H. G. Wells – Gesammelte Werke

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VIII. Freitag Nacht

Von al­len den son­der­ba­ren und er­staun­li­chen Din­gen, die sich an je­nem Frei­tag zu­tru­gen, war für mei­ne Be­grif­fe das merk­wür­digs­te die Ver­qui­ckung der All­tags­ge­wohn­hei­ten un­se­rer ge­sell­schaft­li­chen Ord­nung mit den ers­ten An­zei­chen je­ner Rei­he voll Er­eig­nis­sen, wel­che die­se ge­sell­schaft­li­che Ord­nung über den Hau­fen wer­fen soll­ten. Hät­te man am Frei­tag Nacht mit ei­nem Zir­kel einen Kreis von fünf Mei­len im Halb­mes­ser rund um die Sand­gru­ben in Wo­king ge­zo­gen, so hät­te man — da­von bin ich über­zeugt — au­ßer etwa den An­ge­hö­ri­gen Mr. Stents oder der paar Rad­fah­rer, oder der Lon­do­ner, die tot auf der Wei­de la­gen, kein mensch­li­ches We­sen au­ßer­halb die­ses Krei­ses ge­fun­den, des­sen Emp­fin­dun­gen oder Ge­wohn­hei­ten nur im Ge­rings­ten von den Neu­an­kömm­lin­gen be­rührt wur­den. Vie­le Leu­te hat­ten na­tür­lich von dem Zy­lin­der ge­hört; wenn sie Zeit hat­ten, spra­chen sie wohl auch da­von; si­cher­lich aber mach­te die Ge­schich­te längst nicht den auf­re­gen­den Ein­druck, den etwa ein Ul­ti­ma­tum an Deutsch­land ge­weckt hät­te.

In Lon­don wur­de in je­ner Nacht das Te­le­gramm des ar­men Hen­der­son, das die all­mäh­li­che Auf­schrau­bung des Ge­schos­ses be­schrieb, all­ge­mein für eine Ente ge­hal­ten, und sein Abend­blatt te­le­gra­fier­te an ihn um eine auf­klä­ren­de Be­stä­ti­gung; da aber kei­ne Ant­wort von ihm ein­traf — der Mann war ja tot — be­schloss man, kei­ne Son­der­aus­ga­be zu ver­an­stal­ten.

Selbst in­ner­halb des Fünf-Mei­len-Krei­ses blieb die große Mehr­heit der Leu­te gleich­mü­tig. Das Be­tra­gen der Män­ner und der Frau­en, mit de­nen ich sprach, habe ich schon be­schrie­ben. Im gan­zen Um­kreis setz­ten sich die Leu­te am Mit­tag und am Abend zu Tisch; Ar­bei­ter be­sorg­ten nach dem Ta­ge­werk ih­ren Gar­ten, Kin­der wur­den zu Bett ge­bracht; jun­ge Leu­te und Lie­bes­paa­re lust­wan­del­ten in den He­cken­we­gen; Ge­lehr­te sa­ßen über ih­ren Bü­chern.

Mag sein, dass in den Dorf­stra­ßen al­ler­lei wir­re Re­den gin­gen, dass in den Schen­ken ein neu­er und sieg­rei­cher Ge­sprächss­toff auf­tauch­te, dass ab und zu ein Bote, oder so­gar ein Au­gen­zeu­ge der jüngs­ten Er­eig­nis­se, einen Sturm von Auf­re­gung, wil­des Ge­schrei und er­schreck­te Zu­sam­men­läu­fe ver­ur­sach­te. Aber im großen Gan­zen ging das all­täg­li­che Trei­ben, Ar­bei­ten, Es­sen, Trin­ken, Schla­fen wei­ter wie seit un­ge­zähl­ten Jah­ren — als ob es kei­nen Pla­ne­ten Mars am Him­mel gäbe. Selbst auf der Sta­ti­on Wo­king, in Hor­sell und in Chob­ham war das der Fall.

