die Partei gegen Stalins Machtfülle und Machtmissbrauch zu mobilisieren, wie bei der Handhabung von Lenins Testament, stellt P. Broué fest: »Trotzki, für den die Veröffentlichung des Textes ein hervorragender Trumpf hätte sein können, schwieg.«



Als das Zentralkomitee und die Zentrale Kontrollkommission gemeinsam über die »Erklärung der 46« berieten und die Stimmung gegen Bürokratie und Apparateherrschaft im Anschwellen war, arbeitete er gemeinsam mit Stalin und Kamenjew eine Resolution aus mit dem Ziel, die Partei zu beruhigen und ihr mehr Demokratie zu versprechen. Dies gelang und eröffnete den Apparatschiks die Möglichkeit, die in der Resolution genannten Prinzipien zu unterlaufen und ihre Herrschaft wieder zu stabilisieren.



Am 15. September 1924 vollendete Trotzki seine Schrift »Die Lehren des Oktober« für die anschließende Veröffentlichung.

 Diese Schrift wurde nun zum zentralen Gegenstand des oben angeführten Hauptangriffs. In die Parteigeschichte ging dies alles ein unter dem Begriff der literarischen Debatte. In einem späteren Gespräch mit Sinowjew fragte Trotzki, ob die Debatte gegen den Trotzkismus auch stattgefunden hätte, wenn »Die Lehren des Oktober« nicht erschienen wären, antwortete Sinowjew: »Sicherlich hätte sie stattgefunden, denn der Plan, mit dieser Debatte zu beginnen, war schon vorher angenommen worden, und sie warteten nur noch auf einen Vorwand.«



Auch für diese antitrotzkistische Kampagne gilt die Feststellung von P. Broué: »Tatsächlich hat Trotzki auf diese Flut von Kritiken und Attacken sowie auf die aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate und verleumderischen Interpretationen nicht geantwortet.«



Die einschlägige Literatur ist voller Erklärungsversuche für Trotzkis Verhalten. Sie gehen von der Psychologie über gesundheitliche Aspekte, taktische Überlegungen, politische Fehleinschätzungen bis zu Charakterfragen. Es kann hier nicht Aufgabe sein, diesen Erklärungsversuchen einen weiteren hinzuzufügen. Es soll jedoch auf einen Aspekt hingewiesen werden, den Trotzki selbst formulierte und der in der Literatur kaum Beachtung fand. In einem Memorandum mit dem Titel »Der Gegenstand dieser Erklärung: unsere Divergenzen« vom 30. November 1924, welches sich an Kamenjew richtet, heißt es gleich zu Beginn: »Wenn ich dächte, meine Erklärungen könnten Öl ins Feuer der Diskussion gießen oder wenn die Genossen von denen der Druck dieses Essays abhängt, mir es frank und frei sagen, werde ich ihn nicht veröffentlichen, so belastend es für mich auch ist, der Liquidierung des Leninismus beschuldigt zu sein.«

 Offensichtlich spielt hier ein Aspekt eine wesentliche Rolle, der von vielen Literaten übersehen wird und den man vielleicht nur voll bewerten kann, wenn man selbst fest in der Partei verwurzelt ist: Parteidisziplin! Dies aber nicht in dem diktatorischen Sinn, in dem dieser Begriff später in den kommunistischen Parteien missbraucht wurde, sondern aus ehrlicher Sorge um die innere Einheit und Stabilität der Partei.



Dieses Verständnis von Parteidisziplin führte dazu, dass Trotzki bis zu seiner Ausweisung 1929 in diesen Machtkämpfen eine ausgeprägt defensive Position bezog. Dies trat besonders deutlich in Erscheinung, als 1925 das Buch von Max Eastman »Since Lenin Died« erschien und darin über das Testament Lenins und über den Umgang damit berichtet wurde. Um den damit ausgelösten Skandal zu unterdrücken, verpflichtete das Politbüro Trotzki als vermutlich glaubwürdigsten Zeugen, die Darstellung Eastmans zurückzuweisen. Dafür wurde ihm folgender Text diktiert: »… Alle Redereien über ein verheimlichtes oder verletztes Testament sind bösartige Erfindungen und sind ganz und gar gegen den faktischen Willen Wladimir Iljitschs sowie gegen die Interessen der von ihm geschaffenen Partei gerichtet.« Und Trotzki unterschrieb wider besseres Wissen! Das war eine eindeutige Kapitulationserklärung.



In der Literatur findet sich mehrfach die Auffassung, Trotzki habe den Kampf um die Macht gegen Stalin verloren. Das ist in sofern eine irreführende Formulierung, als Trotzki diesen Kampf nie ernsthaft geführt hat. Das zeigte sich nicht erst 1925 bei der völlig unverständlichen Erklärung gegen Max Eastman. 1923 wurde vorgeschlagen, dass infolge Abwesenheit Lenins der politische Bericht des ZK auf dem XII. Parteikongress von Trotzki erstattet werden solle, was seine Position in der Gesamtpartei gefestigt hätte. Er lehnte dies ab und schlug selbst Stalin als Berichterstatter vor.



Beim Bekanntwerden von Lenins Testament stimmte Trotzki der Entscheidung zu, diesen Brief Lenins an den Parteitag nicht zu veröffentlichen.



Bei der Erklärung der 46 Oppositionellen, die Trotzki nicht unterschrieben hat, setzte er sich mit Stalin und Kamenjew an einen Tisch und arbeitete eine dagegen gerichtete Resolution aus, anstatt sich an die Spitze der Opposition zu stellen. Auch in der literarischen Debatte hielt er sich zurück – siehe sein Statement an Kamenjew. Diese selbstzerstörerische Haltung behielt Trotzki bis zu seiner Ausweisung bei.



Wenn ein Boxer bei einem angesetzte Fight nicht

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?