Am Kno­ten­punkt von Wo­king sah man noch in spä­ter Stun­de Züge hal­ten und ab­fah­ren, an­de­re wur­den ver­scho­ben, Rei­sen­de stie­gen aus und war­te­ten, und al­les ging in der ge­wohn­ten Wei­se vor sich. Ein Zei­tungs­jun­ge von der Stadt ver­kauf­te, un­be­küm­mert um Mr. Smit­hs Mo­no­pol, die Blät­ter mit den Neu­ig­kei­ten des Nach­mit­tags. Das Klir­ren und Sto­ßen der Las­ter und die gel­len­den Pfif­fe der Lo­ko­mo­ti­ven ver­misch­ten sich mit sei­nem Ge­schrei: »Män­ner vom Mars!« Um neun Uhr ka­men ei­ni­ge er­reg­te Leu­te mit un­glaub­wür­di­gen Be­rich­ten auf den Bahn­hof, rie­fen aber kei­ne grö­ße­re Ver­wir­rung her­vor als etwa Be­trun­ke­ne. Leu­te, die in der Rich­tung nach Lon­don fuh­ren und durch die Wa­gen­fens­ter in die Dun­kel­heit hin­aus­blick­ten, sa­hen nur einen selt­sa­men, fla­ckern­den, im­mer wie­der er­lö­schen­den und im­mer wie­der auf­tau­chen­den Licht­schein ge­gen Hor­sell zu schim­mern, sa­hen eine rote Glut und einen dün­nen Schlei­er Rauch zum Him­mel trei­ben; und sie dach­ten wei­ter nichts, als dass dort ein Hei­de­feu­er bren­ne. Nur als der Zug am letz­ten Stück des Wei­de­lan­des vor­über­fuhr, konn­te man ei­ni­ge Auf­re­gung be­mer­ken. An der Ge­mein­de­gren­ze von Wo­king brann­ten etwa sechs Land­häu­ser. In al­len Häu­sern der drei Dör­fer auf der Wei­de­sei­te brann­te Licht und die Leu­te wach­ten bis Ta­ge­s­an­bruch.

Neu­gie­ri­ge Men­schen­hau­fen hiel­ten sich hart­nä­ckig auf den Brücken in Chob­ham und in Hor­sell auf. Leu­te ka­men und gin­gen, aber die Men­ge blieb. Ei­ni­ge wag­hal­si­ge Ge­sel­len schli­chen sich, wie man spä­ter hör­te, in die Dun­kel­heit hin­aus und kro­chen ganz nahe an die Mars­leu­te her­an; aber sie kehr­ten nie wie­der zu­rück; denn von Zeit zu Zeit folg­te ein Licht­strahl wie der Schein­wer­fer ei­nes Kriegs­schif­fes über die Wei­de, und der Hit­ze­strahl folg­te un­mit­tel­bar dar­auf. Von die­sen Un­ter­bre­chun­gen ab­ge­se­hen, schi­en jene große Flä­che Wei­de­lan­des schwei­gend und ver­las­sen; und die ver­kohl­ten Lei­chen la­gen die gan­ze Nacht un­ter den Ster­nen auf der Erde und blie­ben dort den gan­zen nächs­ten Tag. Ein Geräusch von der Gru­be her, das wie Häm­mern klang, wur­de von vie­len Leu­ten ge­hört.

Das war der Stand der Din­ge Frei­tag nachts. Im Mit­tel­punkt stak in der Rin­de un­se­res al­ten Pla­ne­ten wie ein ver­gif­te­ter Wurfs­peer, der Zy­lin­der. Doch das Gift war kaum noch wirk­sam. Rund um­her lag ein Stück schwei­gen­den Wei­de­lan­des, das an ei­ni­gen Stel­len glimm­te, und hier und dort la­gen ei­ni­ge dunkle un­deut­li­che Kör­per in ver­zerr­ten Stel­lun­gen. Ab und zu brann­te ein Strauch, ein Baum. Dar­über hin­aus ein Fla­ckern von Er­re­gung, aber über die­ses Fla­ckern war der Brand nicht hin­aus­ge­wach­sen. In der üb­ri­gen Welt floss der Strom des Le­bens hin, wie er seit un­denk­li­chen Jah­ren hin­ge­flos­sen war. Das Fie­ber des Krie­ges, das in kur­z­er Zeit Adern und Ve­nen ge­rin­nen lässt, Ner­ven er­tö­ten und das Ge­hirn zer­stö­ren soll­te, muss­te erst ent­ste­hen.

Die gan­ze Nacht hin­durch häm­mer­ten die Mars­leu­te und wa­ren un­abläs­sig, schlaf­los, un­er­müd­lich, mit den Ma­schi­nen, die sie in­stand setz­ten, be­schäf­tigt. Im­mer wie­der fuhr eine Mas­se grün­lich-wei­ßen Rau­ches zum ster­nen­hel­len Him­mel auf.

Un­ge­fähr um elf Uhr kam ein Zug Sol­da­ten durch Hor­sell und ver­teil­te sich am Ran­de der Wei­de, um einen Kor­don zu bil­den. Spä­ter mar­schier­te ein zwei­ter Zug durch Chob­ham, um sich auf der Nord­sei­te zu ver­tei­len. Ei­ni­ge Of­fi­zie­re von der In­ker­man-Ka­ser­ne wa­ren schon am frü­hen Mor­gen bei der Wei­de an­ge­kom­men, und ei­ner, Ma­jor Eden, wur­de als ver­misst ge­mel­det. Der Oberst des Re­gi­ments kam um Mit­ter­nacht zur Chob­ham-Brücke und frag­te die Men­ge eif­rig aus. Die mi­li­tä­ri­schen Be­hör­den wa­ren sich des Erns­tes der Din­ge ohne Zwei­fel völ­lig be­wusst. Am nächs­ten Mor­gen wa­ren die Zei­tun­gen in der Lage mit­zu­tei­len, dass um elf Uhr eine Schwa­dron Husa­ren, zwei Ma­xim-Ge­schüt­ze,1 und etwa 400 Mann des Car­di­gan-Re­gi­ments von Al­ders­hot ab­gin­gen.

Ei­ni­ge Se­kun­den nach Mit­ter­nacht sah die Men­ge in der Chert­sey-Stra­ße in Wo­king einen Stern in nord­west­li­cher Rich­tung in das Fich­ten­ge­hölz ein­fal­len. Er fiel un­ter grün­li­chen Licht­er­schei­nun­gen und ver­ur­sach­te ein Zu­cken von Licht wie ein som­mer­li­cher Blitz. Das war der zwei­te Zy­lin­der.

1 sie­he Ma­xim-Ma­schi­nen­ge­wehr <<<

IX. Der Kampf beginnt

Der Sams­tag lebt in mei­ner Erin­ne­rung als ein Tag ban­ger Er­war­tung. Er war auch ein Tag der Mat­tig­keit, heiß, und schwül; wie man mir mit­teil­te, wech­sel­te das Baro­me­ter un­auf­hör­lich. Mei­ner Frau war es ge­gönnt, bald ein­zu­schla­fen; ich hat­te nur we­nig Schlaf ge­fun­den und stand früh auf. Vor dem Früh­stück ging ich in den Gar­ten und blieb dort lau­schend ste­hen. Aber in der Rich­tung ge­gen die Wei­de reg­te sich nichts als eine Ler­che.

Der Milch­mann kam wie ge­wöhn­lich. Ich hör­te das Ras­seln sei­nes Kar­rens und ging ums Haus her­um zum Sei­ten­p­fört­chen, um von ihm die letz­ten Neu­ig­kei­ten zu er­fah­ren. Er er­zähl­te mir, dass im Lau­fe der Nacht die Mars­leu­te von den Trup­pen um­zin­gelt wur­den und dass man Ge­schütz er­war­te. Ich hör­te (ein ver­trau­tes, be­ru­hi­gen­des Geräusch!) einen Zug Rich­tung Wo­king zu fah­ren.

»Man will sie nicht tö­ten«, sag­te der Milch­mann, »wenn es nur ir­gend­wie ver­mie­den wer­den kann.«

Ich sah einen Nach­bar in sei­nem Gar­ten ar­bei­ten, plau­der­te eine Wei­le mit ihm und schleu­der­te ge­mäch­lich ins Haus zu­rück, um zu früh­stücken. Es war durch­aus kein un­ge­wöhn­li­cher Mor­gen. Mein Nach­bar war der An­sicht, dass es den Trup­pen ge­lin­gen wür­de, die Mars­leu­te wäh­rend des Ta­ges ent­we­der ge­fan­gen zu neh­men oder zu ver­nich­ten.

»Es ist wirk­lich scha­de, dass sie sich so un­nah­bar ma­chen«, sag­te er. »Es wäre doch in­ter­essant zu hö­ren, wie man auf ei­nem an­de­ren Pla­ne­ten lebt; und wir könn­ten das eine oder das an­de­re von ih­nen er­fah­ren.«

Er kam an den Zaun her­an und hielt mir eine Hand­voll Erd­bee­ren hin; denn sei­ne Lie­be zur Gärt­ne­rei war eben­so frei­ge­big wie lei­den­schaft­lich. Zu­gleich teil­te er mir mit, dass das Fich­ten­ge­hölz bei den Byfleet Golf links in Flam­men ste­he.

»Sie sa­gen«, er­zähl­te er, »dass dort ein an­de­res die­ser lie­ben Din­ge ein­ge­fal­len sei — Num­mer zwei. Aber eins ist wirk­lich ge­nug. Die­se Be­sche­rung wird den Ver­si­che­rungs­leu­ten ein hüb­sches Stück Geld kos­ten, ehe der Rum­mel zu Ende ist.« Er lach­te mit der Mie­ne ei­nes über­aus gut ge­laun­ten Man­nes, als er das sag­te. Das Ge­hölz, fuhr er fort, bren­ne noch im­mer, und er wies mit der Hand nach ei­ner ne­bel­glei­chen Rauch­men­ge. »Sie wer­den es noch ta­ge­lang heiß un­ter den Fü­ßen spü­ren we­gen des er­hitz­ten Bo­dens, den eine dich­te Schicht glü­hen­der Fich­ten­na­deln be­de­cken wird.« Dann wur­de er ernst und sprach von dem ar­men Ogil­vy.

 

Nach dem Früh­stück ent­schloss ich mich, statt zu ar­bei­ten, einen Gang zur Wei­de zu ma­chen. Un­ter der Ei­sen­bahn­brücke traf ich eine Grup­pe von Sol­da­ten — Pio­nie­re, wie ich glau­be, Leu­te mit klei­nen run­den Müt­zen, schmut­zi­gen of­fe­nen ro­ten Ja­cken, die ihre blau­en Hem­den se­hen lie­ßen, in dunklen Ho­sen und Stie­feln, die bis zur Wade reich­ten. Sie sag­ten mir, dass nie­mand über den Kanal dür­fe; und als ich mei­nen Blick die Stra­ße ent­lang auf die Brücke rich­te­te, sah ich dort einen Mann des Car­di­gan-Re­gi­ments Wa­che ste­hen. Mit die­sen Sol­da­ten sprach ich eine Zeit lang; ich er­zähl­te ih­nen von mei­ner Be­geg­nung mit den Mars­leu­ten am vo­ri­gen Abend. Kei­ner von ih­nen hat­te die Mars­leu­te ge­se­hen, und sie mach­ten sich nur ganz un­kla­re Vor­stel­lun­gen von ih­nen. So kam es, dass sie mich mit Fra­gen be­stürm­ten. Sie er­zähl­ten mir, dass sie nicht wuss­ten, wer das Ein­grei­fen der Trup­pen ver­an­lasst hät­te; sie ver­mu­te­ten, dass bei der be­rit­te­nen Gar­de eine Aus­ein­an­der­set­zung statt­ge­fun­den habe. Der ge­wöhn­li­che Pio­ni­er ist bei Wei­tem ge­bil­de­ter als der ge­mei­ne Sol­dat, und sie be­spra­chen die son­der­ba­ren Be­din­gun­gen des vor­aus­sicht­li­chen Kamp­fes mit ziem­lich viel Scharf­sinn. Ich schil­der­te ih­nen den Hit­ze­strahl, und sie fin­gen nun an, sich un­ter­ein­an­der dar­über aus­zu­spre­chen.

»Sich un­ter Be­de­ckung her­an­krie­chen und dann auf sie los­stür­zen, sage ich«, mein­te ei­ner.

»Hör’ auf!«,sag­te ein an­de­rer, »wozu taugt denn eine Be­de­ckung bei die­ser Hit­ze? Höchs­tens zu Spä­nen, um dich bes­ser zu bra­ten. Aber was wir zu tun ha­ben, ist so nahe her­an­rücken, als das Ter­rain es er­laubt und dann einen Gra­ben zie­hen.«

»Kuckuck mit dei­nen Grä­ben! Du brauchst im­mer Grä­ben. Du hät­test sol­len als Ka­nin­chen zur Welt kom­men, Snip­py.«

»Ha­ben sie also wirk­lich kei­nen Na­cken?«, frag­te mich plötz­lich ein drit­ter, ein klei­ner, dunk­ler, nach­denk­li­cher Mann, der eine Pfei­fe rauch­te.

Ich wie­der­hol­te mei­ne Be­schrei­bung.

»Ok­to­pus­se«, sag­te er, »das ist’s, was ich sie nen­ne, da spricht man von Men­schen­fi­schern — dies­mal heißt es Fi­sche be­kämp­fen!«

»Es ist kein Mord, sol­che Bes­ti­en um­zu­brin­gen«, sag­te der ers­te Spre­cher.

»Wa­rum die­se ver­fluch­ten Ker­le nicht zu­sam­men­schie­ßen und ein Ende mit ih­nen ma­chen?«, mein­te der klei­ne Dun­kel­haa­ri­ge. »Ihr könnt nicht wis­sen, was sie noch an­stel­len.«

»Wo sind dann dei­ne Bom­ben?«, höhn­te der ers­te. »Dazu ist nicht mehr Zeit. Macht einen Über­fall – das ist mein Plan – und macht ihn so­fort.«

In die­ser Wei­se be­spra­chen sie den Fall. Nach ei­ner Wei­le ver­ließ ich sie und ging zum Bahn­hof, um mir so viel Mor­gen­blät­ter als mög­lich zu ver­schaf­fen.

Doch will ich den Le­ser mit ei­ner Be­schrei­bung des lan­gen Mor­gens und des noch län­ge­ren Nach­mit­tags nicht er­mü­den. Es ge­lang mir nicht, auch nur einen Blick auf die Wei­de zu wer­fen, denn selbst die Kirchtür­me von Hor­sell und Chob­ham wa­ren in den Hän­den der mi­li­tä­ri­schen Be­hör­den. Die Sol­da­ten, an die ich mich wen­de­te, wuss­ten nicht das Ge­rings­te. Die Of­fi­zie­re wa­ren eben­so ge­heim­nis­voll wie ge­schäf­tig. Die Leu­te in der Stadt fühl­ten sich, wie ich sah, voll­kom­men si­cher bei der An­we­sen­heit des Mi­li­tärs. Da­mals erst hör­te ich von Mars­hall, dem Ta­bak­händ­ler, dass sein Sohn sich un­ter den To­ten auf der Wei­de be­fand. Die Sol­da­ten hat­ten die Be­woh­ner der Vor­städ­te von Hor­sell ge­nö­tigt, ihre Häu­ser zu schlie­ßen und zu ver­las­sen.

Sehr er­mü­det kehr­te ich etwa um zwei Uhr zum Ga­bel­früh­stück nach Hau­se zu­rück, denn, wie schon er­wähnt, war der Tag er­drückend heiß; um mich et­was zu er­fri­schen, nahm ich nach­mit­tags ein kal­tes Bad. Um halb fünf un­ge­fähr, ging ich zum Bahn­hof, um mir ein Abend­blatt zu kau­fen, denn die Mor­gen­blät­ter hat­ten nur sehr un­zu­läng­li­che Be­rich­te von der Er­mor­dung Stents, Hen­der­sons, Ogil­vys und der an­de­ren ent­hal­ten. Auch sonst stand we­nig dar­in, das ich nicht schon wuss­te. Die Mars­leu­te lie­ßen nicht einen Zol­les Brei­te von sich se­hen. Sie schie­nen in ih­rer Gru­be sehr ge­schäf­tig zu sein; man ver­nahm ein un­aus­ge­setz­tes Häm­mern und sah fast un­un­ter­bro­chen Rauch­säu­len auf­stei­gen. Sie wa­ren au­gen­schein­lich be­schäf­tigt, sich für einen Kampf in Be­reit­schaft zu set­zen. »Er­neu­er­te Ver­su­che wur­den ge­macht, eine Ver­stän­di­gung zu er­zie­len, doch ohne Er­folg«, das war eine ste­reo­ty­pe Wen­dung der Blät­ter. Ein Pio­ni­er er­zähl­te mir, dass der An­nä­he­rungs­ver­such durch einen Mann ge­sch­ah, der in ei­ner Gru­be ste­hend, an ei­ner lan­gen Stan­ge eine Fah­ne schwenk­te. Die Mars­leu­te schenk­ten sol­chen Maß­re­geln eine eben so große Be­ach­tung, wie wir etwa dem Brül­len ei­ner Kuh.

Ich muss ge­ste­hen, dass mich der An­blick al­ler die­ser Aus­rüs­tun­gen und Vor­be­rei­tun­gen aufs Äu­ßers­te er­reg­te. Mei­ne Ein­bil­dungs­kraft wur­de krie­ge­risch und be­sieg­te die Ein­dring­lin­ge auf dut­zen­der­lei her­vor­ra­gen­de Wei­se. Ein Rest mei­ner Schul­kna­ben­träu­me von Schlacht und Hel­den­tum wach­te wie­der in mir auf. Dies­mal aber schi­en es mir kein ehr­li­cher Kampf zu sein. So hilf­los er­schie­nen jene mir in ih­rer Gru­be.

Um drei Uhr etwa hör­te man von Chert­sey oder Add­le­sto­ne her in ab­ge­mes­se­nen Zwi­schen­räu­men die ers­ten Ka­no­nen­schüs­se. Ich er­fuhr, dass da zu­erst das glim­men­de Fich­ten­ge­hölz, in das der zwei­te Zy­lin­der ein­ge­fal­len war, be­schos­sen wur­de; man hoff­te, das Rohr zu zer­stö­ren, be­vor es sich öff­ne­te. In­des­sen dau­er­te es bis un­ge­fähr fünf Uhr, ehe ein Feld­ge­schütz Chob­ham er­reich­te, um ge­gen die ers­te Ab­tei­lung der Mars­leu­te ge­rich­tet zu wer­den.

Um sechs Uhr abends, als ich mit mei­ner Frau im Gar­ten­haus beim Tee saß und eif­rig den Kampf be­sprach, der uns be­vor­stand, hör­te ich ge­dämpf­ten Don­ner von der Wei­de her dröh­nen, und un­mit­tel­bar dar­auf ein über­aus hef­ti­ges Ge­schütz­feu­er. In blitz­ar­ti­ger Fol­ge hör­te ich ein furcht­ba­res pras­seln­des Kra­chen, das den Bo­den er­schüt­ter­te. Auf den Ra­sen­platz hin­aus­stür­zend, sah ich, wie die Wip­fel der Bäu­me bei der ori­en­ta­li­schen Schu­le in rau­chen­den ro­ten Flam­men stan­den und der Turm der klei­nen Kir­che da­ne­ben ein­stürz­te. Die Kup­pel der Mo­schee war ver­schwun­den, und der Dach­stuhl der Schu­le sah aus, als hät­te ihn ein Hun­dert­ton­ner be­schos­sen. Ei­ner un­se­rer Schorn­stei­ne zer­barst, wie von ei­ner Bom­be ge­trof­fen; er saus­te her­ab, sei­ne Haupt­mas­se kam über die Dach­zie­gel her­ab­ge­pol­tert und bil­de­te einen Hau­fen ro­ter Trüm­mer auf dem Blu­men­beet vor dem Fens­ter mei­nes Stu­dier­zim­mers.

Ich und mei­ne Frau blie­ben wie be­täubt ste­hen. Dann wur­de es mir klar, dass der Kamm des May­bu­ry-Hü­gels im Be­reich des Hit­ze­strahls der Mars­leu­te sein müs­se, jetzt, da das Schul­ge­bäu­de aus dem Wege ge­räumt war.

Da fass­te ich mei­ne Frau am Arm und ohne wei­te­re Über­le­gung stürz­te ich mit ihr auf die Stra­ße hin­aus. Dann hol­te ich das Dienst­mäd­chen, und ver­sprach ihr, selbst den Kof­fer, nach dem sie jam­mer­te, her­ab­zu­brin­gen.

»Wir kön­nen un­mög­lich hier blei­ben«, sag­te ich; und wäh­rend ich sprach, hör­te man einen Au­gen­blick wie­der Ge­schütz­feu­er auf der Wei­de.

»Aber wo­hin sol­len wir ge­hen?«, frag­te mei­ne Frau ent­setzt.

Ver­wirrt über­leg­te ich. Dann er­in­ner­te ich mich ih­rer Ver­wand­ten in Lea­ther­head.

»Lea­ther­head!«,schrie ich, den plötz­li­chen Lärm über­tö­nend.

Sie wand­te ihre Au­gen ab und blick­te den Hü­gel hin­un­ter. Die Leu­te stürz­ten er­schreckt aus ih­ren Häu­sern.

»Wie sol­len wir nach Lea­ther­head kom­men?«, frag­te sie.

Am Fuße des Hü­gels sah ich einen Trupp Husa­ren un­ter der Ei­sen­bahn­brücke hin­rei­ten; sie spreng­ten durch die of­fe­nen Tore der ori­en­ta­li­schen Schu­le. Zwei stie­gen vom Pferd und be­gan­nen von Haus zu Haus zu lau­fen.

Die Son­ne leuch­te­te durch den Rauch, der von den Wip­feln der Bäu­me auf­stieg. Sie schi­en blu­tig rot und warf auf al­les einen un­ge­wohn­ten düs­te­ren Schein.

»Bleib’ hier ste­hen«, sag­te ich, »hier bist Du si­cher«, dann eil­te ich so­fort nach dem »Ge­fleck­ten Hund«; denn ich wuss­te, dass der Wirt ein Pferd und ein Do­g­cart1 be­saß. Ich rann­te, denn ich sah vor­aus, dass in kür­zes­ter Zeit sich al­les nach die­ser Sei­te des Hü­gels drän­gen wür­de. Ich fand den Wirt in sei­nem Schank­zim­mer, völ­lig un­wis­send über al­les, was hin­ter sei­nem Hau­se vor­ging. Ein Mann, der mir den Rücken zu­wen­de­te, sprach mit ihm.

»Ich be­kom­me ein Pfund«, sag­te der Wirt, »und au­ßer­dem habe ich nie­man­den zum Kut­schie­ren.«

»Ich gebe Ih­nen zwei Pfund«, sag­te ich über die Schul­ter des Frem­den hin­weg.

»Wo­für?«

»Und ich brin­ge Ih­nen den Wa­gen um Mit­ter­nacht zu­rück«, sag­te ich.

»Herr­gott!«,rief der Wirt, »wozu denn die Eile? Da bleibt ei­nem ja der Ver­stand ste­hen. Zwei Pfund, und Sie wol­len ihn zu­rück­brin­gen? Was denn noch al­les?«

Ich setz­te ihm has­tig aus­ein­an­der, dass ich mein Haus ver­las­sen müs­se, und so si­cher­te ich mir das Ge­fährt. Es er­schi­en mir da­mals längst nicht so drin­gend, dass auch der Wirt sein Haus ver­las­sen müs­se. Ich trug Sor­ge, den Wa­gen auf der Stel­le zu be­kom­men, fuhr mit ihm ab, die Stra­ße hin­un­ter und ließ ihn un­ter der Ob­hut mei­ner Frau und mei­nes Dienst­mäd­chens. Dann stürz­te ich ins Haus zu­rück, raff­te ei­ni­ge Din­ge von Wert zu­sam­men, das Sil­ber­zeug, das wir be­sa­ßen und der­glei­chen. Die Bu­chen un­ter­halb des Hau­ses brann­ten lich­ter­loh, wäh­rend ich so be­schäf­tigt war, und das Git­ter ge­gen die Stra­ße zu war rot glü­hend. Wäh­rend ich noch mei­ne Sa­chen pack­te, kam ei­ner der Husa­ren her­auf­ge­lau­fen. Er eil­te von Haus zu Haus, um die Leu­te zur Flucht zu mah­nen. Er lief schon wie­der fort, als ich aus der Hau­stü­re trat, mei­ne Schät­ze, die ich in ein Tisch­tuch ge­bun­den hat­te, mit mir schlep­pend. Ich schrie ihm nach: »Was gib­t’s Neu­es?«

Er wand­te sich um, starr­te mich an und brüll­te et­was von »ei­nem Heraus­krie­chen aus ei­nem Ding, das wie ein Schüs­sel­sturz aus­sieht«. Da­mit lief er wei­ter durch das Tor des Hau­ses auf der Spit­ze des Kam­mes. Ein jä­her Wir­bel schwar­zen Rau­ches, der die Stra­ße ent­lang zog, ver­barg ihn einen Au­gen­blick. Ich lief zur Tür mei­nes Nach­bars, klopf­te an und über­zeug­te mich von dem, was ich be­reits wuss­te: er war mit sei­ner Frau nach Lon­don ge­fah­ren und hat­te sein Haus ver­schlos­sen. Ich eil­te mei­nem Ver­spre­chen ge­treu ins Haus zu­rück, hol­te den Kof­fer mei­nes Dienst­mäd­chens, schleif­te ihn her­aus, und be­fes­tig­te ihn ne­ben ihr auf dem Rück­teil des Wa­gens. Dann er­griff ich die Zü­gel und schwang mich auf den Kutsch­bock ne­ben mei­ne Frau. Im nächs­ten Au­gen­blick wa­ren wir au­ßer­halb des Be­rei­ches von Rauch und Lärm und jag­ten den Ab­hang ge­gen­über dem May­bu­ry-Hü­gel hin­ab ge­gen Alt-Wo­king zu.

Vor uns lag eine stil­le, son­ni­ge Land­schaft, Wei­zen­fel­der, die von je­der Sei­te der Stra­ße auf­stie­gen und das Wirts­haus von May­bu­ry mit sei­nem hin- und her­schwan­ken­den Schild. Vor uns sah ich das Ge­fährt des Dok­tors. Am Fuße des Hü­gels wand­te ich mich um, um die Hü­gel­sei­te, die wir jetzt ver­lie­ßen, noch ein­mal zu se­hen. Dich­te Säu­len schwar­zen Rau­ches, durch­zuckt von Fä­den ro­ten Feu­ers fuh­ren in die stil­le Luft hin­auf und war­fen dunkle Schat­ten auf die grü­nen Baum­wip­fel im Os­ten. Der Rauch brei­te­te sich schon in wei­ter Fer­ne nach zwei Rich­tun­gen aus, ge­gen das Fich­ten­ge­hölz von Byfleet im Os­ten und ge­gen Wo­king im Wes­ten. Die Stra­ße war be­sät mit Leu­ten, die uns ent­ge­gen­lie­fen. Und jetzt hör­te man sehr lei­se, aber sehr deut­lich durch die hei­ße stil­le Luft das Schwir­ren ei­nes Ma­schi­nen­ge­schüt­zes, das aber rasch wie­der ver­stumm­te, zwi­schen­durch das Knat­tern von Ge­weh­ren. Die Mars­leu­te steck­ten of­fen­bar al­les, was sich in­ner­halb des Be­rei­ches ih­res Hit­ze­strahls be­fand, in Brand.

Ich bin kein er­fah­re­ner Kut­scher und muss­te so­fort mei­ne Auf­merk­sam­keit auf das Pferd len­ken. Als ich mich wie­der um­blick­te, hat­te der zwei­te Hü­gel den schwar­zen Rauch ver­bor­gen. Ich hieb mit der Peit­sche auf das Pferd und hielt die Zü­gel lose, bis Wo­king und Send zwi­schen uns und je­nem ra­sen­den Tu­mult la­gen. Den Dok­tor über­hol­te ich zwi­schen Wo­king und Send.

 

1 Klei­ner zwei­rä­de­ri­ger Kut­schen­wa­gen <<<